Seit 40 Jahren vibriert der Jazz
Montreal Jazz Festival
TEXT: Christoph Giese | FOTO: Montreal Jazz Festival / Benois Rousseau
Ob AndréMénard sich damals hätte vorstellen können, wohin das mal führt, was aus seinem Baby, dem „Montreal Jazz Festival“, mal werden würde? Sicher, der Musikliebhaber aus Québec, dem französischsprachigen Teil Kanadas, hatte schon die Vision eines großen Open Air Jazzevents, als er zusammen mit Alain Simard vor genau 40 Jahren etwas startete, aus dem heute das weltgrößte Jazzfestival geworden ist. Aber dass sein Festival jedes Jahr im Sommer ein Millionenpublikum anlockt, das hat Ménard, der sich nun aus dem operativen Geschäft zurückzieht, sicher nicht gedacht.
Ja, es ist groß, das Festival, mit seinen über 500 Konzerten, davon viele draußen und gratis. In einem ganzen Viertel in Downtown Manhattan ist überall Musik. Und in diesem Jahr bot das Festival auch erstmals in einem weiter entlegenen Stadtteil der Millionenmetrope am Sankt-Lorenz-Strom Konzerte an. Man möchte Schritt für Schritt noch mehr von der Stadt in das musikalische Geschehen des Festivals einbinden.
Was sich anhören, das ist die Frage während der elftägigen Jubiläumsausgabe, die erstaunlicherweise trotz rundem Geburtstag nicht mit vielen Superstars protzt. Nein, es sollte keine Retrospektive werden, sondern vor allem ein Blick nach vorne, ein Blick auf junge frische Künstler. Aber natürlich gab es auch dieses Mal Stars, die die sich dieses Label umhängen könnten, auch wenn sie das sicher gar nicht wollen. Sängerin Melody Gardot ist im positiven Sinne gesehen sicher eine Künstlerin in dieser Kategorie. Gleich an zwei Abenden füllte die US-Amerikanerin, die Französisch so gut spricht, als hätte sie nie was anderes gesprochen, die gut 3.000 Sitze im Salle Wilfried-Pelletier. Gardot kam erst nach einem Verkehrsunfall vor 16 Jahren, bei dem sie schwere Kopf- und Wirbelsäulenverletzungen erlitt, und der sie seitdem zum Tragen von abgedunkelten Brillen zwingt, erst so richtig zur Musik und ans Singen. Seitdem schreibt sie wundervolle, toll arrangierte Songs, die sie am Klavier sitzend oder mit der Gitarre umgehängt und von Streichorchester, Solo-Cellist, Gitarrist und Schlagzeuger begleitet vorträgt. Lässig, intim, dabei immer das Seelenzentrum des Zuhörers treffend. Sie kann Jazz, sie kann Chanson. Sie kommuniziert auf eine Art mit dem Publikum, die einfach berührt. Sie macht fast sprachlos. Ein absolutes Erlebnis!
Und was wollte man nach diesem Erlebnis am gleichen Abend noch hören? Erst mal nichts. Erst mal ein wenig übers Festivalgelände streifen, die frische Abendluft genießen. Und dann kommt irgendwann die Lust zurück auf mehr Musik. Denn an diesem Abend spielt ja noch Makaya McCraven, in einem intimen Amphitheater mit gut 400 Plätzen. Der Trommler und Beat-Master aus Chicago, einer der hippen Stimmen des aktuellen Jazz. Einer, der mit hypnotischen, fein konstruierten, mitreißenden Rhythmen und mit HipHop-Attitüde Jazz spielt, dabei eine Band mit Saxofon, E-Gitarre, Bass und Tasteninstrumente um sich schart, die sich von ihm pushen lässt, aber dennoch dabei immer packende melodische Stränge entwickelt.
Mindestens ebenso hip klingt die britische Saxofonistin Nubya Garcia. Eine heiße Kanne spielt die Powerfrau aus London und lässt sich dabei von ihrer Klasseband gerne nach vorne treiben. Spiritueller Jazz, Dub Reggae oder Funk, daraus entsteht bei Garcia eine Mischung, die sich im Live-Spiel immer weiter zu einem Höhepunkt führt. Und das kommt beim Publikum an, das sich immer wieder von der Saxofonistin mitnehmen lässt auf ihre aufgeputschten Reisen. Wem das gefiel der konnte tags darauf Nubya Garcia noch einmal erleben, im Trio des jungen Tubaspielers Theon Cross, ebenfalls aus London. Cross macht aus dem schwerfällig wirkenden Instrument eine leichtfüßige Groovemaschine und verblüfft dabei immer wieder auch mit überraschenden Sounds. Unermüdlich angetrieben von einem knalligen Schlagzeug ist das ein mindestens zum Kopfwippen animierendes Gebräu, was das Trio zu später Abendstunde einem enthusiastischen Publikum servierte.
Montreal bot in diesem Jahr viele Möglichkeiten viele junge neue Stimmen des Jazz zu entdecken. So wie das US-Quintett „Butcher Brown“, das rockige E-Gitarrenriffs mit Funk und Jazz kreuzt und dabei viel Spaß macht, auch wenn sich bei dieser Band noch was entwickeln kann.
Anlässlich des 20.Geburtstages seines bahnbrechenden Albums „Bending New Corners“ hatte der französische Trompeter Erik Truffaz in Montreal die Ehre, dieses mit seiner um Rapper Nya erweiterten Band und seinem atmosphärischen, groovigen HipHop-Jazz auf der größten Open Air-Bühne des Festivals zu spielen. Vor gleich vielen Tausenden von Menschen aufzutreten, das habe er zuvor erst ein weiteres Mal erleben dürfen, auf einem Festival in Korea, erzählte Truffaz am nächsten Tag.
Auch das ist Montreal, das Unerwartete bekommt seinen Platz. Und wer mit offenen Augen durch die Stadt geht, kann abseits des Jazzfestivals ebenfalls Spannendes entdecken. Etwa einen Fadoabend in einem kleinen Saal hinten in einer alten Kirche. Dort führt die in Montreal lebende portugiesische Sängerin Suzi Silva mit einem Programm das sie „Fad´azz“ nennt, einer Fusion von Fado mit Jazz, portugiesisches Liedgut mit ihren Arrangements und begleitet von einer fadountypischen Besetzung mit E-Piano, E-Gitarre, Kontrabass und Schlagwerk zu neuen Ufern. Ein traumhaft schönes Konzert und ein lohnenswertes Fremdgehen von einem ganz besonderen Festival.