Zur 50. Ausgabe des Moers-Festivals
Interview mit Tim Isfort
TEXT: Stefan Pieper | FOTO: Stefan Pieper
„Wir wollten die Welt nicht mehr so wie sie war“ lautete damals das Credo, unter dem 1972 im Moerser Schlosshof die Klänge von Peter Brötzmann zuweilen zum politischen, aber immer zum ästhetischen Manifest wurden. Heute und künftig lautet das Anliegen, solche Erweckungserlebnisse an neue Generationen weiter zu geben. Im ausgiebigen Gespräch würdigt der künstlerische Leiter Tim Isfort die Leistung seiner beiden Vorgänger und blickt in die Zukunft...
Was war euer Anliegen bei dieser Festivalausgabe?
Wir sehen „Moers 50“ als Scharnier, von wo aus wir in zwei Richtungen blicken wollen. Auf fünf Jahrzehnte Festival-Geschichte. Zugleich fragen wir: Was ist eigentlich die Zukunft von Festivals? Was ist die Zukunft speziell vom moers festival? Wir blicken in diesem Jahr besonders auf die Historie zurück: Was war 1972 der Antrieb? Was war in den 80ern? Was in den Neunzigern? Was war die Utopie? Und was ist immer noch die Utopie?
Wenn im Jahr 1972 Peter Brötzmann im Schlosshof spielte, wurde das als politisches Manifest wahrgenommen?
Es ging nicht nur um die Musik. Damals standen noch Themen wie z.B. die Entnazifizierung der Politik im Raum. Wir wollten die Welt nicht mehr so, wie sie war. Eine Befreiung und eine Revolte, das war ein ganz fetter Antrieb. Ob das alles konzeptionell so durchdacht war, wie wir es heute machen, kann ich nicht beurteilen. Dafür war ich noch zu jung damals.
Lässt sich anhand der vielen Zeitdokumente und Erinnerungen überhaupt ein Fazit ziehen?
Es gibt nicht die eine Erzählung. Es gibt nicht die eine Wahrheit. Es gibt Burkhard Hennens Wahrheit. Es gibt Rainer Michalkes Wahrheit. Es gibt die Erzählung von Peter Brötzmann. Peter Kowald kann man nicht mehr fragen. Es gibt zahllose Zeitzeugen aus Moers. Vor allem auch sehr viele von außerhalb, aus Benelux und Japan. So viele einzelne Perspektiven. Jeder hat sein eigenes Moers.
Welche Veränderungen waren Dir wichtig, nachdem Du künstlerischer Leiter wurdest?
Für uns wurden die vielen kleinen Unterwanderungs-Manöver immer wichtiger. In künstlerischer Hinsicht war es ein großes Glück, dass eine ehemalige Tennishalle von Bund und Land als neue Spielsätte ertüchtigt worden war und eine Mittelbühne eingebaut werden konnte.
Vieles war komplett neu beim Moers-Festival. Was für Reaktionen bekamt ihr?
Viele Leute haben es nicht gern, wenn man Angestammtes verändert. Manche finden es gut, aber andere können nichts damit anfangen. Die drohen wirklich, sie kommen nicht mehr.
Wie war es bei den vielen früheren Veränderungen in den letzten 50 Jahre?
Eben. Das gab es bei jedem, zum Beispiel beim Ortswechsel vom Schlosshof in den Freizeitpark, was eine Notwendigkeit war. Es ging nicht anders, weil alles immer größer wurde und mittlerweile über 1000 Leute zum Festival kamen. Irgendwann waren es über 4000 Leute - Burkhard ist dann in die Eishalle gewechselt, woraufhin dann erstmal ca 2000 Leute nicht mehr kamen. Die Hälfte des Publikums hatte gesagt, die Atmosphäre ist weg. Aber da hat jeder seine Vorlieben.
Wie hast Du die Atmosphäre im Zelt erlebt?
Ich persönlich fand das Zelt nicht so optimal. Innen drin fand ich es immer sehr schwierig mit der Konzentration auf die Musik. Allein die Unruhe durch viele Leute, die hin und her liefen überall.
Alles hat seine Zeit - das macht den Reiz der Historie dieses Festivals aus. Welche spezifischen Leistungen würdest du deinen Vorgängern attestieren?
Burkhard hat aus dem damaligen Zeitgeist heraus der Stadt Moers unglaublich viel geschenkt. Vorher war hier einfach so gut wir gar nichts. Burkhard hat immer versucht, neue musikalische Tore zu öffnen. Er war der erste, der DDR Musiker rüber geholt hat. Es gab zum Beispiel damals ein Festival „März-Jazz“, das war eine Art Untergrund-Bruderschaft zur DDR mit dem Festival. Es gibt noch unheimlich viel zu entdecken, ich habe viel im Stadtarchiv Moers nachgeguckt. Das könnte man jahrelang weiter treiben. Burkhard hat später sein Publikum, das durch den Free Jazz sozialisiert worden war, mit den Einstürzenden Neubauten konfrontiert. Er hat später die ganzen Weltmusik-Sachen und später auch Japan und Südkorea nach hierhin geholt und überhaupt erst bekannt gemacht. Klar - es gab auch Streitpunkte, etwa die African Dance Night, die vielen schon zu kommerziell wurde. Auch Reiner hat später den Anspruch verfolgt, Exklusivität zu zeigen und ist dafür unheimlich viel umher gereist. Er hat sich um viele Vernetzungen verdient gemacht, neue Förderungen generiert, hat den Improvisor in Residence eingeführt.
