Wir freuen uns auf Weihnachten
Lockdown 2.0
TEXT: Stefan Pieper |
Angela Merkels Botschaft, dass wir jetzt auf Kultur verzichten müssen, um im Dezember Weihnachten zu feiern, ist scheinheilig. Ein paar Gedanken zu den neuen Corona-Maßnahmen und zu ihren Auswirkungen...
Soeben wurde im Rahmen der neuesten Corona-Notverordnungen ein Verbot von Konzerten und sonstigen Kulturveranstaltungen für den ganzen November verhängt – und damit faktisch einer ganzen Branche Berufsverbot erteilt.
Wie herablassend der gesellschaftliche Bildungsauftrag von Kultur klein geredet wird, offenbart sich darin, dass die aktuellen Verordnungen Konzerte und Theater ins Segment der „Freizeitgestaltung und Unterhaltung“ degradieren - Seite an Seite mit Spielhallen, Wettbüros, Bordellen und anderen Volksbelustigungen.
Über die Bildungsferne von Politikern gäbe es also einiges zu sagen, ebenso wie über die existenziellen Konsequenzen für zahllose Betroffene in der Musikbranche, in Theater und Gastronomie und vielen anderen benachbarten Wirtschaftszweigen.
In erster Linie aber fühlen sich die abrupt verhängten Veranstaltungsverbote wie ein Schlag ins Gesicht aller Kulturschaffenden an. Wieder mal geht es um ausbleibende Wertschätzung: Vor allem für das, was in den letzten Monaten gestemmt, entwickelt, geplant, durchgehalten und auch finanziell investiert wurde: Musiker, Veranstalter, Techniker, Caterer etc. haben unter hektisch wechselnden Vorgaben Weitblick behalten, am gemeinsamen Strang gezogen und Konzepte realisiert, um die Menschen beim Besuch von Livekonzerten vor einer Ansteckung mit der neuen, gefährlichen Krankheit Covid 19 zu schützen – und auch das Publikum hat mitgemacht bei Abstandsregelungen, Kontaktverfolgung, Maskentragen, zeigt Disziplin, Improvisation, und ja, Leidenschaft für die Sache.
Es wurde ALLES gegeben - so erfolgreich, dass der einschüchternden täglichen Infektionszahlen-Dramaturgie von RKI und co ein anderer statistischer Befund mit Gewicht entgegen gehalten werden muss: Es gibt bislang KEINE positiv Getesteten bei Kulturveranstaltungen. Im Theater und im Konzert ist es vermutlich viel sicherer als in jedem voll besetzten öffentlichen Verkehrsmittel, Einkaufszentrum, Gottesdienst, Schulgebäude - und vermutlich auch zuhause, wohin Menschen ihre sozialen Bedürfnisse tragen und ausleben, sobald der öffentliche Raum erst abgeriegelt ist. Das Virus interessiert sich nicht für Symbolpolitik, sondern nur für kluge Konzepte - siehe oben.
Die Kulturbranche hat mit ihrem beherzten Management der Pandemie so viel Erfolg gehabt, dass sich Bund und Ländern davon etliche Scheiben abschneiden könnten. Mit dem überspannten Aktionismus der neuen Maßnahmen von Bund und Ländern wird ein erfolgreiches Krisenmanagement fahrlässig aufs Spiel gesetzt. Denn die öffentliche Akzeptanz beginnt jetzt zu erodieren. Das ist nicht gut, wo gerade die zweite Welle erst hoch zu schlagen beginnt.
Merkels Satz, wir brauchen jetzt Entbehrungen, damit wir bald fröhlich Weihnachten feiern können, ist eine naive Heilsversprechung. Schon jetzt wissen viele kaum, wie sie finanziell über die Runden kommen sollen, nachdem sich viele Soforthilfeprogramme, Transferleistungen als Mogelpackungen im Bürokratie-Wirrwarr erwiesen haben. Aufgrund solcher Erfahrungen schlägt den soeben versprochenen neuen Hilfeleistungen für den November auch erstmal viel Skepsis entgegen.
Der am Montag in Kraft tretende Lockdown 2.0 bringt zugleich der Wirtschaftslobby viel generöse Wertschätzung entgegen: Shopping, bis die Karte brennt, ist als kollektive Handlung erwünscht und daher von keinen Restriktionen betroffen. Hyperkonsum im Weihnachtsgeschäft ist systemrelevant und jeder Tag, an dem die Kauforgie später beginnt, ein "Schaden" in der Bilanz der Unternehmen. Also dürfen ab Mitte November ungebremst die Menschentrauben durch die Shopping-Malls fluten. Umso praktischer, wenn keine „überflüssigen“ Konzerte, Festivals und Theateraufführungen mehr vom totalen Kommerz ablenken...
Genug Verschwörungspolemik für heute. Zum Schluss noch ein Vorschlag, um im Falschen vielleicht doch das Richtige für den Jazz zu tun: Wie wäre es, seine Lieben mit tollen, neuen Jazz-CDs von unseren fabelhaften Musikerinnen und Musikern zu beschenken? Dafür muss noch nichtmals Amazon alimentiert werden, geschweige braucht sich niemand dafür in den Kassenschlangen der Medienmärkte den gefährlichen Aerosol-Wolken aussetzen. Viel bequemer geht es über die Künstler*innen-Websites oder direkt bei den Labels. Orientierung in der Flut spannender Neuerscheinungen geben seriöse Qualitätsmedien...