Kultur darf nicht zum zweiten Mal Opfer werden
Gespräch mit Günter Reiners
TEXT: Dr. Michael Vogt | FOTO: Jazzclub Hürth
Seit einem Jahr hat Corona den Globus fest im Griff. Das neuartige Virus hat global Staaten und Gesellschaften vor ernste Bewährungsproben gestellt. Während in der Dritten Welt Menschen aufgrund der Krise um ihr nacktes Überleben kämpfen müssen, kommt Europa vergleichsweise gut durch die Pandemie. Dennoch sind die Folgen auch hierzulande schwerwiegend. Gerade im Kultursektor, der im Rahmen der Maßnahmen der Regierung faktisch durch ein Berufsverbot betroffen ist, wirkt sich Corona existenzbedrohend aus. Auch in Nordrhein-Westfalen leiden Künstlerinnen, Künstler und Veranstalter. Vor allem stellt sich angesichts der aktuellen Lage die Frage, wie die Zukunft der Kultur in unserem Bundesland aussehen wird. Im Gespräch macht sich Günter Reiners, Mitglied des nrwjazz-Vorstandes, Gedanken über die Situation und stellt Forderungen.
Günter Reiners, trotz guter Hygiene- und Sicherheitskonzepte mussten auch in Nordrhein-Westfalen die Veranstalter wieder ihre Türen schließen. Künstlerinnen und Künstler dürfen faktisch nicht mehr öffentlich auftreten. Wie sehen Sie die Situation?
Das ist eine Frage, die nicht mit einem Satz zu beantworten ist. Global befinden wir uns in einer Situation, die zumindest unsere Generation in dieser Form nicht kennt. Einfache Antworten kann es angesichts der gesundheitlichen Bedrohungslage nicht geben, die Politik ist gefordert zu handeln und es gibt – das zeichnet sich immer mehr ab – keine Patentlösung. Wenn man sich in der Welt ein wenig umsieht, erkennt man schnell, dass alle Wege ihre Vor- und Nachteile haben. Nicht alle vertragen sich mit den Werten unserer Demokratie und der Wahrung der Menschenrechte, die für uns in der Europäischen Union Richtschnur unseres Handels sein sollten. Erfreulicherweise machen unsere Politiker in dieser Frage einen guten Job und handeln, davon bin ich überzeug, nach bestem Wissen und Gewissen. Nichtsdestotrotz müssen alle getroffenen Maßnahmen, immer auf die Frage hin überprüft werden, inwieweit der Schaden, den sie anrichten, durch den Nutzen aufgewogen wird. Und nun komme ich zum Punkt: Im Falle der Kulturschaffenden glaube ich, dass man sich seitens der Politik intensiver mit den Bedingungen und Möglichkeiten der Kultur hätte auseinandersetzen müssen.
Was bedeutet das konkret?
Nun, man hätte von Anfang an Menschen aus der Kultur stärker in die Überlegungen mit einbeziehen und zur Kenntnis nehmen müssen, was an hervorragenden Konzepten von Veranstaltern und Künstlern entwickelt wurde. Ich denke da vor allem an den Sommer, in dem viele alternative Formate aus dem Boden gestampft wurden, um Kultur auch und gerade in der Krise zu ermöglichen. Wenn Sie erlauben, möchte ich mit einem Beispiel ganz konkret werden: Das Hürther Bürgerhaus hat unter der Regie von Kati Ulrich, der Leiterin des Kulturamtes in Hürth, ein hervorragendes Format aufgestellt. Im Sommer, als die Infektionszahlen ja vergleichsweise niedrig waren, fanden vor dem Bürgerhaus in einem eigens aufgebauten Kultur-Biergarten regelmäßig Freiluftkonzerte statt, die unter strengsten Hygienemaßnahmen einen gefahrlosen Musikgenuss ermöglichten. In enger Kooperation mit dem Jazzclub Hürth hat es in dieser Reihe dann auch Jazz-Highlights gegeben. In der kälteren Jahreszeit verlegte sich das Angebot als reines Streaming-Format ins Internet. So hat das Bürgerhaus nicht nur dafür gesorgt, dass die Kultur im Lockdown nicht vollkommen zum Schweigen verurteilt wurde, sondern auch dafür, dass Künstler Auftritts- und damit Verdienstmöglichkeiten erhielten. Das ist vorbildhaftes Handeln angesichts der besonderen Umstände. Hier wurden die Ärmel hochgekrempelt und mit Engagement und Herzblut Ideen umgesetzt. Ich wünschte, das wäre auch im größeren Umfang geschehen, anstatt überall in die Verhinderungsdebatte mit einzustimmen.
