Das JOE-Festival 2023 hat geliefert!
Traum-Bands auf Höhenflügen in der Zeche Carl
TEXT: Stefan Pieper | FOTO: Stefan Pieper
Das Festival der Jazzoffensive Essen, kurz JOE-Festival genannt, hat wieder einmal geliefert. In Essen machen Musikerinnen und Musiker aus der Szene und ihren eigenen Vernetzungen heraus ein Festival und konzentrieren sich auf das, worum es im Kern geht: Die Musik. Wenn Patrick Hengst, der zusammen mit Simon Camatta die aktuelle Ausgabe kuratierte, bei seiner Anmoderation ankündigte, hier zehn Höhepunkte zu liefern, war dies ernst gemeint.
Der Umzug des JOE-Festivals vom Katakombentheater in die Zeche Carl hat zwar nicht die Publikumszahlen zum Explodieren gebracht, aber der Rahmen fühlt sich insgesamt größer an dadurch. Auf Anhieb ging es musikalisch um alles: Oli Steidle, ein versierter Schlagzeuger der freien Klänge aus Berlin hat mit der Leipziger Gitarristin Steffi Narr ein kraftvolles Pendant gefunden. Das brachte im letzten Sommer beim Alto Adige Festival in Bozen ein altes Kellergewölbe zum Beben - jetzt konfrontierten beide betont offensiv ihre Energiefelder miteinander. Aber zunehmend eröffneten sich andere, neue fantasievolle Ebenen in perkussiven, akustischen, elektrischen und elektronischen Ausdrucksformen.
Neue Kunstformen und Traumbegegnungen
Immer wieder aufs Neue überraschend sind die Konzerte das Quartetts „Hilde“. Die Besetzung Stimme ( Marie Daniels ), Cello (Amelie Wittbrodt), Violine ( Julia Brüssel ) und Posaune ( Maria Trautmann ) ist an sich schon ungewöhnlich - mehr noch scheint die empfindsame kammermusikalische Dramaturgie dieser Band eine neue Kunstform definieren zu wollen. Neue Musik, freie Improvisation, aber auch sehr konkrete Song-Lyrik, ebenso geerdete Jazzstrukturen bis hin zum Blues – all das berührt sich in den fantasievollen, kammermusikalischen Assoziationsräumen dieser vier Musikerinnen aus NRW.
Wenn man von grandiosen Konzertmomenten und Traumbegegnungen aus der bereits drei Jahrzehnte währenden Festivalhistorie redet, fallen vielen langjährigen Besuchern wohl einige ein. In diese Galerie könnte sich jetzt der Auftritt von Jakob Bro, Arve Henriksen und Jorge Rossy einreihen. Deren Musik ist gut präsent, seit die drei im vorletzten Jahr eine der poetischsten ECM-Veröffentlichungen hingelegt haben. Auf dem JOE-Festival ist alles ganz anders und doch lebt die tiefe Seele dieses Albums. Aber alles soll sich noch steigern. Organisch wuchernde Kollektivimprovisationen umkreisen hochverdichtete emotionale Zentren, so wie es einschlägige ECM-Platten seit den 1970er Jahren vorgemacht haben. Jakob Bro, der mit seinen feinen Gitarrenfiguren und vielen elektonischen Loops Gischtnebel über die emotionalen Wellen legt. Arve Henriksen, der seine Menge an Tönen immer weiter reduziert, den Druck zunehmend rausnimmt, um glückselig zum Innersten vorzustoßen. Ebenso Jorge Rossy, der mit seinen fragilen Klanggesten ebenso mittendrin in dieser rituellen Handlung war.
Ein Festival der Schlagzeuger
Auch Jim Hart war nicht zum ersten Mal beim JOE, sondern brillierte auf seinem Vibrafon vor ein paar Jahren mit Theo Ceccaldi und Daniel Erdmann. Aktuell stand er im Duo mit dem Pianisten und Rhodes-Spieler Ivo Neames auf der Bühne. Noch konsequenter zentriert als beim Duo zum Auftaktkonzert verdichtet sich hier eine starke Symbiose zwischen zwei Musikern und ebenso in Sachen rhythmischer Strukturen und Klänge. Und ja: Jim Hart ist eben nicht nur ein leidenschaftlicher Malletspieler, sondern mindestens ein ebenso genialer Schlagzeuger!
Das künstlerische Anliegen des Schlagzeugs lässt sich auch mal intellektuell und fast schon komödiantisch reflektieren – dafür stand auf dem JOE-Festival der Berliner Improvisationsmusiker Christian Marien bereit. Glockenspiele klingeln, ein Gamelan-Gong wird mit der Fußmaschine traktiert. Eine der vier Nummern, die jeweils kleine Versuchsanordnungen darstellen, baut auf dem Schaben und Reiben einzelner Becken auf den Trommelfellen. Den famosen Rhythmiker kehrte Christian Marien bei aller dadaistischer Verspieltheit ebenso raus.
Im Programmheft war von drei Mitgliedern der Kult-Reggae-Band „Seeed“ die Rede - man hätte vielleicht deutlicher schreiben können, dass vor allem auch dessen Schlagzeuger mit dem Künstlernamen „ Based“ die Geschicke in der Band „Tutti Bounce“. Nicht allein dieser Umstand sorgte dafür, dass die Mucke dieser Band deutlich cooler daherkam als es die Titulierung im Programmheft als „Mischung aus afroamerikanischer und karibischer Musik“ annehmen ließ. Die Beats und Bässe pumpen dancefloor-kompatibel. Elektronische Sound nebst einer fetten Posaune beglücken und entrücken, dass manche sogar mal ein Tänzchen vor der Bühne wagen. Kompliment auch auf den Mut des Soundmixers, hierfür mal die Anlage richtig laut aufzudrehen!
Neugier, gepaart mit künstlerischem Weitblick
Als würde sie die äußerst produktive Zeit in NRW als Improvisor in Residence beim moers-Festival noch fortsetzen wollen, kam die Cellistin Tomeka Reid nochmal von Chicago ins Ruhrgebiet geflogen, diesmal in der seit 2018 bestehenden Triobesetzung zusammen mit dem Pianisten Craig Taborn und dem Schlagzeuger Ches Smith. Eine aufregende Band, die zum Finale nochmal alles auf einen ähnlichen Level anhob, wie es Jakob Bro mit seinem Trio zwei Abende zuvor betrieben hatte. Aber mit ganz anderen, im eigentlichen Sinne „jazzigeren“ Farben und dies mit einem ungeheuren Weitblick gesegnet: Taborn erwies sich als hellwacher Tastenlyriker kreativ hinterfragender Geist. Ches Smith krönte sich auf Anhieb zum zweiten genialen Jazzschlagzeuger auf diesem Festival neben Jim Hart. Und Tomeka Reids Neugier und Präsenz, mit der sie sich -meist energisch pizzicato spielend- auch in dieses Abenteuer fallen ließ, war wieder mal unersättlich.