Bild für Beitrag: Wo ist nur all das Publikum hin? | Teil 1: Erklärungsversuche

Wo ist nur all das Publikum hin?

Teil 1: Erklärungsversuche

Gelsenkirchen, 23.10.2023
TEXT: Bernd Zimmermann | 

Nach wie vor klagen Veranstaltende und Künstlerinnen und Künstler, vor allem bei Veranstaltungen jenseits des Mainstreams, über den Rückgang des Publikums. Mit diesem Beitrag wagen wir eine Analyse, zeigen Lösungsmöglichkeiten auf und wollen gleich mehrere Appelle loswerden.

"Wenn das so weiter geht, geht es bald nicht mehr." Diesen Satz hören wir sehr oft. Während Großveranstaltungen und Unterhaltungsindustrie boomen, bleibt bei Kulturveranstaltungen jenseits des Mainstreams das Publikum aus. Noch heute, über ein Jahr nach der Pandemie, klagen die Veranstalter über bis zu fünfzig Prozent Publikumsrückgang. Und dies in Zeiten, in denen gerade diese Kultur politisch und gesellschaftlich immer systemrelevanter wird - steht sie doch für Vielfalt und freie Meinungsäußerung.

Was zum "Überleben" bleibt, ist, das Programm umzustellen und „mainstreamigere“ Angebote zu machen. Dies sind dann meist Comedy oder Coverbands. Hiermit kommen die Bühnen zwar halbwegs über die Runden. Die Programmplätze für anspruchsvollere Veranstaltungen sind aber meist auf Dauer verloren und die Programme gleichen sich von Stadt zu Stadt, Spielort zu Spielort immer mehr an.

Wo bleibt das Publikum?

Auf diese Frage gibt es in der heutigen Zeit, wie auf viele andere, leider nicht die eine Antwort. Einfache Erklärungsversuche reichen von „Das Wetter ist zu schlecht“ oder zu gut, bis hin zu Konkurrenzveranstaltungen, wie zum Beispiel einem Fußballspiel. Aber Spaß beiseite.

Die Inflation?

Ein weit verbreiteter Erklärungsversuch ist, dass durch die durch viele Krisen verursachte Inflation bei den Menschen das Geld nicht mehr so locker sitzt. Ausverkaufte Großveranstaltungen, volle Restaurants und selbst kleinere Mainstream-Veranstaltungen bezeugen hier das Gegenteil – und das bei ordentlich gestiegenen Preisen. Von Nachholeffekten reden Wirtschaftswissenschaftler und Soziologen, wenn es um das Thema Reisen geht. Aufgrund des langen Verzichts boomt jetzt umso mehr die Tourismusindustrie. Jeder freie Tag wird dazu genutzt, in die Ferne zu ziehen. Koste es, was es wolle. Da lässt man sich selbst nicht von Kriegen, Gefahren durch Terrorismus oder Themen wie Klimawandel und Inflation abhalten. Dass sind wohl alles Belege dafür, dass nicht etwa gestiegene Lebenshaltungskosten eine Erklärung für den Publikumsrückgang sind, sondern sich Interessen und Prioritäten verschoben haben müssen.

Haben sich die Menschen verändert?

Kramen wir mal die gute alte, von Abraham Maslow von 1943-1954 entwickelte, Bedürfnispyramide wieder hervor. Oder frei nach Bertold Brecht: „Erst kommt das Fressen und dann die Moral“. Es ist allgemeiner Konsens, dass sich die Gesellschaft im Verlauf der Pandemie grundsätzlich verändert hat. Egoismus und Ungleichheit sind durch ein moralisches Vakuum verstärkt worden. Das zügellose kapitalistische System erzeugt immer mehr Krisen und lässt die Schere zwischen „arm und reich“ immer weiter auseinanderdriften. Die Reaktion auf die empfundene Machtlosigkeit: Unterhaltende Ablenkung mit möglichst vielen Gleichgesinnten. Wer denkt da nicht gleich an "Brot und Spiele". Sich offen und empathisch mit Neuem auseinandersetzen, zuhören und sich darauf konzentrieren sind hingegen die Anforderungen von Kultur jenseits des Mainstreams. Tugenden also, die in unserer Gesellschaft mehr und mehr verloren gehen.

Die Medien?

Es gibt kaum noch Medien, die sich nicht ausschließlich an Umsätzen und Unternehmensgewinnen orientieren. Aber nicht nur das. Sie behaupten auch zu wissen, was die Menschen interessiert oder noch schlimmer, sie bestimmen, was die Menschen zu interessieren hat. Auf der Strecke bleiben die sogenannten kulturellen, schon fast diskriminierend titulierten „Nischen“, weil sie unter diesem Postulat in den Medien kaum noch Platz finden. Besonders besorgniserregend sind hier die vergangenen und aktuellen Entwicklungen bei den öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten. Hier wird mehr und mehr darauf geschaut, was die Menschen hören und sehen wollen, weil ihnen die Zuhörerschaft, vor allem die junge, davonläuft und ihnen nichts anderes einfällt als auf den Mainstream zu setzen. Und weil bei den öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten scheinbar das Geld fehlt, wird bei der Kultur zeitlich beschnitten oder gleich ganz aufgegeben oder in die Abend- und Nachtstunden verlagert, wo eh kaum jemand noch zuhört. Information, Bildung und vor allem die Möglichkeit Neues oder Anderes zu entdecken bleiben auf der Strecke. Eine Gleichschaltung der Medien scheint immer wahrscheinlicher.

