Das Kapital Loves Christmas
Großartige Transformer und Performer
TEXT: Heinrich Brinkmöller-Becker | FOTO: Heinrich Brinkmöller-Becker
Was haben ‚Oh Tannenbaum‘ und andere Weihnachtslieder, die Internationale und Hanns Eislers ‚An den deutschen Mond‘ gemeinsam? Auf den ersten Blick natürlich nichts, auf den zweiten heißt der verbindende Kitt Das Kapital. Dahinter verbirgt sich ein äußerst interessantes deutsch-französisch-dänisches Trio mit Daniel Erdmann am Saxophon (Tenor- und Sopran-), Edward Perraud an den Drums und Hasse Poulsen an der Gitarre.
Schon bei den beiden CDs des multinationalen Trios mit den Songs von Hanns Eisler „Ballades & Barricades“ und „Conflicts & Conclusions“ erkennt man den Grundansatz der Drei: Daniel Erdmann, Hasse Poulsen und Edward Perraud nehmen Bekanntes auf, zerpflücken („dekonstruieren“) es und schaffen so etwas Neues im Jazz-Idiom, das genauso Elemente des Free Jazz wie des „Cool“ oder des Rock aufgreift. Das Ergebnis ist nicht unbedingt massenkompatibel oder als Werbejingle oder als Fahrstuhlmusik geeignet. Kein easy listening à la Cocktail-Jazz zum Chillen ist angestrebt, sondern eine witzig-kluge, freche, ironische Brechung von Hörgewohnheiten und Klischees. Galt dies in der Aufbereitung des „politischen“ Materials der Musik von Hanns Eisler (z.B. in der Nationalhymne der DDR „Auferstanden Aus Ruinen“ oder anderen „Klassikern“ der Polit-Songs wie „Die Moorsoldaten“, das „Solidaritätslied“ und das „Einheitsfrontlied“), so nimmt Das Kapital sich jetzt eines Genres an, das als am meisten Klischee-belastet mit höchstem Kitschfaktor gilt: Weihnachtslieder. Zwar ist natürlich nicht eine weitere Auflage von einschlägigen Liedern gemeint, die im Augenblick aus allen öffentlichen und nicht-öffentlichen Lautsprechern der Weihnachts- oder sonstiger Waren-Märkte dudeln, sondern laut Pressetext will man anknüpfen an eine Feiertradition der römischen Saturnalien oder an germanische Mittwinter-Bräuche und schlicht „Party machen“. Vorneweg sei gesagt: Dies ist dem Trio bei seinem Konzert im Dortmunder Domicil voll und ganz gelungen. Dem Publikum wird über die „trübe Jahreszeit“ mit ansteckender Musik, mit Reggae, Bossa nova, Tango, Hard Rock, geholfen, man wippt und tanzt mit - um zwischendurch erschreckend festzustellen, dass man dies gerade auf der Melodie-Linie von ‚Oh Tannenbaum‘ oder anderem einschlägigen Material aus dem Weihnachtslieder-Fundus tut.
Das Trio schöpft wirklich herbe aus diesem Reservoir, aber darüber hinaus: französische und dänische Lieder werden so skurril angesagt und ebenso gespielt, dass man das Ursprungslied genauso wenig wiedererkennt wie den jeweiligen kulturellen Hintergrund. Gemeinsam ist allen Liedern die Performanz: Sie werden ruppig bis Free-jazzig gespielt und einem wilden rhythmischen und solistischen Reißwolf ausgesetzt. Dazwischen ertönen wunderbar balladeske Melodielinien von Daniel Erdmanns Tenor-Saxophon, das er mit vollem Ton, erdig-warm spielt, um dann abrupt in eher disharmonische Läufe zu wechseln. Wenn man so will – und der Name des Trios legt dies vielleicht nahe – ist hier eine gewisse Dialektik von Sonny Rollins und Albert Ayler erkennbar. An den Drums ist mit dem Franzosen Edward Perraud ein wahrer Berserker zu erleben: Unermüdlich und voller Power – im Sitzen und im Stehen - bedient er sein umfangreiches Drum-Set. Man ist eingebunden in eine mitreißende Dauer-Maschinengewehr-Salve, der aber immer ein präzises Taktgefühl und ein subtiles und feinfühliges und unglaublich facettenreiches rhythmisches Spiel zugrunde liegt. (Dialektik!) Ob karibisch-südamerikanische Rhythmen oder 4/4-Brachial-Rock: immer gelingt es ihm, die rhythmische Grundstruktur der Songs zu sichern und durchaus auch ironisch-spielerisch und immer höchst variantenreich und phantasievoll zu unterlaufen. Hasse Poulsen an der Gitarre ist ein kongenialer Partner, der sein Instrument ebenso vielseitig zu nutzen weiß: Mal übernimmt die Gitarre die Rolle des rhythmischen Mitspielers, mal stimmt sie mit einem Walking-Bass oder als Akkordinstrument in den Song ein, mal soliert der Gitarrist wie ein Rockstar, mal nutzt er seine Gitarre als Streichinstrument. Dies sind keine effektbetonten Spielereien, sondern alle drei Instrumente fügen sich auch bei allem Hang zum Experimentellen in erfrischender und vitaler Weise zu einem wunderbar ironischen und virtuosen musikalischen Abenteuer.
Die neue CD von Das Kapital („Das Kapital Loves Christmas“) ist sicher kein Geschenktipp für alle Freunde der getragenen Weihnachtsmusik quer durch alle Generationen – in einer Anmoderation deutet dies Daniel Erdmann wiederum schön ironisch an. Nein, einer Heiligabend-Idylle ist die Musik von Das Kapital eher abträglich. Das Konzert in Dortmund zeigt, dass es für die Freunde des anspruchsvoll Humoresken und des dionysischen Dekonstruierens ein ideales Geschenk ist, ein Geschenk, zumindest musikalisch der Feiertagsidylle entfliehen zu können. Das Publikum jedenfalls hat das Konzert genau in diesem Sinne goutiert und das Geschenk dankend angenommen.
In der Zugabe im Domicil dann gibt es ‚Die Internationale‘ und Eislers ‚An den deutschen Mond‘ – beides sicherlich keine Weihnachts-affinen Songs. Aber Das Kapital legt hier in einer lyrischen und energiegeladenen Performance wiederum Dialektik pur an den Tag: Das Trio transformiert bekannte Melodien vom Tonalen ins Atonale, Nostalgisch-Rückwärtsgewandtes greift es auf und übersetzt dies in eine freie Improvisation, die Bindung an bekannte mitsingfähige Melodien werden in ein freies Spiel überführt. Ist das nicht ein wiederum schön ironischer und politischer musikalischer Kommentar zum Hochfest des Waren- und Konsumterrors? Köstlich!