Max-Planck-Institut erforscht Disliked Music
“Like static noise in a beautiful landscape”
TEXT: Heinz Schlinkert | FOTO: Max-Planck-Institut für empirische Ästhetik
Techno – ein Unding für Jazzfans? Aber wie geht man damit um, wenn eine Band wie JAZZRAUSCH beide Genres zusammenbringt? Lehnt man das rundweg ab oder lässt man sich darauf ein, genauer hinzuhören, etwas Neues zu entdecken, zu respektieren, vielleicht sogar zu mögen? Und warum mag man eigentlich Techno nicht? Im Max-Planck-Institut will man das herausfinden und erforscht disliked music.
- Wer mag warum welche Musik .. nicht?
Hörgewohnheiten und -vorlieben werden schon seit längerer Zeit untersucht. Vor einiger Zeit berichteten wir in einer News über eine aktuelle Umfrage zu Hörgewohnheiten der Deutschen. Für Jazz und Blues hatten sich 15,2 % ausgesprochen. Denn Musikgeschmack und Meinungen über Musik sind wichtig, nicht nur als Konsumobjekt. Oft dient die Musik zur Konstruktion und Bestätigung der eigenen Identität und signalisiert die Zugehörigkeit zu einer Gruppe, nicht nur bei Jugendlichen. Doch Vorlieben zu Musikstilen sind relativ leicht zu erfragen. Am Max-Planck-Institut für empirische Ästhetik (MPIEA) in Frankfurt am Main möchte man aber herausfinden, warum jemand eine Musik nicht mag. Schon 2019 haben Taren-Ida Ackermann und Julia Merrill erste Untersuchungen durchgeführt. Im letzten Februar wurde die Ergebnisse einer neuen Studie im Open Access Fachmagazin PLOS ONE unter dem Titel 'Rationales and functions of disliked music: An in-depth interview study' veröffentlicht.
- Studie 2019
Bei der ersten Befragung kamen quantitative und qualitative Forschungsmethoden wie Interviews, Fragebögen und Peripherphysiologie zum Einsatz. Die Teilnehmerinnen bezogen sich bei ihren Antworten auf Stile, Interpreten und Singstimmen. Wissenschaftlerinnen haben daraus drei Begründungsstrategien für die Ablehnung von Musik herausgefiltert:
- Objektbezogene Gründe: hier geht es um die Musik selbst (Komposition, Text)
- Subjektbezogene Gründe: emotionale und körperliche Wirkungen werden hier thematisiert.
- Soziale Gründe: der Musikgeschmack des eigenen sozialen Umfelds spielt hier eine wichtige Rolle, u. U. aber auch der anderer Gruppen, von denen man sich bewusst abgrenzen will.
Grafik A: Gründe für die Ablehnung bestimmter Musikstile. Ergebnisse einer linearen Diskriminanzanalyse
Die Studie hat gezeigt, dass musikbezogene sowie emotionale und körperliche Gründe eine viel wichtigere Rolle spielen als man bisher dachte. Disliked Music kann zu einem Zustand allgemeiner Anspannung führen. Das hängt oft mit der Lautstärke der Musik zusammen und kann Kopf- oder Ohrenschmerzen und Übelkeit bewirken. Auch kann die 'fremde' Musik als Diskrepanz zum eigenen Selbstbild erfahren werden.
- Modell des Musikgeschmacks
Ein weiteres Ergebnis des Forschungsprojekts ist das folgende Modell des Musikgeschmacks, das die Bewertungs- mit der Verhaltensdimension verbindet, sowohl in positiver wie in negativer Ausprägung :
Grafik B: Modell der Dimensionen des Musikgeschmacks einschließlich abgelehnter Musik mit der Wertungsdimension auf der x-Achse und dem Verhalten auf der y-Achse.
Ganz konkret: Ein Jazzfan könnte Jazz 'mögen' und (als 'Präferenz') hören. Wenn er den klassischen Swing zu oft gehört ('überhört') hat, könnte er diese 'alte Vorliebe' 'vermeiden', aber Jazz weiterhin 'mögen'. Reinen Techno würde er zwar weiterhin 'ablehnen' und 'vermeiden' ('Disferenz'), sich ihm aber in der Kombination mit Jazz (wie bei JAZZRAUSCH) 'situationsabhängig zuwenden'. Er würde dann eine neue, vielleicht bereichernde Erfahrung machen, wobei die ursprünglichen Sym- bzw. Antipathien fortbestehen können.
