Nach der „Odyssee“ nun die Sieben Todsünden
Heiner Schmitz
TEXT: Dietrich Schlegel | FOTO: Fabian Stürtz
Um neue Ideen für ungewöhnliche Projekte ist der Komponist und Saxophonist Heiner Schmitz nie verlegen. Hatte er sich vor vier Jahren mit der „Odyssee“ das älteste Werk der abendländischen Literatur ausgesucht, um es in die Klangwelt einer modernen Jazz Big Band einzubetten, dem Cologne Contemporary Jazz Orchestra, und mit „The Voice“ Christian Brückner als Sprecher (s. JazzZeitung 2011/03 und 2012/04), so wagte er sich jetzt an die klassische Vorlage der Sieben Todsünden („Sins & Blessings“). Wem dabei Brecht/Weil oder gar mittelalterliche Mysterienspiele einfallen, liegt falsch, sowohl bei der inhaltlichen als auch der musikalischen Konzeption.
Zwar nutzten auch Schmitz und sein Autor Peter Schanz den religiös ritualisierten Sündenkatalog – Hochmut, Habgier, Völlerei, Neid, Zorn, Trägheit, Wollust – als Basis. Aber sie erweiterten und relativierten diese Untugenden bis hin zur Umkehrung ins Positive, stellten die Sünden wortwörtlich in Frage, formulierten provozierende, hintergründige, ironische Fragen an die Zuhörer, die während der vier Konzerte im Januar nachdenklich schweigend, verlegen kichernd oder befreit lachend reagierten. Was trifft wohl auf mich zu? Da hieß es zum Beispiel: „Kann es Wachstum ohne Habgier geben?“ Oder: „Schon mal bei der Steuer das Arbeitszimmer vergrößert und den Arbeitsweg verlängert? Wie viele Schäfchen darf man ungeahndet ins Trockene bringen? Warum ist Massentierhaltung keine Todsünde? Gibt es Selbstverwirklichung ohne Selbstüberschätzung? Angenommen, Sie wären einmal Gott – würden Sie dann auch sofort andere Götter.
Wie ging Schmitz beim Komponieren vor? Nun zur Musik dieses Projekts, das in keine der üblichen Kategorien passt, am ehesten in das einer Suite, in der sich jedoch nicht nur Sätze aneinanderreihten, sondern mit den vorgetragenen Fragen abwechselten. Die einzelnen, den Sünden oder Segnungen zugeordneten Musikstücke mussten sowohl in einer bestimmten Weise dem jeweiligen Text entsprechen als auch eigenständig für sich stehen können. Wie ging Schmitz beim Komponieren vor?
„Ich habe versucht, meine Sicht der jeweiligen Sünde und ihrer verwandten Begriffe musikalisch zu interpretieren. Was stelle ich mir unter Stolz vor. Ist er schönes Gefühl? Wann übersteigert er sich zum Hochmut oder Übermut? Oder am Beispiel Habgier und Geiz. Das habe ich positiver aufgefasst und mir dieses Stück unter die imaginäre Überschrift ‚Sparsamkeit‘, also eines positiven Begriffs, gestellt, die Klangfarbe entsprechend heller gestaltet als sie für Habgier geklungen hätte. Die ‚Wollust‘ konnte sogar etwas lieblich, fast süßlich, jedenfalls sehr melodiös beginnen, um dann in einen treibenden Groove überzugehen. Zorn ließ sich ziemlich eindeutig interpretieren, chaotisch und laut. Oder Neid, der doch stets verbunden ist mit Eifersucht und Missgunst. Diese negative Gefühlslage habe ich versucht mit dissonanten Klängen darzustellen, um dann aber als Ausweg aus diesem Dilemma musikalisch zu vermitteln, dass Neid auch ein Antrieb für eigene Kreativität sein könnte. Man kann sich vom Neid dadurch befreien, dass man etwas Eigenes schafft. In diesem Prozess nimmt dann die Musik langsam an Fahrt auf, entwickelt Energie, wird zum Befreiungsschlag mit der ganzen Power, die ich aus einer Band herausholen kann.“
