Jazz bringt Menschen zusammen
Ein Gespräch mit Günter Reiners vom Jazzclub Hürth
TEXT: Dr. Michael Vogt |
Günter Reiners ist Vorsitzender des Jazzclubs Hürth e. V. und Mitglied des nrwjazz-Vorstandes. Im Gespräch verrät Reiners, wie er ganz persönlich zum Jazz kam, weshalb er den Jazz als Ausdruck von Freiheit und Toleranz versteht und wie sich der Jazz in Zukunft entwickeln könnte. Die aktuellen Auswirkungen der Corona-Krise für den Jazz beleuchtet er zusammen mit der Frage, was die Politik für die Jazz-Szene vor Ort tun muss. Außerdem verrät er, wie er sich mit dem Jazzclub Hürth dafür einsetzt, den Jazz in Nordrhein-Westfalen zu stärken.
Herr Reiners, wie sind Sie zum Jazz gekommen. Gab es da ein bestimmtes Erweckungserlebnis?
Ein Erweckungserlebnis nicht gerade (lacht)! 1994 wurde ich als politischer Neuling in den Hürther Stadtrat gewählt und dazu bestimmt, für meine Fraktion Teil des Kulturausschusses zu werden. Bis dato hatte ich nicht allzu viel Berührung mit Kultur gehabt. Für mich war also klar, dass ich mich in das Thema hineinknien und sehr viel lernen musste. Über den Besuch von Kulturveranstaltungen im Rhein-Erft-Kreis versuchte ich mir ein Bild von der Kulturszene zu machen. Ich war erstaunt darüber, wie groß die Bandbreite und die Vielfalt an Kultur ist, die unsere Region zu bieten hat.
Und zu dieser Vielfalt gehörte auch Jazz?
Die Weihnachtsfeier des Jazzclubs Hürth sowie die Hürther Jazznacht machten damals einen sehr großen Eindruck auf mich. Wie unter dem Brennglas bekam ich die Vielfalt des Jazz präsentiert. Allein die unterschiedlichen Instrumente – vom Alphorn bis zur Hammondorgel – faszinierten mich. Schnell war mir klar, dass ich dem Verein beitreten musste.
Der Jazzclub machte Sie also zum Jazzfreund?
Durch die Aktivitäten des Jazzclubs tat sich mir eine ganze Kulturwelt auf, die mich bis heute fasziniert. Mit unserem Programm versuchen wir auch immer wieder, die Jazz-Vielfalt zu zeigen und Menschen damit in Berührung zu bringen – etwa über Konzerte, in denen sich Jazzmusiker mit alten Meistern wie Bach, Schumann oder Beethoven auseinandersetzen. Oder über Künstler, die sich von anderen Kulturen inspirieren lassen. Oder aber auch über junge Musiker, die experimentieren, um neue Wege zu finden. All das finde ich faszinierend. Eine Grenze habe ich allerdings: Free Jazz ist nichts für mich, ich brauche zumindest geringe Dosen Harmonie, etwas fürs Ohr! Die Vielfalt des Jazz ist in der Zwischenzeit so groß geworden.
Wo sehen Sie die Gemeinsamkeit dessen, was wir Jazz nennen?
Das ist eine sehr interessante Frage, zu der ich letztens einen spannenden Artikel gelesen habe. Im Magazin Jazz Podium beschreibt der österreichische Jazzmusiker und Komponist Franz Koglmann die Entstehung des Jazz in den Vereinigten Staaten. Dabei unterstreicht er die zentrale Bedeutung afroamerikanischer Musiker, die aus dem reichen Erbe der Kultur ihrer afrikanischen Vorfahren schöpften und auf die instrumentale Tradition und Harmonik der europäischen Kunst- und Volksmusik zurückgriffen. Neben dieser allgemein bekannten Tatsache betont Koglmann auch die enorme Rolle jüdischer Komponisten wie Jerome Kern, George Gershwin, Irving Berlin und Richard Roddgers, die dazu beitrugen, den Jazz in den 1920er Jahren bei einem weißen Publikum bekannt und beliebt zu machen. Damit verdeutlicht Franz Koglmann, dass der Jazz von vorneherein eine von der Durchdringung und Durchmischung der Kulturen geprägte Musik war. Genau das inspirierte Anfang des 20. Jahrhunderts europäische Komponisten wie Debussy oder Strawinski, während Jazzmusiker in den Vereinigten Staaten wiederum begangen, sich Prinzipien der europäischen Klassik anzueignen. Koglmann nennt als Beispiel für diese Entwicklung Duke Ellington und seine Auseinandersetzung mit Johannes Brahms.