Dieses Modell ist sehr interessant, weil es über das simple Schwarz-Weiß-Schema (Mag ich - Mag ich nicht) hinausgeht. Es ermöglicht mehr Differenzierung, es hat auch eine indirekte zeitliche Dimension und kann deshalb die Weiterentwicklung eines Musikgeschmacks erklären.
- Studie 2022
Bei der neuen Studie wollte man mit Tiefeninterviews erst einmal genauer herausfinden, welche Arten von Musik nicht gemocht werden. Weitere Themen waren Erklärungsstrategien, Wirkungen und der Zusammenhang zwischen musikalischen Abneigungen und dem Selbstbild. Auch die Intensität der Abneigung und deren Funktion wurden untersucht.
Die Studie enthält eine Unmenge von Einzelergebnissen, die man in dem oben genannten Text nachlesen kann. Dort erfährt man u.a., dass der Schlager das unbeliebteste Genre ist. Im Genre Rockmusik findet man dagegen die unbeliebtesten Künstler, in Pop und Klassik die unbeliebtesten Stücke.
Die stärkste Form musikalischer Abneigung besteht darin, einem Stück abzusprechen, dass es es sich dabei um Musik handelt. Texte sind auch wichtig und werden oft als „klischeehaft“ oder „einfältig“ empfunden, besonders im Schlager. Fundamental ist durchgängig die Erfahrung, der disliked music ausgeliefert zu sein, denn: sie stört. "Like static noise in a beautiful landscape” wurde darum sehr treffend eine der Studien benannt.
Das wohl wichtigste Ergebnis besteht in der Einsicht, dass musikalische Abneigungen zwar ähnliche Funktionen haben wie gemochte Musik, dass die Begründungen für das Nichtmögen aber viel komplexer sind. Das liegt vor allem daran, dass sie sich auf sehr spezifische Variablen beziehen: den Inhalt, die hervorgerufenen Gefühle (oder deren Fehlen) und die ästhetischen Erwartungen. Im Fazit hört sich das dann so an:
„Die aktuelle Studie zeigte, wie viele unterschiedliche ästhetische Kriterien der alltäglichen Bewertung von Musik zugrunde liegen. Daher kann die Fokussierung der Musikgeschmacksforschung ausschließlich auf die musikalischen Vorlieben der Hörer diese Vielfalt nicht erklären.“
- Ausblick
Was folgt nun daraus? Man weiß, dass man nichts weiß? Wenn das Nichtmögen von so vielen Faktoren abhängt und die Wirkungszusammenhänge so komplex sind, kann man jedenfalls nicht den umgekehrten Weg gehen und herausfinden, welche Gründe für die Ablehnung einer Musikrichtung relevant sind und ob es z. B. eine Art Profil eines typischen 'Nicht-Jazz-Hörers' gibt. Auch die althergebrachten Hörertypologien sind damit hinfällig, zumindest wenn man sie auf Personen bezieht. Selbst Kaufhausmusik ist dann nicht zielführend und auch Entspannungsmusik - das kenne ich aus eigener Erfahrung - kann manchmal ganz schön nerven.
Was bleibt? Vielleicht die alte Einsicht, dass auch Musik eben nur 'Geschmackssache' ist und es keine Kausalkette von der Persönlichkeit zu deren Musikvorliebe gibt? Oder ein Aufruf für mehr Toleranz gegenüber Anhängern anderer Genres und der 'Luxus', sich z. B. in 'schwachen Stunden' auch mal einen Schlager zu gönnen? Doch jeder hat da seine Grenzen, bei mir jedenfalls ist spätestens bei Helene Fischer die Grenze erreicht.
Publikationen
Ackermann, T. (2019). Disliked music: Merkmale, Gründe und Funktionen abgelehnter Musik (PhD Thesis, kassel university press, Kassel, 2019)
Die 303 Seiten starke Studie kann man hier kostenlos herunterladen
Merrill, J. (2019). Stimmen – schön schrecklich oder schrecklich schön?: Beschreibung, Bewertung und Wirkung des vokalen Ausdrucks in der Musik. Kassel: Kassel University Press
Merrill, J., & Ackermann, T. (2020). “Like static noise in a beautiful landscape”: A mixed-methods approach to rationales and features of disliked voices in popular music (Advance online publication). Psychology of Aesthetics, Creativity, and the Arts
Abstract auf deutsch https://psycnet.apa.org/record/2020-96319-001
Ackermann, T.-I., Merrill, J. (2022). Rationales and functions of disliked music: An in-depth interview study. PLOS ONE, 17(2): e0263384