Entdeckungen, Begegnungen, Entwicklungen
Das 26. Internationale Jazzfestival in Münster
TEXT: Stefan Pieper | FOTO: Stefan Pieper
Das Münsteraner Jazzfestival war schon für viele heute bestens etablierte Jazzer der Region ein wichtiger Karriere-Durchlauferhitzer. „Schuld“ daran ist der in jedem Jahr vergebene Westfalenjazz-Preis, der aktuell an eine Schlagzeugerin geht: Eva Klesse ist in Werl geboren, heute aber in Leipzig aktiv und kann bereits eine internationale Karriere vorweisen. Westfalen-Jazz ist eben nicht „nur“ ein Nachwuchspreis, sondern bildet im Falle der jungen Schlagzeugerin bereits viel geleistete Arbeit ab, vor allem auch als Bandleaderin, was von ausgeprägten Macher-Qualitäten der 31jährigen zeugt. In entsprechend gut eingespielter Bestform zeigte sich dann auch dieses Quartett beim Münsteraner Jazzfestival.
Einmal mehr erzeugte die aktuelle Festivalausgabe einen frischen Mix aus Wiederbegegnungen, Neuentdeckungen, und Weiterentwicklungen – für so etwas beweist der Festivalkurator Fritz Schmücker seit den Gründertagen des Festivals eine sichere Hand! Um in Münster erst mal behaglich anzukommen und sich wieder heimisch zu fühlen, halfen der grenzgängerische Bassist Renaud Garcia-Fons und der Pianist Dorantes, die beiden in der Stilstik des Flamenco aufgingen. Für einen solchen Empfang brauchte und gab es nicht wirklich neues musikalisches Vokabular - dafür aber ein Höchstmaß an reifer Interaktion und spieltechnischer Superlative mit Genussfaktor!
Wie man aus Altem etwas ganz Neues zaubert, demonstriert das Trio „I am Three“ : Wo der Ideengeber Charles Mingus mit seinen typisch dichten Bläserteppichen kein Augen trocken ließ, da brechen Silke Eberhard, Altsax, Nikolaus Neuser, Trompete und Christian Marien die bluesgesättigten Mingus-Themen auf minimalistisches Format herunter. Vor allem Schlagzeuger Christian Marien steuerte durch seine extrovertierten Aktionen sämtliche Geschicke und auch die solistischen Aktionen der beiden Bläser.
Den wohl überlegensten Auftritt legten in Münster die Schweizer nebst weiterer europäischer Kollegen hin: Zusammen mit Lucas Niggli beweisen dessen Landsmann Andreas Schaerer (Stimme) sowie der Italiener Luciano Bondini (Akkordon) und der Finne Kalle Kalima (Gitarre) beglückend viel intuitives Gespür. Heraus kam Musik im echtesten Sinne: Nicht weniger. Und mehr davon geht definitiv nicht! Mal trumpft die Band unter Nigglis oft progressive-rock-affinem Schlagzeugspiel brachial auf. Im nächsten Moment betört feinste Innigkeit, erzeugt vor allem durch Luciano Bondinis filigranes Akkordeonspiel. Spektakulär, aber auch tief berührend agiert Andreas Schaerer mit seiner Stimme: Nicht nur sein sirenengleich-androgyner Gesang ist atemberaubend, sondern ebenso die lautmalerische Finesse, wenn er allein mit Mund und Mikro einen Solotrompeter überflüssig macht. Und dies alles vereint sich zum großen Ganzen. Vor allem das ist hier die hohe Kunst!
Der Franzose Jacky Terasson zeigte sich am ferrariroten Flügel im Münsteraner Theater weder als Tastenberserker noch als eitler Selbstdarsteller. Dafür ist bei ihm viel zu viel französisch kultiviertes Understatement im Spiel. Zunächst dominierte einschmeichelnde Tuchfühlung mit dem Trompeter Sebastian Belmondo. Wie unter einer Lupe offenbarte Terassons Spiel das allerfeinste – bevor sich eine raffinierte Kontrastebene auftat: Jetzt erzeugte der marokkanische Gembri-Spieler Majid Bektas trancig-sonore Riffs auf diesem archaischen Seitenstrument aus der Gnawa-Tradition. Faszinierend ist auch, wie Jacky Terasson in seinen Soli manchmal bewusst in anderen Tonsystem bleibt, was aufregende polytonaler Reibung hervorbringt.
Regelrecht überfällig schien es, dass der umtriebige Schlagzeug-Freigeist Christian Lillinger endlich mit der querdenkerischen Pianistin Kaja Draksler zusammen fand. Zusammen mit dem Bassisten Peter Eldh als kraftvolles Bindeglied entsteht in Münster ein starker Flow: Spontane Entscheidungen über Klänge und Impulse anbieten und aufnehmen. Rhythmische Muster erzeugen, atomisieren, konterkarieren. Voll tiefer Abenteuerlust in den Kosmos der Kombinationsmöglichkeiten eintauchen, wie ihn 88 Klaviertasten hergeben. Immer offen sein für das nie planbare Resultat. Sich frei fühlen. Beim spielen und beim Hören gleichermaßen. All dies machte dieser Auftritt auch so manchem „Nicht-Kenner“ in Sachen freier Improvisationsmusik hautnah plausibel.
Im Münsteraner Theater haben schon viele große Besetzungen für ebensolches musikalisches Kino gesorgt. Diese glanzvolle Reihe komplettierte beim 26. Festival das ICP Orchest mit dem Niederländer Haan Bennink als Mastermind und Schaltstelle. Bennink ist ein gutes Beispiel, dass es einfach jung hält, das eigene Ding mit Leidenschaft zu betreiben. Die hellwache Spontaneität und der nie versiegende Humor des Niederländers strahlt auf die Streicher und Bläser dieses Ensembles, dass mit Klängen schräge Collagen mal, sich auch mal dadaistisch-szenische Einlagen gönnt und mit reifem Erfahrungspotenzial blitzschnell zwischen Genres hin und her switcht. Jazz braucht Unangepasstheit wie Luft zum Atmen!
Das alte Jahr endete mit Katastrophen. In das neue wird mit Zukunftsangst geblickt. Ein Jazzfestival, welches das tolerante Miteinander der Kulturen praktiziert, wirkt in diesen Tagen wie eine warme Zufluchtsstätte. Diese Gedanken drängten sich vor allem beim Finale in Münster auf: Der israelische Sänger und Saxofonist Daniel Zamir hat schon vor vielen entwurzelten Menschen im nahen Osten gespielt. Sein beseelt-flammendes Spiel auf dem Sopransaxofon ist beschwörende Botschaft genug, die keiner Worte bedarf. Dies wurde in Münster durch einer äußerst dynamische Bandchemie, unter anderem mit Omer Klein am Piano verstärkt. Daniel Zamirs Aufforderung zum Mitsingen einiger hebräischer Lieder kam das Publikum dankbar und bereitwillig nach. Das erzeugte viel verbindende Nähe zum Festival-Abschluss!