Dabei heißt es von Politikern oft vollmundig, Kultur sei systemrelevant. Beweist die Krise das Gegenteil?
Kultur wird sicher nicht so sehr wertgeschätzt, wie sie es verdient. Es gibt viele Lippenbekenntnisse zur Bedeutung von Kultur. Kultur ist aber auch als erste von Kürzungen betroffen. Und nun könnte sich die Situation noch zuspitzen. Durch die Corona-Krise müssen die Kommunen in den kommenden Monaten mit teils großen finanziellen Einbußen rechnen. Da ist die Versuchung natürlich groß, den Rotstift überall dort anzusetzen, wo es geht. Und da muss man natürlich darauf achtgeben, dass Kultur nun nicht zum zweiten Mal Opfer wird. Nach dem Wegbruch der Verdienstmöglichkeiten darf Kultur jetzt nicht erneut bestraft werden. Dabei heißt es, Künstler würden großzügig durch Soforthilfen unterstützt. Von ihnen hört man aber oft, dass die Soforthilfen in vielen Fällen gar nicht ankommen, weil die Arbeitsbedingungen der freischaffenden Künstler gar nicht von der Politik in den Blick genommen werden. In der Tat höre ich auch im Gespräch mit vielen Künstlerinnen und Künstlern, dass das Geld nicht in dem Maße ankommt, wie es in der Öffentlichkeit wahrgenommen wird. Die unkomplizierte Überbrückung gibt es offenbar nicht. Bis zu einem gewissen Grad ist das auch nachvollziehbar. Schnell wollte die Politik auf die Notlage reagieren und hat mit der heißen Nadel Konzepte gestrickt. Darauf darf man sich jetzt aber nicht ausruhen. Vielmehr muss im intensiven Austausch mit den Betroffenen geschaut werden, dass die Maßnahmen auf den Einzelfall heruntergebrochen werden, sodass man große Gruppen nicht vollkommen aus den Augen verliert. Im politischen Prozess gibt es für solche Fälle meist lange Phasen, in denen nachgebessert und justiert wird. Es ist aber notwendig, dass auf politischer Ebene verstanden wird, dass wir diese Zeit nun nicht haben. Menschen sind jetzt in ihrer Existenz bedroht und brauchen entsprechend sofort Hilfe!
Fortschritte in der Impftechnologie machen zumindest Hoffnung auf eine langfristige Entspannung der Lage. Was meinen Sie, werden wir in Post-Corona-Zeiten erleben, dass alles zum Alten zurückkehrt oder wird es Veränderungen geben, die sich nicht mehr umkehren lassen?
Es wird ganz ohne Zweifel Veranstalter, Bühnen und Initiativen geben, die diese Krise nicht überstehen, weil sich die Ausfälle zu lange hinziehen und der finanzielle Schaden so groß wird, dass man ihn nicht mehr auffangen kann. Manche Kulturstätte wird ihre Türen nicht mehr öffnen können. Da sind die Kommunen wieder gefragt. Hier müsste schnell und fallbezogen geholfen werden. Leider fällt Kultur unter die sogenannten freiwilligen Leistungen. Der Begriff freiwillig gibt da im Grunde ja schon eine fatale Richtung vor. Umso wichtiger ist es, in dieser Situation vehement darauf zu drängen, dass Kultur nicht dazu genutzt werden darf, akute Finanzlöcher zu stopfen. Auch wenn der Eindruck in der Öffentlichkeit anders ist, könnte man mit dem Einsparen von Kultur die Finanzprobleme der Kommunen gar nicht lösen. Der Kultur-Etat ist insgesamt viel zu klein. Selbst wenn man von heute auf morgen alles einstampfen würde, hätte man eigentlich nichts gewonnen, aber unendlich viel verloren. Kultur ist nämlich nicht nur sozial und gesellschaftlich ein Wert, der auch zur Gesundheit und Lebensqualität unserer Gesellschaft beiträgt. Kultur bringt als weicher Standortfaktor auch harte, wirtschaftliche Vorteile in eine Region. Das wird leider zu oft vergessen. Unternehmen lassen sich schließlich nicht in irgendwelchen am Reißbrett geplanten Vakuen nieder. Sie bringen Menschen in eine Stadt, die nach der Arbeit auch etwas unternehmen und sich mit ihrem Wohnort identifizieren wollen. Das muss insgesamt in der Politik noch mehr verinnerlicht werden.
