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Bleibt alles anders?

Rückblick aufs Jazzfest Berlin 2022

Berlin, 14.11.2022
TEXT: Peter E. Rytz | FOTO: Peter E. Rytz

Alles bleibt anders, wirbt das Jazzfest Berlin 2022. Nach den Konzerten im Pierre-Boulez-Saal, im Haus der Berliner Festspiele und in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche bleibt offen, was damit gemeint ist.

Bleibt alles anders, wie Herbert Grönemeyer vor einem Vierteljahrhundert auf der gleichnamigen CD optimistisch singt: Verträum dich in deinem Traum, verlass dich auf Zeit und Raum? Oder assoziiert eine mögliche Antwort eher ein Zitat aus dem Roman Der Leopardvon Giuseppe Tomasi di Lampedusa aus der Mitte des 19.Jahrhunderts: Alles muss sich ändern, damit alles bleibt, wie es ist.

Mit dem repräsentativen Auftaktkonzert des Pianisten Alexander Hawkins zusammen mit Nicole Mitchell (fl), Tomeka Reid (cello), Gerry Hemingway (dr) und Stephanie Griffin (viola) im Pierre-Boulez-Saal deutet sich an, wie der Anders-Bleiben-Kosmos programmatisch konfiguriert sein wird. Weniger freie Improvisationen, mehr ausformulierte Kompositionen. Zudem, und das überrascht und irritiert gleichermaßen, vielfach in kammermusikalischen Besetzungen, die man eher in Festivals, die sich, wie beispielsweise Acht Brücken | Musik für Köln oder NOW! Essen Musik der Moderne als Begegnungsorte für zeitgenössische Klänge erwartet.

Ekletizistische Melange

Mit dem The Hemphill Stringtet, das wenige Tage später das viertägige Jazzfest im Haus der Berliner Festspiele eröffnet, wird dieser musikalische Klangrahmen verstetigt. Tomeka Reid und Stephanie Griffin spielen in klassischer Streichquartettbesetzung mit den Violinisten Sam Bardfeld und Curtis Stewart eine als US-zeitgenössischer Jazz bezeichnete Europapremiere. Eine eklektizistische Melange, die Beethovens und Schostakowitschs Streichquartette angestrengt pathetisch umbiegen. Osteuropäisch Klangwelten behauptend, gefällt sich Bardfelds Geigenspieleinerseits in der Manier Stéphane Grappellis sowie andererseits, als würde er vorgeben, Six Sonatas for solo violin von Eugène-Auguste Ysaÿe zu deklinieren.

Die auf Dauer durchsichtige Abfolge von Fortissimo, Adagio und Pianissimo ist Teilen der Zuhörer offenbar Grund, das Konzert vorzeitig zu verlassen. Das finale vordergründige Fishing harmoniously des Quartetts verzeichnet den Saxophonisten Julius Arthur Hemphill(1938 – 1995), einen Vorreiter des Creative Jazz, mehr, als dass es ihm gelingt, kreativ zu überzeugen.

"Ich bin auch noch hier!"

Ähnlich überanstrengt, gibt sich Craig Taborn (Paradoxe Schattenspiele, CD-Kritik vom 31.10.2021, hier veröffentlicht) zusammen mit Mat Maneri (violine) mit seiner Auftragsarbeit. Rauschen im Universum gleich, befeuert von dem in Berlin lebenden hyperaktionistischen Bassisten Nick Dunston und Sofia Borges, einer perkussiv insistierenden Schlagzeugerin, bearbeitet Taborn berserkerhaft die Tasten, als würde er lauthals rufen: Ich bin (auch noch) hier! Facettierte Cluster wie klangliche Assoziationen, die an Arno Schmidts fast unlesbares Monumentalwerk Zettel‘s Traum erinnern.

Wie sich musikalische Ambitionen überzeugender in einem Klangkosmos generieren, präzisieren Lucian Ban (p), John Surman (bcl) und Mat Maneri (violine) mit ihren Variationen Transylvanian Folk Songs in der Gedächtniskirche. Authentisch, harmonikal klangfarbig, akzentuiert Bans Pianospiel volksmusikalische Traditionen seiner Heimat, in das Surmans lyrische Soli und Dialoge poetisch, einem Quilt ähnlich, einwebt. Maneris Violine umschmeichelt die sich entfaltende, mikroskopische Klangfarbigkeit.

Alles muss sich ändern, damit alles bleibt, wie es ist?

Neben Osteuropa setzt die künstlerische Leiterin des Jazzfestivals Nadin Deventer mit Südafrika noch einen anderen Schwerpunkt: Alles bleibt anders? Was Asher Gamedze (dr) zusammen mit Thembinkosi Mavimbela (b), Buddy Wells (sax) und Robin Fassie-Kock (tp) als Dialectic Souls spielt, klingt wie südlich eingefärbter Cool Jazz. Das Übliche in diesem Kontext: Alles muss sich ändern, damit alles bleibt, wie es ist?

Glaubwürdiger, mit emotionaler Überzeugungskraft performt Hamid Drake’s Turiya mit einer narrativen Sound-Text-Collage eine Hommage an Alice Coltrane (1937 – 2007). Klassisch ausgebildet, ersetzt sie ab 1965 McCoy Tyner am Klavier im John Coltrane Quartet. Drake hört sie als 6jähriger zum ersten Mal: She blessing me. Seine folgende musikalische Karriere: A honor of great being.

Das Konzert flutet Drakes Gefühle für die Musikerin Alice Coltrane. Sein Empfinden - A vibration in my heart -, flankiert von der strahlenden Trompete Sheila Maurice-Greys und Naissam Jalals Flötenspiel, das sich märchenhaft wie aus Tausend und einer Nacht eingroovt, verschränken die modisch auffällig extrovertierten Joshua Abrams (b) und Jamie Saft (p, key) sowie der Vibraphonist Pasquale Mirra und Jan Bang (electronics) zu einem religiös aufgeladenen Appell Peace for freedom.

Buddhistisch meditativ inspiriertes Klangschalen-Sounding

Bleibt alles anders, vorausgesetzt man versteht sich mit Isiah Collier als The Chosen Few Isiah als zu den wenigen Ausgewählten gehörig? Colliers Saxophon, angetrieben vom Schwerstarbeiter Michael Shekwoaga an den Drums mit inszeniertem religiösem Eifer. Buddhistisch meditativ inspiriertes Klangschalen-Sounding, I Am in Wortschleifen rezitierend, entwickeln sich, Höllenstürzen gleich, Reizungen aller Sinne bis an Hör-Schmergrenzen.

Anfangs nonchalant zurückhaltend der Bass von Jeremiah Hunt, forciert er zunehmend das Triospiel exzessiv. Jordan William (p), lange im stand-by-Modus verharrend, lässt mit seinem Einstieg keinen Zweifel. The Chosen Few brennen von allen Seiten. Kaskadierende Sounds stapeln sich zu dröhnend beschwörenden Noise-Collagen. Niemand möge vergessen: I Am.

Am Ende bleiben Fragen. Ein künstlerisches Statement, das auf Konsensfähigkeit vertraut? Kunst gibt keine Antworten. Sie stellt Fragen.


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