Livestream 50. Moers-Festival Freitag
Moers steht für einen nachhaltigen Prozess: Es wurde nicht nur hierzulande viele Musikulturen erst entdeckbar, zugleich verbreitete sich der Ruf dieses Festivals immer mehr auf der Welt!
Es gibt hier wirklich immer wieder erstaunliche Entdeckungen: Da hat mal ein Japaner einen Film über das moers-festival gemacht. Es ist aufregend, mit welch fokussiertem Blick von ganz anderswo auf diesem Planeten nach Moers geguckt wurde und wird. Und damit wurde auch das Moers-Festival überall auf der Welt immer bekannter.
Was denkst Du über das Publikum des Moers-Festivals im Wandel der Jahrzehnte?
Die Menschen sind immer Kinder ihrer Zeit. Dieses „im Schlosshof im Matsch sitzen“, das hatte schon seine besondere Magie. Das sagen zumindest die Zeitzeugen von damals. Die Jugendlichen sagten einfach: Wir sind da hingegangen, weil da Jazz gespielt wird. Da hat ein Peter Kowald denkbar merkwürdig auf einem Alphorn herum getrötet, aber nach einer Stunde fanden das alle gut. Heute sind diese Leute über 70. Nicht anders ist es mir später in der Eishalle gegangen. Ich dachte immer wieder: Was ist das für ein Sound? Das habe ich ja noch nie gehört! Bis dahin habe ich Rockmusik in einer Schülerband gemacht. Ich habe einfach viele Dinge erlebt, die ich nicht erlebt hätte, wenn ich nicht in Moers aufgewachsen wäre.
Als junge Leute Ende der 1990er sagten, ich gehe zum Jazz, hieß das meistens, dass sie gar nicht in die Konzerte gingen, sondern nur draußen feiern. In dieser Zeit ist das Festival drumherum immer größer geworden. Das hatte es vorher in dem Maße nicht gegeben, da ist eine echte Parallelwelt entstanden. Mit dieser Art von Camping- und Partytourismus sind dann auch die Probleme angewachsen. Die schließlich in Reiners Zeit dann zur großen Veränderung mit der Festivalhalle geführt haben.
Was ist heute anders für Dich bei der Gestaltung des Festivals?
Es gibt einen großen Unterschied! Damals gab es eine einzige homogene Generation zu versorgen. Es waren alles relativ gleichaltrige junge Leute. Heute haben wir mehrere unterschiedliche Generationen zu bedienen. Wir versuchen natürlich heute, auch die 20-jährigen abzuholen. Dieses Gefühl, dass sich da ein Tor zu anderen Welten öffnet, möchte ich weitergeben. Vieles ist anders geworden: 1972 sind die Leute mit einem Flyer durch die Stadt gelaufen, da stand drauf „Heute Jazzfestival. Kommt heute, kommt alle.“ Seit dem letzten Jahr wagen wir den Sprung in die virtuelle Realität.
Du sprichst gerne von Unterwanderung beim moers festival. Wo siehst Du bei dieser aktuellen Festivalausgabe die Unterwanderung?
Wir treiben den experimentellen Ausflug in die virtuelle Realität weiter. Und wir haben ja sogar einen gewissen Prozentsatz des Publikums auch physisch vor Ort. Ebenso arbeiten wir den „analogen Online-Teil“ weiter aus. Aber die virtuelle Realität in Moers soll kein Hochglanz-Ding werden, sondern muss in Moers experimentell sein. Wir haben zum Glück ein gutes Team, das an der theatralen Ebene mitwirkt. Auch wenn mir klar ist, dass jetzt viele Jazzpuristen sagen, dass sie den ganzen Quatsch nicht brauchen...
Das aktuelle Festivalplakat bildet eine Umarmung ab. Zugleich werden die Menschen auf Abstand gehalten, müssen sogar ihre Gesichter mit Masken bedecken. Ist menschliche Nähe schon zur Utopie geworden?
Es soll eine Versprechung sein, dass diese Umarmung wieder stattfinden wird. Und dass sich in Moers Vergangenheit und Zukunft miteinander umarmen können, Analoges und Digitales, Generationen und Musikstile.
Die Videoeinspielungen und Tanzchoreografien spielen -wenn auch sehr entfernt - auf Ray Bradburys Roman „Fahrenheit 451“ orientiert. In diesem Film ist die Welt „sicher“ geworden, weswegen es keine Feuerwehr im alten Sinne mehr braucht. Diese hat sich daher darauf verlegt, den freien Geist zu bekämpfen, da der als Bedohrung der Sicherheit angesehen wird. Siehst Du den heutigen gesellschaftlichen Umgang mit Kultur so?
