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Schlüsselerlebnis bei Steve Coleman

Interview mit Erdal Tosun

Köln, 09.07.2015
TEXT: Uwe Bräutigam | FOTO: Uwe Bräutigam

Erdal Tosun. Altsaxophonist aus Köln, erzählt über seine musikalischen Wurzeln und seinen Werdegang, über seine erste Begegnung mit Steve Colman und seine Vorliebe für ungerade Takte.

Erdal Du bist du in Köln in einer türkischen Familie geboren?

Ja, meine Eltern sind Migranten. Mein Vater ist 1957 als einer der ersten Türken, nach Deutschland gekommen. Meine Mutter kam 1960. Mein Vater arbeitete im Ruhrgebiet und fing 1960 bei Ford in Köln an, zuerst als Dolmetscher und später in der Personalabteilung. Dort war er bis zur Rente beschäftigt.

Mit welcher Musik bist Du groß geworden?

Ich habe einen Bruder, der sechs Jahre älter ist als ich. Als er auf dem Gymnasium war hörte er Santana, Miles Davis und Frank Zappa.

Mein Vater hörte sehr viel französische Chansons, vor allem Tino Rossi und meine Mutter die typische folkloristische Musik aus der Türkei. Daher stammt meine Liebe für 9/8 Takte her, Du musst dir vorstellen, da ist eine türkische Hochzeit mit 500 bis 1000 Gästen und alle tanzen auf Musik im 9/8 Takte, das ist für sie völlig normal.

Wenn Leute sich heute über die “krummen“ Takte in meiner Musik wundern, dann kann ich nur entgegnen, dass diese Takte für mich nicht “krumm“ sondern normal sind.

In meiner frühen Jugend war einer meiner Helden Peter Gabriel, ihn habe ich im Alter von 13 bis 15 Jahren viel gehört, daneben viele New Wave Sachen und U2.

Wie bist du zum Jazz und zum Saxophon gekommen?

Später als mein Bruder in Aachen studierte, habe ich heimlich seine Schallplatten gehört, auch Miles Davis, “The Man With The Horn“. Als mein Bruder das bemerkte, wollte er mein Interesse verstärken und nahm mich zu den Leverkusener Jazztagen mit. Ich war damals 15 oder 16 Jahre alt und es war für mich sehr beeindruckend, Jazzmusiker live zu erleben, das war völlig anders als auf Platte.

In Leverkusen hatte ich mein Schlüsselerlebnis, ich hörte dort Steve Coleman & The Five Elements. Als die Band drei Minuten auf der Bühne war machte es Peng und ich war fast einundeinhalb Stunden wie paralysiert. Für mich war es unfassbar genial, was sie auf der Bühne boten. Ich fühlte mich bei der Musik ganz aufgehoben.

Heute kann ich sagen, dass besonders die komplexe Rhythmik mich beeindruckt hat. Das war kein Swing mehr, sondern Snare Drum and Bass, alles sehr komplex. Das gefällt mir auch an türkischer Musik, wenn sie sehr Rhythmus betont ist.

Nach den Jazztagen kaufte ich mir “On The Edge Of Tomorrow“ von Steve Coleman und hörte die Scheibe unzählige Male. Dann fasste ich den Entschluss mir ein Saxophon zu kaufen. So wollte ich auch spielen.

Bis dahin war ich Keyboarder in der Band meines Bruders, der Gitarre spielt.

Du verbindest in Deiner Musik, Jazz, Hip Hop und türkische Musik.

Ethnische Musik, Lateinamerikanische, Avantgarde, ich kann mich für mich jede Art von Musik begeistern. Ein Freund von mir, der viel in der Welt gereist ist, hat mir aus allen Ländern Kassetten mitgebracht, Sudan, Eritrea, Saudi Arabien, Indien usw. das sind für mich wertvolle Informationen.

Im Grunde geht es mir darum mich weiter zu entwickeln. Ich bin auf der Suche nach eigenständiger neuer Musik.

Wenn ich heute meine Musik beschreiben soll, dann benutze ich die Begriffe, Hip Hop, Jazz und Worldmusic. Diese drei Begriffe decken, wenn auch ungenügend, die meisten Aspekte meiner Musik ab.

