Die Stimmung kippt!
Anspruch und Wirklichkeit in der Krise
TEXT: Stefan Pieper |
Durchhalten und das beste aus der Krise mache, hieß es zu Beginn. Aber die Stimmung kippt unter vielen freiberuflich Kreativen, die sich nicht wertgeschätzt fühlen.
Die UNESCO engagiert sich für die Wertschätzung von Kultur. Egal ob Städte, Regionen, Monumente – was durch die UNESCO geadelt wird, erfährt in der Regel eine stärkere Beachtung. Auch dem Jazz und dessen weltumspannender toleranter Botschaft wird am Vorabend des Maifaiertags der rote Teppich ausgerollt. Kein Wunder: weltumspannende Toleranz und kulturelle Pluralität sind im Jazz systemimmanent.
Genauso weltumspannend ist die globale Krise einer neuen Pandemie in Kombination mit einer nie dagewesenen Vehemenz in der Einschränkung von Mobilität, Freiheit und Grundrechten – eine ungute Mischung, die bereits im fortgesetzten Stadium Existenzen vernichtet.
Viele Jazzmusikerinnen und Jazzmusiker, ebenso Konzertveranstalter und zahllose andere Menschen in den vielen kulturellen Tätigkeitsfeldern fühlen sich im Moment nicht wertgeschätzt. Als vor gerade mal sechs Wochen der Shutdown begann, kam sogar noch so etwas wie Romantik auf. Wie sehr hatten viele eine „Entschleunigung“ vermisst, die sich jetzt einstellte, um endlich mal durchzuatmen und den kreativen Akku wieder aufzuladen. Viele unterstützten einander. Improvisieren wurde zum Aspekt des Alltagslebens und wo Auftrittsverbote den Tourneeplan zerschossen, wurde eben vom Balkon aus musiziert. Die Leichtigkeit ist einer zunehmenden Lähmung gewichen. Einnahmen brechen weg, Kosten laufen weiter, Kontostände befinden sich im Sinkflug. Wovon sollen im nächsten Monat die Rechnungen bezahlt werden?
Hoffnung und Ernüchterung
Kurzfristig schien in NRW ein warmer Regen vom Himmel zu fallen, als das Land NRW eine unbürokratische Soforthilfe für Soloselbstständige bewilligte, welche Betriebsausgaben UND Lebensunterhalt einschloss und damit die Notlage auf den Punkt erfasste. Dass einen die Politik auch einmal so richtig positiv überraschte, tat nicht nur als Zeichen großer Wertschätzung gut, sondern wirkte auch wie eine Vertrauensspritze in das Krisenmanagement der Politik. „Ihr seid wichtig für uns, wir wollen, dass ihr auch nach der Krise noch da seid, denn Kultur ist systemimmanent“ drängte sich als Botschaft auf, ein Satz, dessen Leuchtkraft aber schnell wieder erlosch. Der Rückzieher kam schon Anfang April, als die Lebenshaltungskosten aus den Soforthilfen wieder ausgeklammert wurden. Also wieder nach einem schönen Traum in der grauen Normalität aufgewacht? Geblieben sind halbherzige, chaotisch wirkende Hilfsmaßnahmen, die nach kurzer Zeit erschöpft waren und wo ein Gestrüpp an Ausschlussklauseln ohnehin viele durchs Raster fallen lassen lässt. Echt herablassend wirkte schließlich der Kommentar aus der Politik, dass es doch eine Grundsicherung seitens der Jobcenter gehen würde und dass diese Option sogar „attraktiver“ sei. Auch die angekündigten Vereinfachungen beim Antragsverfahren ändern nichts daran, dass hier angesehene Musikschaffende mit internationalem Renommee plötzlich zu Hartz-4-Empfängern werden. Das wirkt schockierend und monströs, ist aus vielerlei formalen Gründen auch wenig praktikabel. Bittere Wahrheit ist, dass viele Betroffene schon jetzt keinen anderen Ausweg mehr sehen und mit dem Ausfüllen der seitenlangen Anträge beginnen.
Eine Frage der Priorität
Zugleich zeichnet sich in allen politischen Öffnungsdebatten eine Priorisierung, die in Bezug auf die Kultur nicht minder verächtliche Züge aufweist: Konsum und Kommerz genießen den Vorzug und werden als systemrelevant deklariert. Die Kultur und vor allem die freie Szene rangieren ganz weit hinten, wenn es um Lockerungen und Öffnungen geht. Jeder weitere Monat, der verstreicht, markiert eine neue wirtschaftliche Schadensdimension. Die Folge von all dem – und das belegen bereits zahlreiche zum Teil sehr emotionale Antworten auf unsere Befragungsaktion der nrwjazz.net-Redaktion: Die Stimmung kippt gerade mächtig.
Wir wollen gar nicht die Sinnhaftigkeit der Maßnahmen gegen die Pandemie diskutieren. Auch wenn man nicht pauschal alles „glauben sollte“, gebietet es die Vernunft, die Gefahren und Möglichkeiten ihrer Abwehr nicht zu negieren, sondern als real existierend zu respektieren und achtsam mitzutragen. Ungesund ist aber ein aggressiver moralischer Rigorismus gepaart mit einer Gehorsamskultur, bei der Selbstverantwortlichkeit, offener Diskurs und Kreativität - also damit auch wieder Schlüsseltugenden für den Jazz - auf der Strecke bleiben.
Das Sein bestimmt das Bewusstsein
Stichwort „Solidarität“, eines der potenziell kommenden „Wörter des Jahres“ 2020. Diese lebt in vielen Bereichen. Aber man muss sich diese leisten können. Das Sein bestimmt das Bewusstsein – und das gilt auch für NRWs JazzmusikerInnen. Die Politik traf die Situation genauso unvermittelt wie alle anderen. Dass auf die Versprechungen bislang nur halbherzige Taten folgten, lässt befürchten, welcher gesellschaftliche und ökonomische Stellenwert der Kultur eingeräumt wird. Auch wenn sich gerade noch deutlicher als sonst der Einfluss vieler Lobbyisten abzeichnet, wäre es fahrlässig, wenn die Politik die Kultur aus den Augen verliert. Denn zum einen fehlen diesem gesellschaftlichen Segment für eine eigene durchsetzungsfähige Lobbyarbeit die Mittel und zum anderen - und das ist der wichtigere, nicht minder relevante Aspekt, würde die Kultur ihre Freiheit aufgeben.
Der gerade von der Kulturstaatsministerin Monika Grütters angekündigte Strukturhilfefonds setzt ein hoffnungsvolles Signal. Dies kann und darf aber nur ein erster Schritt sein, dem weitere folgen müssen – alles andere läuft in NRW und anderswo geradezu auf eine fahrlässige Gefährdung einer heute von der UNESCO hervorgehobenen Kultursparte hinaus.