Ein „Verbrennen von Kultur“ passiert ja gerade. Deswegen braucht es einen Kampf um die Kultur. Wenn ich höre, dass viele Künstlerinnen und Künstler, auch Musiker und Musikerinnen sagen, „Jetzt gebe ich auf“ und schon ein Drittel aller Beteiligten dies getan haben, dann ist das schon eine heftige Zahl. Ich will hier gar nicht sagen, dass die Regierung an der Situation schuld ist, da sind viel tiefere Mechanismen am Werk. Aber ich sehe schon einen besorgniserregenden Mangel an Zivilcourage, für die Kultur einzutreten - auch bei der Künstlerschaft selbst! Keine Frage, die Pandemie ist gefährlich, aber man muss auch um seinen eigenen Bereich kämpfen. Wir sprechen ganz offen mit den Ministerinnen und Ministern und es gibt auch discussions zu diesem Thema in Moers.
Also ist Absagen und Verschieben für Moers auch ein No-Go, allein um ein Zeichen zu setzen?
Wir müssen weiterhin diese kleine Fregatte durch tosende Unwetter manövrieren. Wir haben den Auftrag unserer Fördergeber. Also gilt: Wir machen das! Und bringen niemanden in Gefahr dabei...
Livestream 50. Moers-Festival Samstag
Jeder von uns hat in vielen Jahrzehnten viel auf dem Moers-Festival erlebt. Viel ist vom subversiven, anarchischen, spontanen Geist des Moers-Festivals die Rede. Muss dieser heute künstlich und medial inszeniert werden, während er früher einfach stattgefunden hat?
Als Burkhard im Jahr 1972 begann, war das Festival keine Hochkultur. Er hat einfach gemacht. Es war ein Festival, das gewachsen ist - aus einer Bewegung heraus. Das war echt. Jetzt ist das Festival 50 geworden und ist Teil einer hoch subventionierten Hochkultur. Zum Glück haben wir die tollsten Fördergeber, die auch jede künstlerische Freiheit inhaltlich mittragen. Trotzdem möchte ich nicht unter Hochkultur einsortiert werden. Subkultur ist heute aber immer hochkulturell gefördert. Und die Zeiten sind heute auch andere, weil es für alles Regularien braucht.
Burkhard und auch Reiner haben sich in vielen Konflikten vor allem mit der Stadt Moers ganz schon aufgerieben - seit Du am Ruder bist, wirkt alles viel harmonischer. Liegt es an Deinem Naturell oder konnten entscheidende Dinge im Verhältnis zwischen der Stadt und dem Festival repariert werden?
Ich weiß nicht, ob ich das war. Burkhard hatte 34 Jahre mit der Stadt gekämpft und in dieser Zeit das Schiff da durch manövriert und Unglaubliches geleistet! Reiner hat das auch getan. Er trat konsequent dafür ein, dass die Kultur verteidigt wird - und vor allem, dass nicht irgendwelche Verordnungen das Festival kleiner machen! Auch das war wichtig, um das Festival zu verteidigen. Das einzige, was ich vielleicht Reiner und Burkhard voraus habe, sind jene unschönen Erfahrungen, die ich mit dem Traumzeit-Festival hatte. Da habe ich mangelnde Wertschätzung erfahren, die umso schwerer wiegt, wenn ein Festival wirklich „dein Baby“ ist. Danach dachte ich erst mal, ich mache so etwas nie wieder. Als die Leute in Moers mich dann gefragt haben, habe ich auch zuerst nein gesagt. Aber dann haben wir geredet. Meine Bedingung war, dass ich auch meine Leute und mein Team mitbringen kann.
Wie würdest Du Deine Rolle charakterisieren?
Ich bin in Moers aufgewachsen und kenne diese kleine Großstadt. Ich habe, glaube ich zumindest, den Gedanken von Rainer und Burkhard sehr gut verstanden. Ich sehe unsere Aufgabe jetzt darin, zu fragen, was denn die Zukunft ist. Ebenso, aus welcher Notwendigkeit heraus dieses Festival stattfinden muss. Wir können natürlich nicht so tun, als wäre dies immer das gleiche moers festival. Im Kern geht es um die Musik, aber das ist auch immer ein Ausloten von Grenzen und hat damit eine gesellschaftliche Komponente. Früher war alles einfacher. Da hast du einfach ein Festival auf der Wiese gemacht. Heute ist alles viel subtiler. Du brauchst 1000 Genehmigungen, damit irgendetwas überhaupt stattfindet. Wir können heute aber auch anderswo als auf der grünen Wiese etwas machen.
Was wünschst Du Dir für die Zukunft?
Jetzt möchte ich das Ding einfach auf einen guten Kurs bringen und vielleicht später einmal jemand anderem übergeben. Der bzw. die dann jünger ist und vielleicht auch mal weiblich ist. Das wäre ja auch mal an der Zeit.
50. moers-festival sonntag
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"moers-Romantik" 2011