Vom Ruhrgebiet nach Wismar
Musikverleger Jürgen Czisch bringt Jazz auf Kurs
TEXT: Stefan Pieper | FOTO: Stefan Pieper
Das alte Mischpult steht noch im Büro von Jürgen Czisch – es zeugt von den Anfängen in Ruhrgebiet, wo er zusammen mit Andreas Seemer-Koeper die Szene aufmischte. Ersterer schlug aber dann den Weg des Verlegers und Vertreibers von Musik ein, während es Seemer-Koeper mehr in die Komponistenlaufbahn hinein zog. Vor zehn Jahren ist Jürgen Czisch nach Wismar gezogen, nicht zuletzt aus ganz persönlichen Gründen heraus: „Ich wollte ans Meer“ bekundet der passionierte Segler.
Seitdem hält er von hieraus musikalische Projekte im In- und Ausland auf Kurs - und will endlich bald in der alten Hansestadt eine eigene Jazzreihe aufmachen. Ein Besuch an Czischs Wohn- und Wirkungsstätte lieferte an einem Sommerwochenende spannende Einblicke in einen „lebendigen vielfältigen Organismus zur Verwertung von Musik“, wie er selbst sein Wirken umschreibt.
Der Geist von Unangepasstheit brachte Ende der 1980er Jahre Bandprojekte wie „Obst Obscure“ hervor. Und aus einem Freiheitsdrang heraus kam es zur Gründung einer Firma. Man wollte schließlich von dem leben, was man leidenschaftlich tut. So ein Pragmatismus ist das Kapital des gebürtigen Dortmunders und studierten Pianisten. Die sensible Synchronisation von künstlerischer Konsequenz mit den Strukturen des Marktes ist seitdem das erklärte Anliegen des Musikverlegers.
Vielen jungen Bands bietet Jürgen Czisch ein Rückgrat für deren Debut-Produktionen. So tummelt sich unter der Marke „Ajazz“ ein facettenreicher Querschnitt der aktuellen deutschen Jazzszene. Etwa die junge Band „Rose Hip“, die sich gerade fröhlich zwischen alle Stühle von Jazz und Pop setzt.
„NRW Records“ lässt den Gründungsnamen und damit auch die eigenen geografischen Ursprünge nachklingen. Doch ist dieses Label heute eine sichere Bank für einige „Dauerseller“ im Repertoire – etwa die sehr gefragten Produktionen des französischen Musik-Cineasten René Aubry. Ein eben solcher Selbstläufer ist der besinnliche Wohlfühl-Klavierjazz des Martin Ehlers Trios. Hier kommen schnell Verkaufszahlen zusammen, die wiederum für die Finanzierung gewagter Produkte ein solides Fundament bereitstellen.
Zum Erfolgsrezept gehört ein hellwacher Blick für weiße Flecken auf der Landkarte des Musikmarktes. „Big Band Records“ füllt solche Lücken, weil bislang noch kein Spezial-Label für dieses gewichtige Spezialsegment etabliert war. Einige der tonangebenden Zugpferde wie die Klangkörper von WDR und NDR sind mittlerweile im Boot.
Dass „Experimentalmusik auf CD“ nicht tot ist, sondern funktioniert und sich stetig neue Sammler findet, will das jüngste Gewächs in diesem Garten zeigen - nämlich das neue Label WismART. Czisch hatte schon in vorigen Konzepten mit dem Namen seiner Wahlheimat kokettiert - jetzt setzen die optisch strikt in Gelb gehaltenen Covers frische Signale fürs unberechenbare Hörabenteuer. „Die konsequent gleiche Farbe soll auffallen und das große Ganze dieses Anliegens sichtbar machen. Die Preiskalkulation ist moderat, um einen Kaufanreiz für unbekannte Titel zu geben“ sagt Jürgen Czisch. Höchster Standard ist dennoch Pflicht in dieser Serie – vor allem auch bei der Qualität der Studioproduktionen. Soeben sorgt das Trio-Album des Essener Pianisten Oliver Maas „Invisible Change“ für Furore - nicht nur wegen neuer Perspektiven auf das Klavier-Trio-Format, sondern auch für eine Aufnahmequalität, die Maßstäbe setzt.
