Das verlangt nach Fortsetzung!
Unerhörter Jazz bei der Ersten Jazznacht in Barkenberg
TEXT: Stefan Pieper | FOTO: Stefan Pieper
Eine Schlafstadt am Nordrand des Ruhrgebiets erwacht aus dem Dornröschschlaf und wird zum Jazzmittelpunkt Nordrhein-Westfalens. Solche Vorschusslorbeeren hatte der ehrgeizige Plan eines Festivals im Gemeinschaftshaus Wulfen schon im Vorfeld geweckt. Die Rechnung ist in bestem Sinne aufgegangen. Die moderne funktionale Aufführungsstätte mit dem denkbar unglamourösen Namen „Gemeinschaftshaus Wulfen“ entfaltete bei den vier Konzerten der Ersten Fine Arts Jazz Nacht so viel Charme, als wäre sie eigens für diesen Abend gebaut worden! Mehr noch: Bands und Publikumsresonanz bestätigten die Annahme, dass eben „zum Jazz geht, wer offene Ohren hat und neugierig ist und eben nicht das allseits bekannte immer wieder hören will“ - wie es in einer Anmoderation auf der Bühne formuliert worden war.
Schon auf Anhieb geht es im Gemeinschaftshaus musikalisch dermaßen in die vollen, dass den weit über 250 Zuhörern locker die Luft wegbleibt. Wie improvisatorische Höhenflüge zuverlässig die sprichwörtlichen Berge versetzen, das beweist Roman Babik s „Urban Wedding Band“. Sie spielen einfach – nicht mehr nicht weniger! Das ist hochdynamischer Jazz, aber immer von starker osteuropäischer Farbe durchglüht. Beschwörend strahlen Dimitrij Markitantovs Altsax-Linien in die Weite des Raumes hinein. Roman Babik s Erfindergeist scheint in den Soli auf dem Fender Rhodes beständig kurz vorm Explodieren zu stehen. Und dann erst Bodek Jankes schier unglaubliches Schlagzeugspiel! Betrachtet man es als eine Tugend für jeden Drummer, trotz eines konstanten Pulses ständig neue Aktionen aus dem Hut zu zaubern – Bodek Janke pflegt diese Kür wie kein anderer.
Das Trio „Beasting“ demonstriert in Wulfen, dass Jazz vor allem die Kunst ist, etwas zu erleben, was man vorher nicht kannte. Da werden ganz neue „Instrumente“ in einer Combo definiert: Vokalist Jens „Köpi“ Kupschus ist ein Beatboxer, der scratcht und croont und rapt und groovt allein mit Stimme und Gesangsmikro. Und dadurch zum eigentlichen „Schlagzeuger“ des Trios wird.
Dass ein Cello für so viel mehr als nur die holde Klassik taugt, dafür sorgen die sonoren Bassriffs, elektrifizierten Feebackorgien und melodiösen Soli die unter den Händen von Daniel Brandl entstehen.
Jazz lebt, wenn er sich traut, in Musikwelten herum zu „wildern“. Deswegen hat Tobias Christl seine aktuelle Band so genannt. Große Popsongs sind doch viel zu schade, um als allseits bekannte „Hits“ totgenudelt zu werden. Christl und seine Leute aus der Kölner Szene bieten das ganze Versuchslabor einer aufgeklärten Jazzband auf, um aus ewigen Melodien neue Gebilde wachsen und wuchern zu lassen. Das geht so weit, dass auch mal aus Joy Divisions lakonischer Düster-Hymne „Love will tear us apart“ ein neues, wild exotisch und ironisch swingendes, verspieltes Musikgewächs wird. Trotz viel angewandter Kunst kommen die Wilderer aus Köln in dieser Konzerthalle erfrischend direkt daher – allein wegen der charismatischen Präsenz von Tobias Christl selbst. Androgyn schraubt er seine Stimme in höchste Höhen hervor und dupliziert sich gerne auch selbst mit Loopgeräten und sonstigen Zauberkisten.
Die letzte Band dieses Abends macht dort weiter, wo die „Urban Wedding Band“ begann. Mitreißende Spiellust in eingängiger, gleichwohl vor Ideen sprühender Manier lebt bei der Band Filou“. Das Septett aus Dortmund, das schon als Vorband von „Snarky Puppy“ auf Tour war, bekam unlängst den Future Jazz Award verliehen. In Wulfen ist hörbar, dass bei der jungen Truppe eine große Zukunft denkbar ist mit ihrer zeitlosen Melange aus Funkjazz, 80er-Jahre Fusion, sphärisch seidigen Trompetensoli und satten Keyboards. So geht der tanzbare Soundtrack für die Nacht.
Schwarz ist die Nacht im Wulfener Gemeinschaftshaus übrigens ganz und gar nicht - sondern schillernd bunt! Bühne und Zuschauerraum sind in optische Wechselbäder mit rotierenden Spots, beweglichen Lichtelementen und immer neuen Farben getaucht. Die ausgefuchste Lichtkunst von Lothar Grabosch macht dies möglich und lässt durch ganz viel optische Pracht die Musik umso intensiver erleben.
Die Mannschaft vom GHW war schließlich begeistert, was da aus ihrer Halle gemacht wurde. Auch der Mitinitiator und Vorsitzende des Fördervereins proGHW, Hannes Schmidt-Domogalla hatte tatkräftig mit angepackt. Ebenso lockte die Veranstaltung viele junge Leute aus der benachbarten Gesamtschule spontan an. Das Angebot an Speisen und Getränke der angegliederten Bar war ebenfalls bestens. Für alle, die laut kleiner Spontanumfrage zum Teil sogar von weiter weg, etwa aus Solingen oder Lüdenscheid angereist waren, gilt jetzt: Unbedingt weitersagen!