Atmende Klänge
Dunkelkonzert im Schiffshebewerk
TEXT: Stefan Pieper | FOTO: Stefan Pieper
Man lässt sich in eine meditative Versenkung hineinfallen, wie sie sonst auch in sakralen Räumen denkbar wäre. Hohe Fenster. Erhabene Monumente, die allerdings dem industriellen Kontext entstammen – Stahlkolosse, die früher mal das Wasser in die Becken des Henrichenburger Schiffshebewerkes pumpten. Die Nachhallzeit des großen Raumes kann es locker mit jeder Kathedrale aufnehmen. Aber die Akustik ist zugleich herrlich offen. Fein und schwerelos atmet ein ätherischer Flötenklang von links. Machtvolle Stöße aus Baritonsaxofonen fluten von vorne kommend den Raum. Und die Spielfiguren und Schwebeklänge einer Klarinette scheinen hier direkt vom Himmel zu kommen. Mehr noch: Alles ist dynamisch in Bewegung, denn die spielenden Musiker durchschreiten immer wieder den abgedunkelten Raum. Claudius Reimann , Katharina Bohlen und der Berliner Flötist Nils Gerold sind als improvisierendes Trio mit hohem intuitiven Gespür gesegnet und perfekt aufeinander eingeschworen, wenn sie ihre Fantasie ihren Lauf lassen. Und Claudius Reimann hat schon genug Erfahrungen, um Räume wie die Halle des Industriedenkmals Henrichenburg zu einem sinnlichen Gesamtkunstwerk auszugestalten. Den Raum weitgehend abzudunkeln, also auf optische Reizreduzierung zu setzen, wirkt hier noch wie eine zusätzliche Verdichtung des Klangereignisses.
Die einstündige Improvisation hat mehrere kontrastierende Parts – dieses Mindestmaß an Verständigung über die Marschrichtung herrschte schon im vor hinein. Zunächst werden die Instrumente eingeführt – mal skizzenhaft-solistisch dann auch in kunstvoll verschränkter Interaktion, die bis hin zu polyphonen anmutenden Parts reicht. Dann passiert was völlig anderes. Der Klang-Fluss mündet in rein geräuschhafte Gefilde mit einem Arsenal aus Perkussionsinstrumenten als klangliche Basis. Es rauscht, zischt und brandet auf. Metallisch, gläsern, hart und weich - da werden auch mal Schneebesen auf Chinagongs losgelassen und sogar Dauerlutscher, weil die einen besonders weichen Klang erzeugen. Schließlich vereinigt sich diese atmende Geräuschwelt mit den Tönen und Klängen der Holzblasinstrumente, mit ihren Flagoletts, Obertonklängen und versprengten minimalistisch tonalen Motiven. Gänsehaut produziert, wie später einige expressionistische Aufschreie durch den Raum gellen, bevor schließlich dieser Strom aus Klang sanft verebbt. „Das war aber sehr ungewöhlich“ kommentiert eine Besucherin in der hinteren Stuhlreihe das Geschehen. Dann setzt zögerlich umso mehr Applaus ein. Viele müssen sich erst wieder aus der Versenkung lösen, die von allen Besitz ergriffen hat, denn sonst wäre es über diese ganzen 60 Minuten nicht so völlig ruhig gewesen - von einem Baby im Publikum, das phasenweise das Geschehen mit zusätzlichen Tönen anreicherte, mal abgesehen.
Nach dem Auftritt steht das Trio Rede und Antwort für einen regen Ansturm aus Fragen. Claudius Reimann präsentiert unter anderem die Spring-Drum, die mehrfach während der Improvisation zum Einsatz kam: Eine Art Zylinder, in der eine Spiralfeder verankert ist – was sehr eigenwillige modulierende Schwirrlaute erzeugt. Man muss einfach nur erfinderisch sein bzw. solche Erfindungen am richtigen Ort im richtigen Moment zum Einsatz bringen. Claudius Reimann, Katharina Bohlen und der Gast aus Berlin repräsentieren die Gegenwart einer hellhörigen und äußerst umtriebigen Szene in der Freien Improvisationsmusik. Diese macht eben dort weiter, wo Jazz, aber auch Klassik und vor allem die Neue Musik den Nährboden gebildet haben, und die Künstler hier nun in Echtzeit und freier Improvisation die Ausdrucksmöglichkeiten von Instrumenten, von Besetzungen, und wie idealtypisch gerade hier im Schiffshebewerk passiert, die ästhetische Sprache von (Klang-) Räumen weiter zu entwickeln helfen. Die Künstler pflegen sehr viele gegenseitige Kontakte, denn der Austausch und die Durchmischung ist ein wichtiger Aspekt. Claudius Reimann , der sich immer schon engagierte, um als begabter Multiinstrumentalist und Macher die Musik weiterzubringen - erinnert sich an seine Pioniertage als Musiker: „Fast fühle ich mich an meine Frühzeit erinnert, wo ich ganz viel in Punkrockbands spielte und wir in Marl und Umgebung eine lebendige Szene hatten. Die Spontaneität, um etwas zusammen zu machen, lebt heute so wunderbar in der Improv-Szene!“