Den Moment feiern
Joachim Kühn überwältigte in den Flottmannhallen
TEXT: Stefan Pieper | FOTO: Heinrich Brinkmöller-Becker
Trancezustände waren schon immer eine Sache des Joachim Kühn. Er, der tatsächlich selbst mal früher Klavierunterricht hatte, beschreibt es wie folgt: "Ich bin nach wie vor interessiert an solchen Zuständen. Das war ich schon immer. Mein Klavierlehrer ganz früher musste mich immer runterholen von so etwas, wenn ich mal im Spiel ganz weggetreten war. Der fragte dann immer, wo ich wohl bin" räumt Joachim Kühn nach seinem Auftritt in den Herner Flottmannhallen augenzwinkernd ein.
In den letzten Jahren hat er vor allem die Begegnung mit marokkanischen Musikern gesucht, darüber ist ein Dokumentarfilm entstanden und der Perkussionspieler Majid Bektas gehört zu seinem aktuellen Trio aus heutigen Tagen. Fragt man Kühn nach der spezifisch künstlerischen Haltung, beschreibt Kühn sie verblüffend simpel: "Einfach stressfrei" sei diese. Frei sein von allem, was ablenkt, will der in Leipzig geborene Kühn, der im März 70 Jahre alt wurde. Kein Handy und auch kein Computer. Keine Haustiere und auch keine Lebenspartnerin. Und an seinem idyllischen Wohnort auf Ibiza soll man ihn selten am Strand sehen. Denn sein Kosmos sind allein die 88 schwarzen und weißen Tasten seines Bösendorfer Imperial.
Joachim Kühns Soloauftritt in Herne deutet verdächtig darauf hin, dass sein Spiel mit zunehmendem Lebensalter an Energielevel und Eindringlichkeit immer noch weiter zunimmt. Kühns Solo-Klavierabende haben einen gewissen Seltenheitswert – viel öfter ist der gebürtige Leipziger in festen Besetzungen unterwegs oder pflegt die Begegnung mit wechselnden Spielpartnern. Ganz allein am großen Flügel stellt er sich in den Flottmann-Hallen einem tiefgreifenden Dialog mit sich selbst. Und der zieht das Publikum mehr als zwei Stunden lang tief hinein in einen Sog aus vielfältigen musikalischen Visionen – und es lebt eine Spontaneität, die Berge versetzt!
Was strahlt und leuchtet nicht alles in diesem rasanten, mit schwindelig machender Hyperaktivität gesättigten pianistischen Flow! Die Prägung durch Johann Sebastian Bach leuchtet und gleißt –wie Sonnenstrahlen in Kirchenfenstern. Da vereinen sich Töne zu Mustern, formen zwingend-logische Teppiche wie in einer Orgeltoccata oder –partita. Doch unberechenbar blitzen andere Spannungsfelder auf. Impressionistische Flächen vibrieren, überlagern sich in berstender polytonaler Spannung. Ostinate Bassfiguren rollen vorwärts wie der Gewitterdonner draußen, als sich über der Flottmannhalle der Himmel öffnet. Wenn Kühn in den Ozean der Töne eintaucht, swingt es, ja rockt es auch gerne mal. Seine wütenden Crescendo-Impulse lassen eher an Beethovensche Ausbrüche denn an Jazzpiano denken. Und dann blitzen sie immer wieder auf: Kühns Markenzeichen, diese rasanten, sich überschlagenen Figurationen in der rechten Hand. Mitten im tosenden Sturm kann alles möglich stehen: Gerne mal eine ganz locker und lässig atmende Melodie oder ein waschechtes Jazzthema aus so viel großer Zeit, in der Kühn aktiv mitwirkte – etwa in seiner prägenden Zusammenarbeit mit Ornette Coleman, die er auch später im Gespräch thematisiert. Er kommuniziert in Herne ausgiebig mit seinem Publikum, das sich auskennt und sogar bestimmte Stücke gespielt haben möchte. Das erstaunt selbst einen Joachim Kühn, der sich dankbar zeigt für Zuhörer, die wissen, was sie wollen. Also holt er spontan eine Nummer aus der Versenkung, welche er vor Jahrzehnten mit seinem großen französisch-schweizerischen Trio (mit Daniel Humair und JF Jenny-Clark) musizierte. Das generiert neue Energieausbrüche und öffnet einmal mehr den ganzen weiten Raum, den dieser Ausnahmepianist braucht, um den Moment zu feiern.
Entspannt, guter Dinge und eine Selbstgedrehte rauchend gibt sich Joachim Kühn nach dem Konzert im Backstageraum nicht minder kommunikationsfreudig. Ob es ein Unterschied sei, wenn er mit anderen Musikern spielt oder ganz solistisch unterwegs ist? "Ich fühle mich hier wie dort völlig frei. Das ist kein Unterschied. Morgen spiele ich mit Daniel Humair. Immer ist ganz viel freies Verständnis da. Ich mache keinen Unterschied zwischen solo oder Trio." Und er betont, dass Soloauftritte keineswegs selten sind. "Ich habe schon seit 1971 Solopiano im Jazz gespielt. Seitdem habe ich kein Jahr ausgelassen und solistische Konzerte gespielt."
Eine am Gespräch beteiligte Journalistenkollegin fragt, ob ihn das Klavierspielen frisch halte. Joachim Kühn: "Da muss man sich wie ein Sportler drauf vorbereiten, auf jedes Konzert immer wieder neu. Es ist nie dasselbe Konzert, denn bei jedem Auftritt mache ich neue und verschiedene Stücke. Und damit alles frisch bleibt, muss man sich ständig verändern und verbessern."
Also kann er auch mal eben einen Zuhörerwunsch erfüllen und ein Stück von früher ganz aus dem Stegreif spielen? "Solche Sache sitzen einfach drin. Man könnte mich um fünf wecken und dann funktioniert so etwas. Dafür studiert man ja Musik. Ich mache ja nichts anderes. Ich bin ein ewiger Student, was dies anbelangt."