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"Wahnsinnig starke, kreative und vielfältige Szene"

Simon Nabatov im Interview

Köln, 02.02.2022
TEXT: Heinrich Brinkmöller-Becker | FOTO: Heinrich Brinkmöller-Becker

Der in Köln lebende Pianist Simon Nabatov ist ein Ausnahmemusiker in der Welt des Jazz und der improvisierten Musik. Nrwjazz hat häufig über seine Konzerte und seine Alben berichtet – Zeit und Anlass für Heinrich Brinkmöller-Becker, mit ihm ein Interview zu führen.

Du bist ein ungeheuer produktiver Musiker und veröffentlichst in kurzer Zeit ein Album nach dem anderen – immer mit hoher Varianz, auf höchstem künstlerischen Niveau und mit unbändiger Energie. Woher rührt deine Produktivität?

Vielen Dank zunächst... Es hat sich in den letzten Jahren irgendwie so eingespielt, dass man meint, ich würde ununterbrochen CDs veröffentlichen. In Wirklichkeit bringe ich jährlich eine, höchstens zwei CDs unter eigenem Namen raus, plus, ab und zu, erscheinen ein paar weitere CDs, bei denen ich dabei bin, entweder in einem gleichberechtigten Kollektiv oder als Sideman. Also, eigentlich nicht wahnsinnig viel... Die (relative) Produktivität erklärt sich einerseits durch meine Ausbildung als Komponist (noch in Moskau), wo ich gelernt habe, unterschiedliche Ideen, Konzepte oder Geschichten zu Papier zu bringen – und später als Aufnahmen zu realisieren und zu veröffentlichen. Da bin ich sicherlich nicht der einzige. Das reizt mich irgendwie nicht, mehr als 20 Jahre lang mit gleicher Band ähnliche Musik zu produzieren (wobei, natürlich, nicht wenige Bands gerade durch langjährige Zusammenarbeit überzeugen...). Andererseits habe ich leider wenige Konzerte zu spielen (und das schon seit längerem, also „Pre-Corona“ Situation), deswegen sind meine CDs für mich umso wichtiger als Möglichkeit, mich musikalisch nach außen zu äußern.

Du spielst live oder auf deinen Alben in den unterschiedlichsten internationalen Besetzungen – von der WDR Big Band bis zum Solo. Gibt es eine Präferenz?

Nicht wirklich...Die zwei Geburtstags-Auftritte mit der WDR Big Band in 2019 waren eher seltene glückliche Ausnahmen. Sonst scheinen Ensembles von 5-7 Musikern meine Lieblingsbesetzung in den letzten Jahren zu sein. Auch im Herbst 2022 plane ich 2 Septett-Projekte zu realisieren, beide basierend auf Werken vom Michail Bulgakov. Damit will ich nicht sagen, dass Solo, und Trio-Formate mich weniger interessieren, aber momentan konzentriere ich meine Arbeit auf etwas größere Formationen. Duos mag ich sehr, nach wie vor. In den letzten zwei Jahren habe ich mit Brandon Seabrook und Michael Attias gespielt und CDs aufgenommen, das hat Spaß gemacht. Und es freut mich sehr, dass das Duo mit Matthias Schubert wieder aktiv ist, immerhin musizieren wir seit über 30 Jahren zusammen.

Die stilistische Bandbreite deiner Musik scheint keine Grenzen zu kennen, außer Thelonious Monk vielleicht gibt es kaum erkennbare Vorbilder. Wie würdest du deine musikalischen Wurzeln und Bezugspunkte beschreiben?

Ich habe ja ab meinem dritten Lebensjahr was mit klassischer Musik zu tun gehabt, und zwar nicht zu knapp...Also, Bach, Schumann, Brahms, Prokofiev – und viele mehr. Später kamen die westlichen Avantgardisten dazu – Stockhausen, Boulez, Ligeti.

Im Jazz waren es Art Tatum, Teddy Wilson und die ganze Stride-Tradition. Danach Bud Powell, Monk, Parker – und nach Ankunft in NYC in 1979 alles und alle, die ich noch nicht kannte.