Instrumentierung und Besetzung
Damit kommen wir zur Instrumentierung und der Besetzung der "Symprophonicum Schmitz“ genannten Formation, einer Jazzband plus Streichquartett, eine Lösung, die auch Sebastian Sternal mit seiner „Sternal Symphonic Society“ Vol. 1 und 2 gewählt hat (siehe „Silberhorn“ Nr. 1/2015). Schmitz nutzte diese Kombination erstmals, um seine kompositorischen Vorstellungen, die sowohl die Elemente des Jazz als auch die der zeitgenössischen Klassik verbinden, besser realisieren zu können. Es ging ihm dabei nicht um den inzwischen eher abgegriffenen Terminus „Crossover“, nicht um die Überschreitung von Genre-Grenzen, denn für ihn sind sie längst überwunden und verschwunden. Schmitz lebt im Jazz ebenso wie in der Klassik, lässt sich – so auch in diesem Projekt – von Komponisten wie Ravel, Schönberg, Schostakowitsch inspirieren, ohne sie zu zitieren, geschweige denn zu imitieren. Es geht ihm um den Sound, die klanglichen Möglichkeiten, die musikalische Entsprechung der mit dem Generalthema verbundenen Gedanken und Reflexionen.
„Sins & Blessings“ wurde in der zweiten Januarhälfte viermal aufgeführt, im Alten Pfandhaus in Köln, im Blue Note in Osnabrück, in der Düsseldorfer Jazzschmiede und zuletzt in der Musikschule in Erftstadt bei Köln, wo Heiner Schmitz mit seiner Familie lebt. Alle vier Konzerte wurden mit gorßer Aufgeschlossenheit und starkem Beifall aufgenommen. Das klassische besetzte Streichquartett wurde zumeist wie selbstverständlich mit der Jazzband verschmolzen, allerdings elektrisch verstärkt, manchmal auch gesondert gefeatured, zeitweise auch durch den Kontrabass der Band zum Quintett oder mit Bass und Piano zum Sextett erweitert. Das ergab äußerst reizvolle Klangbilder, zumal die Streicher mit Lola Rubio und Kelly Mitropoulou (1. Und 2. Violine), Martin Hauser (Bratsche) und David Schütte (Cello) sich bewundernswert auf dem doch eher fremden Terrain bewegten.
Kölner Szene
Auch für die Jazzcombo hatte Schmitz erstklassige Kollegen aus der Kölner Szene gewinnen können, denn er brauchte sie nicht nur zum fehlerlosen Spielen seiner zum Teil sehr komplexen Notate, sondern auch, um den frei gelassenen Raum mit fesselnden Soli zu füllen. Für beides boten Gewähr die Bläser Frederik Köster (tp), Stefan Karl Schmid (ss, ts), Holger Werner (bcl), Tobias Wember (tb) ebenso wie Dierk Peters (vib), Simon Seidl (p), Robert Landfermann (b) und Jens Düppe (dr). Eine wichtige Rolle kam der jungen deutsch-afghanischen Sängerin Simin Tander zu, die weniger textlich denn vocalese eingesetzt wurde. Als dramatisch begabter Sprecher der manchmal schon ins Kabarettistisch reichende Fragen begeisterte der junge Schauspieler und Hörspielsprecher Franz Dinda.
Unterdessen wurde „Sins & Blessings“ im Kammermusiksaal des Deutschlandfunks in Köln aufgenommen, als Vorbereitung für eine CD, allerdings ohne die Texte, die den Rahmen gesprengt hätten. Heiner Schmitz war sich von vornherein im Klaren darüber, dass die einzelnen Sätze der Suite ihren Titeln, also den einzelnen Todsünden, auch ohne stützende Texte entsprechen müssten. Im Booklet einer CD sollten dennoch den Hörern ausreichende Erläuterungen angeboten werden.
Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung durch www.jazzzeitung.de