Aber auch dieser Erklärungsversuch greift nicht weit genug. Zum einen war diese Veränderung in den Medien schon lange vor der Pandemie zu beobachten und zum anderen haben die, die noch kulturell sozialisiert wurden, ihre Kulturveranstaltungen selbst ausfindig gemacht. Wobei wir nun eigentlich bei der Bildungspolitik angelangt wären, aber das würde hier nun wirklich zu weit führen. Welche Rolle die Veränderung der Medien bei denen spielen, die bisher eh zum immer gleichen Spielort gegangen sind und jetzt auf einmal nicht mehr, wäre eine nähere Betrachtung wert, denn Veranstalter stellen zunehmend fest, dass sich selbst das Stammpublikum zurückgezogen hat. Liegt es womöglich am Angebot? Ein Thema, was im zweiten Teil zum Tragen kommt.

Käuferverhalten?

Vor der Pandemie wurde der überwiegende Teil der Tickets oft lange vor den Veranstaltungsterminen gekauft. Dies hat sich, vielleicht aufgrund der vielen in der Pandemie ausgefallenen Konzerte, in kurzfristige Vorverkäufe oder gar auf die Abendkasse verlagert. Auch dies könnte ein Grund für den Publikumsrückgang sein. Das Publikum entscheidet sich kurzfristig für einen Konzertbesuch oder nicht. Und da kommen tatsächlich die, Eingangs erwähnten Umstände zum Tragen oder der Termin wird schlicht und ergreifend vergessen.  

TRAUTES Heim, Glück allein?

Während der Pandemie hatten die Menschen in Ermangelung an öffentlichen Kulturveranstaltungen genug Zeit, andere Interessen zu entwickeln. Sie begannen wieder zu lesen, malen, basteln, spielen und legten sich noch großformatigere Bildschirme mit noch leistungsstärkeren Dolby-Surround-Systemen zu, kümmerten sich intensiver um ihren Garten, ihr Haus oder ihre Wohnung, begannen mit Yoga, dem Kochen und sortierten die über Jahre vernachlässigte Plattensammlung und/oder die Urlaubsbilder der letzten 20 Jahre. Kurz: sie richteten sich zu Hause gemütlich ein. Diese eigene, neue Welt ist attraktiv geworden, vor allem aber vertraut und unter Kontrolle. Dabei hat man sich so ganz nebenbei, ohne es zu merken, von Konzertbesuchen und Besuchen anderer Kulturveranstaltungen entwöhnt. Dieses sogenannte, ehemals als negative gesellschaftliche Entwicklung mit "Cocooning" bezeichnete Verhalten, wird mittlerweile als trendiger Lifestyle gefeiert.

Zusammengefasst

Es lassen sich sicherlich noch viel mehr gewichtige oder kleine unscheinbare Gründe für den Publikumsschwund finden. Fassen wir nun zusammen: Ja, das Geld ist knapp und es müssen Prioritäten gesetzt werden. Diese scheinen sich verschoben zu haben. Persönliche, unmittelbare Bedürfnisbefriedigung steht im Vordergrund, Ablenkung von den Krisen des Alltags und der Welt. Die Menschen wollen lieber mit Bekanntem kurzfristig unterhalten werden, als sich nicht mit Neuem auseinander zu setzen. Keine Experimente. Die unausweichlichen Veränderungen in der Gesellschaft und Umwelt sind schon kompliziert genug. Und weil die Welt da draußen Angst macht, zieht man sich gerne ins Private zurück und sieht sich die siebenundneunzigste Wiederholung eines Films an, weil das Ende nicht überrascht. Der ehemals als Bezeichnung für eine negative gesellschaftliche Entwicklung erfundene Begriff "Cocooning" ist zum trendigen Lifestyle und damit gesellschaftsfähig geworden.

Möglich auch, dass Kulturveranstaltungen gemieden werden, weil das wenige Publikum deprimierend wirkt. Oder die Menschen glauben, dass andere schon hingehen werden, wenn in zahllosen Veranstalter-Newslettern aufgefordert wird, wieder zur Kultur zurückzukehren. Eine Erklärung, die zur "Egoismus-Theorie" passt. Eine erschreckende Vorstellung - nicht nur für die Kultur, sondern auch die gesamte Gesellschaft.

Das Fazit

Den einen einfachen Grund für den Publikumsrückgang gibt es nicht. Vor allem auch deswegen nicht, weil es noch Ausnahmen gibt. Jeder Erklärungsversuch ist berechtigt, aber erst die Summe aller führt zu dieser Entwicklung. Ob sich das in Zukunft ändern wird, bleibt abzuwarten, vor allem aber zu hoffen.

In Teil 2 folgt eine Diskussion über die Lösungsmöglichkeiten ...

Suche