Kultur vergessen?

Der kleine Dicke auf der Turnhallenbank

Gelsenkirchen, 05.05.2020
TEXT: Bernd Zimmermann | 

Es kann nur eine Erklärung geben: Die Politiker haben komplett den Überblick verloren. Während eine Reihe für nicht möglich gehaltene Lockerungen erfolgt sind, kommen die Kulturschaffenden bei den politischen Corona-Lockerungsübungen nicht vor. Man kommt sich mittlerweile vor wie der dicke, tollpatschige Junge der im Sportunterricht diskrimiert wird, weil ihn keiner in seiner Mannschaft mitspielen lassen möchte.

Hallooooo!!! möchte man rufen. Es gibt neben sogenannten "kulturellen" Großveranstaltungen noch eine Menge von kleinen Veranstaltungen, die man mit viel Kreativität wieder ins öffentliche Leben zurückholen könnte. Infektionsschutz-Maßnahmen, Ausweichen in größere Spielorte, verringerte Publikumszahlen, veränderte Formate - alles ist möglich und wird hier bereits gedacht.

Hier verdienen die freien Künstler ihren Lebensunterhalt. Wenn Politiker also immer noch nicht, nicht einmal zeitlich begrenzt, ein bedingungsloses Grundeinkommen (was früher oder später sowieso kommen wird), einführen wollen, dann sollte doch wenigstens den vielen kleinen Veranstaltern und Künstlern ihre Erwerbsmöglichkeit zurückgegeben werden.

Aber nun ist klar: Es wird mit zweierlei Maß gemessen.

Erinnern wir uns. Zu Beginn der Coronainfektionen waren es die Großveranstaltungen über 999 Zuschauern, bereits zwei Tage später alle. Schon zu diesem Zeitpunkt eine misslungene, gedankenlose Differenzierung. Was ist groß, was ist klein? Für Jazzveranstalter sind Konzerte mit 1000 Zuschauern bereits "Groß"veranstaltungen. Für Karnevalsvereine, Fußballspiele, etc. kleine.

Bei der Öffnung der Gastronomie spielt das Thema Alkohol als Gefahr für ein enthemmtes Infektionsverhalten eine große Rolle. Man denke nur an die vielen Restaurantbesucher, die sich während des Essens sinnlos besaufen. Auch hier gilt: Bei Karnevalssitzungen und Fußballspielen mögen solche Gedanken berechtigt sein, aber in einem Speiserestaurant? Und erst recht bei Jazz- oder Klassikkonzerten, bei kleineren Theateraufführungen?

In Supermärkten, Baumärkten, auf Straßen, Plätzen, in Parks und in Möbelhäusern mit "20 Prozent auf Alles"-Angeboten zur Wiedereröffnung, werden die Abstandsregeln gnadenlos verletzt. Aber in bestuhlten Jazz- oder Klassikkonzerten, in denen das Publikum andächtig der dargebotenen Kunst lauscht? Und wo ist da der Unterschied zu kirchlichen Messen?

Was soll das? In welche Restaurants gehen die Politiker, welche Kulturveranstaltungen besuchen sie, dass sie den kulturaffinen Menschen Disziplinlosigkeit und Verantwortungslosigkeit unterstellen? Glauben sie allen Ernstes, dass hier überhaupt Regeln aufgestellt werden müssten, um eine Infektionsgefahr einzudämmen? Oder befürchten sie, wenn kleinere Veranstalter die Möglichkeit bekommen, wieder aktiv zu sein, dass andere Kulturschaffende schreien, dass sie das auch wollen?

Kulturschaffende sind verantwortungsvolle Menschen mit einem Intellekt, der sie dazu befähigt, selbstverantwortlich entscheiden zu können. Oder warum hört man die Kulturschaffenden nicht wie andere Branchen lauthals nach Lockerungen schreien? Warum haben viele von ihnen ihre Veranstaltungen, vielleicht letztendlich viel zu früh abgesagt? Aus Verantwortungsbewusstsein und weil man den Politikern vertraut hat, fair behandelt zu werden.

Die Kulturschaffenden jetzt aus reiner Unachtsamkeit und Gedankenlosigkeit dafür zu bestrafen ist fast noch schlimmer, als sie ohne ausreichende Nothilfe im Regen stehen zu lassen oder zu Hartz 4-Empfängern degradieren zu wollen. Das haben gerade die Künstler*innen und Veranstalter nicht verdient. Und das Publikum erst recht nicht.

Und noch was: Was glauben die Politiker eigentlich, wie lange sie sich ausschließlich mit dem Thema "Corona" beschäftigen wollen. Wenn die Gesellschaft noch lange mit dem Virus leben muss, ist es jetzt an der Zeit, dass alle lernen damit umzugehen.

Eines ist aber jetzt schon klar. Das Vertrauen der Kulturschaffenden in die Politik ist massiv beschädigt. So beschädigt, dass sie in Zukunft bei ihren Festreden nicht mehr über Kultur als wichtige gesellschaftliche Aufgabe, oder neu-deutsch systemrelevant schwadronieren brauchen. Da muss zukünftig Vieles gut gemacht werden, bevor ihnen das noch jemand abnimmt.

Suche