Ich habe klassisches Saxophon gelernt und dann Jazz, Bebop usw., das fließt in mein Spiel natürlich ein. Aber auch mein Saxophonspiel, das ich sechs Jahre auf türkischen Hochzeiten praktiziert habe oder meine Begegnung mit äthiopischer Musik ist irgendwo in meiner Musik gegenwärtig. Eine Klassifizierung ist schwierig, ist das Jazz, oder Worldmusic, könnte es auch Neue Musik oder E-Musik sein?

Du hast eben von Deiner Begegnung mit Steve Colemann erzählt, was ist Dir besonders wichtig an der seiner Musik?

Mir geht es nicht darum wie Steve Coleman zu klingen. Wenn ich ein Konzert spiele und hinterher höre: „Cool, hört sich an wie Coleman“. Dann überlege ich mir, was ich anders machen muss, dass ich nicht wie Coleman, sondern wie Erdal Tosun klinge.

M-Base ist auch keine Musikrichtung oder ein bestimmter Sound. Es ist ein Konglomerat von Musikern, Greg Osby, Cassandra Wilson und andere, die die Strukturen der Musik weiterentwickeln wollen. Steve Coleman war für mich der Ausgangspunkt, damals wollte ich natürlich genauso klingen. Aber alle haben mir damals gesagt, spiele erst einmal Charly Parker. Letztendlich habe ich diesen Weg auch beschritten. Ich habe Charly Parker, Maceo Parker, Eric Marienthal usw. gelernt. Dann war ich ein paar Jahre mit Travor Taylor unterwegs und habe Reggae gespielt.

Viele Jahre habe ich Coleman nicht mehr beachtet und bin dann wieder zu ihm zurückgekehrt. Mich hat sein Prinzip der Spiegelung interessiert. Wenn er eine kleine Terz höher spielt, geht er danach eine kleine Terz tiefer. Dieses Konzept habe ich in mein Spiel integriert. Für meine Kollegen im Studio war dies erst mal sehr „strange“. Ich habe lange Pop und Reggae Saxophon gespielt und nun einen ganz neuen Stil entwickelt. In den letzten acht Jahren habe ich mich in dieser Richtung weiterentwickelt.

Back to the roots, back to Steve Coleman?

Ja, ich habe bei Coleman als Jugendlicher begonnen, habe mich dann davon wegbewegt und bin über viele Stationen wieder zu ihm zurückgekehrt.

Vor ein paar Jahren habe ich Colemann auch persönlich getroffen. Im Stadtgarten in Köln habe ich ihn angesprochen und gesagt, dass ich einige Fragen zu seiner Musik habe.

Er hat mir seine Email Kontaktdaten gegeben und dann auch sehr ausführlich meine Fragen beantwortet. Mit den ersten Antworten war ich nicht unbedingt zufrieden, sie schienen mir zu unkonkret. Ich brauchte eine Zeit, seine Ideen zu verstehen. Wenn ich die Antwort heute lese, dann erscheint mir aber alles ganz klar.

Seitdem sind wir in losem Kontakt geblieben, per Mail oder Skype. Coleman ist immer auf der Suche nach neuen Wegen und hat ein unglaublich breites Wissen im Bereich Musik.

Der Austausch ist sehr wichtig für mich. Die Musik von Steve Coleman oder besser sein Musikverständnis war und ist wichtig für mich, aber ich bin dabei meine eigene Musik zu entwickeln und andere Wege zu gehen. Und Coleman ermutigt mich dazu. Neben Steve Coleman sind auch Bob Berg und natürlich auch John Coltrain wichtige Inspirationsquellen.

Wie entwickelst Du neue Musik?

Ich habe verschieden Musikkulturen zusammengefügt und habe polyrhythmische Stücke gemacht. Aber man muss unterscheiden zwischen den Kompositionen für die Band und meiner persönlichen Entwicklung am Saxophon. Am Saxophon versuche ich neue Wege zu gehen. Ich entwickele ganz bestimmte Regeln, nach denen ich dann spiele. Ähnlich wie es in der Zwölf-Ton Musik gemacht wird. Oben habe ich schon die Spiegelung erwähnt, mit der ich arbeite, auch das ist noch nicht ausgereizt, da gibt es noch viele Möglichkeiten. Ich übe jeden Abend diese Sachen oder entwickele neue Strukturen nach denen sich mein Spiel richtet. Dann versuche ich diese Konzepte auf dem Saxophon umzusetzen. Wenn es sich in mein Spiel einbauen lässt, dann stellt sich die Frage über welche Akkordtypen funktioniert das. Das ist dann Fleißarbeit. Das ist ein Prozess, der nie aufhört.