In früheren Jahren wollte ich anscheinend ein „Hansdampf in allen Gassen“ sein, später, zum Glück, weniger und weniger. Trotzdem, es wäre vielleicht nicht verkehrt zu erwähnen, dass ich auch die brasilianische Musik wahnsinnig gerne habe und vieles von derer Sensibilitäten noch in mir trage, manchmal versteckt, manchmal offensichtlich.

Eine Reihe deiner Alben bezieht sich auf russische Literatur. Wie siehst du das Verhältnis von improvisierter Musik und Literatur? Welche Inspirationsquelle bietet Literatur, bietet Sprache für dich?

Ich bin in der UdSSR aufgewachsen, einem Land, in dem gute Bücher zu lesen schon fast „Volkssport“ war, schon allein, weil so vieles anderes nicht möglich war... Seit über 20 Jahren mache ich ab und zu Projekte, die auf Literatur (überwiegend russische) basiert sind. Dabei ist die Wahl der Autoren keineswegs zufällig. Alle von mir ausgewählten russischen Schriftsteller waren früher oder später Opfer der Regime. Mein Großvater wurde bei großer „Säuberung“ in 1938 verhaftet und erschossen, solche Familiengeschichten haben mich natürlich geprägt. Wenn ich es erwähnen darf: Die meisten der Literatur-bezogenen Projekte sind nur teils improvisiert, da ist ziemlich viel durchkomponiert. Abgesehen davon, ich genieße es, konkrete Stories und Images als Vorlage zu haben.

In deinem letzten Album ‚Loves‘ bilden acht Liebesbeziehungen von Künstlerinnen und Künstlern die konzeptionelle Klammer für die Solo-Stücke. Warum dieser sehr abstrakte Bezugsrahmen für deine Musik?

Welche Rolle spielt diese Referenz für dich bei der Musikproduktion und für die Rezipienten?

Ich betrachte das Thema nicht als abstrakt. Jeder kann mit dem Begriff was anfangen. Mich reizte insbesondere zu sehen, wie die individuellen „Egos“ der Künstler dazwischenkamen und wirkten – ob positiv oder negativ. Vor allem die Vielfalt und Nuancen der Beziehungen haben mich fasziniert.

Deine Biographie weist dich als international tätigen Künstler aus. Du lebst jetzt seit längerer Zeit in Köln. Was bedeuten Köln, Nordrhein-Westfalen für dich?

Nach 33 Jahren in Köln ist die Stadt mein wahres Zuhause, obwohl NYC auch etwas Magisches für mich für immer sein wird.

Wie schätzt du die Jazz-Szene hier ein?

Als ich in 1989 nach Köln übersiedelte, fand ich die Szene noch relativ „bescheiden“ (nach 10 Jahren in New York), natürlich mit bestimmten Ausnahmeerscheinungen. Wahrscheinlich war ich damals auch etwas anderes ausgerichtet als heute und konnte nicht alles wahrnehmen und schätzen.

Heute ist die Szene wahnsinnig stark, kreativ und vielfältig, es macht Spaß zu sehen, wie eine Welle jünger Musiker nach der anderen nach Köln kommt und bald musikalisch was zu sagen hat - dank Musikhochschule, LOFT und Stadtgarten.

Wie hast du bisher Lockdown und generell die Auswirkungen von Corona auf die Szene der improvisierten Musik überstanden?

Es ist schon schwierig... Aber, ich finde, viele Einrichtungen haben viel dafür getan, dass die Szene nicht komplett untergeht – sei es Live-Streams, Konzerte in jeder „Lücke“, wo es möglich ist, und natürlich diverse Stipendien, Überbrückungshilfen und Förderungen.

Kannst du etwas über deine nächsten Projekte sagen?

In 2-3 Wochen erscheint auf Leo Records die CD „No Kharms Done“, basierend auf Texten vom Daniil Kharms, mit Phil Minton, Matthias Schubert, Wolter Wierbos und Jim Black. Es ist schon das zweite Mal, dass ich mich mit Kharms’ Texten beschäftige.

In den nächsten 2-3 Monaten werden wir mit Matthias Schubert ein neues Programm komponieren, proben, aufführen und aufnehmen.

Die im 2021 entstandenen Aufnahmen von meinem Quartett (Sebastian Gille, David Helm , Leif Berger) plus special guest Ralph Alessi sollten Ende 2022 veröffentlicht werden.

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