60 Minuten. Flussabwärts
Everybody must get happy
TEXT: Heinrich Brinkmöller-Becker | FOTO: Heinrich Brinkmöller-Becker
Essen bekommt eine zweite Chance – und nutzt sie: Vor gut anderthalb Jahren spielte das „einzige Bass-Saxophon-Quartett der Welt“, Deep Schrott, in der Zeche Carl in Essen. Anschließend führte das Dirk Raulf Orchestra mit Meret Becker die Multimedia-Performance 60 Minuten. Flussabwärts auf – ein begeisterndes Konzert, leider nur vor skandalös leeren Rängen (siehe meine Review auf nrwjazz: http://www.nrwjazz.net/reviews/2015/Raulf_Becker_Deep_Schrott_/ ).
In der Besprechung des Essener Konzerts wünschte sich der Rezensent ob der grandiosen Performance weitere Wiederaufnahmen und mediale Reproduktionen des präsentierten Gesamtkunstwerks. Zumindest der erstere Wunsch wurde ihm jetzt zwischen den Jahren von der Initiative Jazz in Essen und dem Grillo-Theater erfüllt: Daselbst fand erneut ein Konzert mit den genannten Akteuren statt, dieses Mal mit erfreulicherweise vollem Haus. Dieses trug sicherlich mit dazu bei, dass alle Beteiligten auf der Bühne mit erkennbarer Spielfreude agierten. Den vier Musikern an den Saxophon-Tieftönern war kein bisschen Müdigkeit anzumerken – trotz einer aufreibenden und intensiven Tour durch Nigeria, Ghana, Togo und – als erste deutsche Band überhaupt: in Äquatorial-Guinea! Das Goethe-Institut hat zu dieser Konzertreihe von Deep Schrott mit einheimischen Musikern eingeladen. Drei Wochen tourten Dirk Raulf, Wollie Kaiser, Andreas Kaling und Jan Klare im November durch den südlichen Kontinent - mit ihren sicherlich auch in Afrika eher exotisch wirkenden Instrumenten.
Und nun also eine Essener Reprise des Doppelkonzertes im Grillo-Theater. In den ersten 40 Minuten spielt Deep Schrott Stücke aus den CD’s der Gruppe, drei Black Sabbath-Nummern, die beschwörende Kaling-Komposition Yamantaka, Left behind im Arrangement von Jan Klare. Nach schrillem Dampfgebläse, bei dem sich Dirk Raulf auch einmal nur mit seinem Mundstück beteiligt, folgt ein ausgelassener Blues mit Rainy Day Women. Wollie Kaiser hat diese gute alte Dylan-Nummer arrangiert, der bekannte Refrain wird dann auch chorisch präsentiert. Einen kleinen Ausblick auf die im nächsten Jahr erscheinende neue CD (The Dark Side of Deep Schrott Vol. 2) gibt das Quartett mit einer hymnisch getragenen Version von Albert Aylers Our Prayer, hier bläst Dirk Raulf auf der Grundlage des differenzierten Bläsersatzes eine aus tiefer Seele kommende kraftvolle Oberstimme. Man darf sich bereits jetzt auf weitere hervorragend arrangierte und gespielte Stücke des Bass-Saxophon-Quartetts freuen.
Der zweite Teil des Abends wird durch die multimediale Komposition 60 Minuten. Flussabwärts von Dirk Raulf bestimmt (s. meine letzte Review). Bei diesem Auftritt im Grillo fällt die gute Laune aller Beteiligten auf: Dies gilt nicht nur für Meret Becker, die ganz offensichtlich Freude daran hat, mit ihrer Gesangs- und Rezitationsstimme, mit der singenden Säge, mit Glockenspiel und elektronischer Klangerzeugung zu dem Gelingen des Gesamtkunstwerks beizutragen.
Thorsten Drücker beeindruckt an der Gitarre, Dirk-Peter Kölsch (Drums) und Frank Schulte (verantwortlich für die Video-Installation und die Electronics) vervollständigen mit den Deep-Schrott-Musikern mit ihrem Arsenal an Blasinstrumenten das Dirk Raulf Orchestra. Die optisch-akustische Gesamtperformance bei der ausgesprochen komplexen Komposition gelingt wieder vollkommen und überzeugt ein begeistertes Publikum, das mit der launigen, deutlich weniger komplexen Zugabe Simple Song - ursprünglich von The Residents - in den Jahreswechsel entlassen wird.
Schade nur, dass der zweite Wunsch des Rezensenten nach einer medialen Reproduktion von 60 Minuten. Flussabwärts in Form einer DVD oder zumindest CD nicht in Erfüllung geht, es bleibt nach Aussage des Komponisten wohl bei einer Dokumentation des WDR.