Warum er die vielfältigen Labels nicht zu einer einheitlichen Marke zusammenzieht? Jürgen Czischs Antwort auf diese Frage wird zu einem aufschlussreichen Tutorial über Strukturen und Praxis von Musikvermarktung. Erkenntnis: Man muss Schubladen bedienen, damit Bands, Musiker und Stilrichtungen Gehör und Abnehmer finden. Denn verschiedene Musiken strahlen in ganz ausdifferenzierte Milieus hinein. Und dafür sind maßgeschneiderte Labels Pflicht.
Für viele Musiker und Bands war die Betreuung durch Jürgen Czisch ein wirksamer Durchlauferhitzer für die Karriere. Man denke an die deutsch-französische Band „Das Kapital“ mit ihrer preisgekrönten Interpretation von Eisler-Songs. Oder an die glanzvolle Entwicklung der Ukrainerin Mariana Sadowska, die mit „Just Not Forever“ eine CD in Jürgen Czischs NRW Vertrieb veröffentlichte: „Sie ist mittlerweile in ganz anderen Gefilden unterwegs und komponierte u.a. im Auftrag des Kronos Quartetts ein Requiem für Tschernobyl mit Uraufführungen in New York und Kiew. Und sie seitdem gar kein Interesse mehr daran, CDs zu produzieren.“
Damit sind wir bei einem Problem des CD-Marktes als solchem angelangt. Zunächst fehlt es heute oft an Institutionen, die das Neue spanned vermitteln. Radiosender ziehen sich immer mehr von ihren Kulturaufträgen zurück, wenn sie die Sendezeit gerade bei den ambitionierten Autoren-Sendungen immer mehr zusammenstreichen. Jürgen Czisch denkt hier an die goldenen Radio-Zeiten von früher: „Eine unserer ersten Produktionen, „Cookbook: Niemand tanzt “ist seinerzeit als erstes in Karl Lippegaus' Sendung Speakeasy gespielt geworden!“
Der physische Tonträger hat es ohnehin schwer. CDs kaufen scheint „out“ – also muss ein verantwortungsvoller Verleger auch gleich die Argumente für den Kauf der Platte mit beisteuern. Die physische Aura von Musik ist in Czischs Arbeitsräumen natürlich bestens präsent: Die vielen farbenfrohen Digipacks mit den haptisch ansprechenden Pappcovern wollen ausgepackt, in die Hand genommen und aufgelegt werden. Czisch knüpft mit dieser Verpackungsform bewusst an die Aura der Langspielplatte an. Diese lebt ja ohnehin beständig weiter bei echten Musikliebhabern, Klangenthusiasten und Jazz-Sammlern. Jürgen Czisch beglückt diese kultivierte Minderheit, indem er ausgesuchte Werke auch auf Vinyl heraus bringt.
Über den NRW Vertrieb kommen auch die Produkte mehrerer „Fremd“-Labels in den deutschen Fachhandel - wie seit neuestem das britische Avantgarde- und Freejazz-Label Leo-Records oder das Münchener Label Pirouet Records.Und seit einigen Jahren wird der Deutschland-Vertrieb eines Teils des Backkataloges von ECM Records, des wohl einflussreichsten europäischen Jazzlabels durch Jürgen Czisch betreut.
Während das Rauschen der Ostsee und das Kreischen der Möwen im Ohr hängt, senkt sich daheim als erstes die Nadel in die mitgebrachten Platten. Das ist jetzt viel mehr ein Vorgang von Versenkung und Hinhören – was viel mehr zu sein scheint, als das nur zu oft der CD anhaftende „Reinhören“. Etwa bei der minimalistischen Orgelmusik eines Arvö Pärt, bei dem warmen wegschwebenden Saxofonspiel von Charles Lloyd, bei den wilden Violaexpressionen einer Kim Kashkashian.
Beitrag von nrwjazz.net.