Mit der Band versuche ich ebenfalls einige dieser musikalischen Ideen umzusetzen. So habe ich bei einem Stück zwei unterschiedliche harmonische Gebilde verwendet. Ein Teil der Band spielt die eine Skala und der andere Teil ist in einem anderen harmonischen Raum. Die Skalen haben aber auch eine Schnittmenge. Aber nur der Pianist bedient beide Harmoniewelten. So entsteht eine permanente Spannung, die sich durch das ganze Stück zieht, ohne aufgelöst zu werden. Vordergründig erscheint es manchmal, als ob jemand in der Band falsch spiele, ohne dass man benennen kann, welches Instrument es ist.

Wobei ich nicht wirklich in Skalen denke, sondern eher in Tongruppen, eine Gruppe von drei oder vier Tönen, die zusammengehören. Nicht prinzipiell, sondern je nachdem, wie ich mich ausdrücken möchte.

Du hast auch Musik gemacht, zusammen mit dem Künstler Walter Dahn, der ein Beuys Schüler ist. Kannst Du da etwas dazu sagen?

Wir haben zusammen elektronische Musik gemacht. In den letzten Jahren konnte Dahn aus verschiedenen Gründen keine Musik machen, aber wir haben noch Kontakt. Wenn er etwas machen will, dann kann er sich jederzeit bei mir melden. Wir haben sehr intensiv zusammengearbeitet, an die 40 Tracks haben wir zusammen gemacht. Kein Saxophon, nur elektronische Musik.

Ich habe viel von seiner Arbeitsweise gelernt. Er ist ein Künstler, ein Mann mit Visionen, aber ein Nichtmusiker, das muss man deutlich sagen. Zu beobachten wie er konzeptionell vorgeht, war für mich sehr wichtig. Musik machen, bedeutet nicht nur Songs machen, sondern auch ein übergreifendes Konzept zu entwickeln. Auch für unsere jetzige Band, war das Konzeptionelle sehr wichtig. So lerne ich nicht nur von Musikern, sondern auch von anderen Künstlern.

Ich habe Dich mit Deiner Band Metaphysical gehört. Erzähl uns bitte etwas über die Band.

Alle Musiker der Band gehen mit viel Herzblut und Spaß an die Musik. Dafür bin ich den Jungs sehr dankbar. Wir haben zurzeit zwei Rapper. Aber die Band kann auch größer werden, ich bin auch offen für Gesang oder einen zweiten Bläser. In meiner früheren Band Shakkah hatte ich auch einen Scratcher.

Ich hatte Anfang der 90er eine Hip Hop Band mit drei Rappern. Wir haben 1995 auch ein Album gemacht und ich war der Produzent, habe mich um Promotion gekümmert, Auftritte organisiert, einfach alles gemacht.

In Köln waren wir relativ erfolgreich. Wir waren ausgesprochen experimentell und machten deutschsprachigen Hip Hop. Entweder als Sample oder von mir eingespielt haben wir Musik aus der ganzen Welt eingewoben: afrikanische Musik, eine Äthiopierin und eine Spanierin haben gesungen, türkische Saz, arabische Streicher, türkische Ney Flöte, die ich auch spiele, Reggae Elemente und vieles mehr. Die drei Rapper haben ihre Sache auch sehr gut gemacht, aber die ganze Arbeit lag bei mir. Die typischern Fehler, die am Anfang passieren, die Aufgaben wurden nicht geklärt und verteilt, das führt zu Spannungen und das Projekt hat sich dann aufgelöst. Der Bandname war damit auch verloren. Deshalb ist in meinem jetzigen Projekt mein Name enthalten, so kann ich es weiterführen, auch wenn sich personell etwas verändern sollte.

Was sind Deine nächsten Pläne?

Das wichtigste ist unser Album, das in der zweiten Jahreshälfte herauskommen soll. Fast alle Tracks sind so weit eingespielt und gemischt. Es fehlen nur noch zwei Stücke. Aber ich nehme mir immer viel Zeit, ich hasse schludrige oberflächliche Produktionen.

Mit einer CD am Start, werden wir auch mehr live spielen. Für die nächste Zeit stehen Auftritte beim Street Live Festival in Leverkusen Wiesdorf am 8.8., bei der Blauen Nacht in Nippes am 5.9. und ein Clubkonzert im Heimathirsch in Köln an. Wir wollen auch zukünftig vermehrt auf Festivals zu spielen.

www.erdaltosun.de

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