Weicher Standortfaktor ist ein vielzitierter Begriff. Mit weich assoziiert man gemeinhin auch Worte wie verletzlich und schwach. Ist Kultur in Nordrhein-Westfalen in einer Position der Schwäche?
In Nordrhein-Westfalen muss man der Landesregierung immerhin zugutehalten, dass sie unter Armin Laschet den Kulturetat erhöht hat...… und profitiertauch der Jazz davon?Das ist das große Problem. Anders als die etablierten Kultursparten, die man der klassischen Hochkultur zurechnet, muss der Jazz gewissermaßen immer um jede Zuwendung betteln. Der Jazz hat einfach nicht die Lobby, die andere haben. Ich möchte hier ausdrücklich klarstellen, dass es mir nicht darum geht, Kultursparten gegeneinander auszuspielen. Ich will vielmehr sagen, dass der Jazz mehr Aufmerksamkeit und auch mehr Unterstützung verdient hätte. Jazz floriert ja gerade auch in Nischen, findet in Kellern oder kleineren Häusern statt. Dafür gibt es aber auch eine bedeutende und vielfältige Szene, die es verdient, genauer unter die Lupe genommen und ins Rampenlicht gestellt zu werden. Es geht auch da gerade darum, die Vielfalt zu erhalten und Experimentfelder zu ermöglichen, damit sich etwas entwickelt...
…, anstatt das Geld nur in die großen Formate und Festivals zu pumpen?
Darauf müssen Politiker und Zuschussgeber immer wieder hingewiesen werden. Es wird an vielen Stellen zu sehr in etablierten Rastern gedacht. Neben den großen Formaten in Leverkusen, Bonn und Münster gibt es in Nordrhein-Westfalen eben eine bunte Landschaft an Häusern und kleinen Initiativen, die nicht genügend im Blick stehen. Das führt dann bei uns auch zu der oft beklagten Situation: Wir verfügen inzwischen dank politischer Förderung zwar über eine hervorragende Ausbildung junger Jazzmusiker. Man muss sich aber die Frage stellen, wo denn bitte diese tollen jungen Frauen und Männer nach ihrer Ausbildung auftreten sollen, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Viele Musiker können allein von ihren Auftritten nicht leben. Und das ist ein Unding. Deswegen fordert die Jazz-Union ja auch faire Bezahlung von Jazzmusikern.
Was sollte in diesem Zusammenhang konkret in Nordrhein-Westfalen verbessert werden und wie kann nrwjazz dabei eine Rolle spielen?
In unserem Bundesland ist die Vernetzung der Jazzaktivitäten in den fünf Regierungsbezirken in jedem Fall noch ausbaufähig. Es gibt beispielsweise im Regierungsbezirk Detmold sehr guten Jazz, von dem man aber hier bei uns im Regierungsbezirk Köln kaum etwas mitbekommt. Das ist nicht nur für das Publikum schade. Es wäre auch für die Veranstalter ein wichtiger Schritt, sich untereinander stärker auszutauschen. Dafür bietet nrwjazz eine hervorragende Plattform, die wirklich jeder in NRW nutzen sollte, um Synergieeffekte zu schaffen.
Wie funktioniert das konkret?
Lassen Sie mich Ihnen ein weiteres Beispiel geben: in dieser Saison kommt die herausragende israelische Band Shalosh zu uns nach Hürth. Wenn so eine tolle Formation sich schon in Nordrhein-Westfalen befindet, ist das doch eine fantastische Möglichkeit, um noch mehr Auftritte in unserem Bundesland zu bündeln. Wenn alle Veranstalter bei nrwjazz vernetzt wären, würde das auch Agenturen die Arbeit erleichtern und so dazu beitragen, Konzerttourneen zu optimieren und mehr Menschen zu erreichen. So könnte man Nordrhein-Westfalen als ein großes Ganzes sehen und die Bedingungen für den Jazz vor Ort verbessern. Deswegen ist es umso wichtiger, Teil von nrwjazz zu werden: Musiker, Veranstalter, alle sollten Mitglied werden und den Vorteil sehen, den unsere Initiative bietet. Gerade die Webseite ist durch ihren großartigen Konzertkalender ein attraktives Instrument, das aber noch viel mehr kann, als nur auf Termine hinzuweisen. Wenn man einmal auf der Webseite ist, dann sieht man da auch die vielen Rezensionen, bekommt Hinweise auf Neuigkeiten und eben eine Möglichkeit, viel mehr über den Jazz in NRW zu erfahren. Das funktioniert aber auch nur, wenn möglichst viele mitmachen. Das ist gerade jetzt in der Krise wichtiger denn je.