In Europa entstand bald darauf der Gypsy Jazz.
Ja. Und dabei spielten die europäischen Roma die entscheidende Rolle. In Frankreich eigneten sich herausragende Musiker aus der Volksgruppe der Manouches Jazz-Prinzipien an, reicherten diese mit ihren Traditionen an und machten den Jazz zu einem eigenen, europäischen Stil. Die zentrale Figur dieser Entwicklung ist Django Reinhardt, der folgerichtig als Vater des europäischen Jazz bezeichnet wird. Wie in den USA war es auch in Europa die Mischung verschiedener Traditionen und Kulturen, die zum Jazz führte. Genau das machte ihn später zur Zielscheibe der Nazis, weil er für die Vielfalt der Kulturen steht. Aber auch das Element der Improvisation, das gewissermaßen musikalischer Ausdruck der Freiheit ist, dürfte dem Regime missfallen haben. Der Jazz verkörperte alles, was die Nazis hassten, weil er nicht in ihr rassistisches Weltbild passte. Davon hat eindrücklich der kürzlich verstorbene Saxofonist Emil Mangelsdorf erzählt, der als Jugendlicher erlebte, wie der Jazz und seine Freunde in Nazideutschland unter Repressionen zu leiden hatten. Er hat sich bis zu seinem Tod für Demokratie und Toleranz eingesetzt. Auf der anderen Seite ächtete auch der Stalinismus über lange Phasen hinweg den Jazz. Nachdem die Sowjets ihn zunächst als musikalischen Ausdruck unterdrückter Klassen eingeordnet hatten, galt er ihnen bald als Zeichen bürgerlich-kapitalistischer Dekadenz.
Der Jazz als Ausdruck von Freiheit und Demokratie?
Mit zunehmender Freiheit – auch und gerade nach dem Ende des Kalten Krieges – hat sich der Jazz in aller Welt verbreitet und in Gegenden Fuß gefasst, wo er zuvor nicht existierte. Damit ist er noch diverser, noch unübersichtlicher und interessanter geworden.
Jazz als globales Phänomen?
Jazz ist für mich Ausdruck unserer modernen, sich wandelnden Welt, die durch den Austausch der Kulturen und Traditionen bereichert wird. Jazz macht auf Gruppen aufmerksam, die von Mehrheitskulturen nicht in den Fokus gestellt werden. Jazz ist der musikalische Ausdruck einer Gesellschaft, in der sich Menschen mit ihrer Diversität, ihrer Migrationsgeschichte, ihrem Erfahrungshorizont auf Augenhöhe begegnen, voneinander lernen und sich gegenseitig inspirieren. Jazz bringt Menschen zusammen, Jazz überwindet die Grenzen von Herkunft, Kultur, Hautfarbe und Religion! Und damit hat Jazz auch das Potential, Mauern niederzureißen sowie den Reichtum musikalischer, sprachlicher und kultureller Traditionen zusammenzuführen und damit noch fruchtbarer zu machen.
Wie prägt das, was Sie sagen, Ihr ehrenamtliches Engagement in Hürth?
Ganz konkret. Wir sind in Hürth eine multikulturelle, multireligiöse Gesellschaft, die auf Dialog und Formate angewiesen ist, in denen sie miteinander ins Gespräch kommen und im Gespräch bleiben kann. Genau diese Aspekte greifen wir immer wieder auf, indem wir beispielsweise mit Künstlern aus unterschiedlichsten Ländern an Hürther Schulen gehen, um den Schülerinnen und Schülern nicht nur etwas über den Jazz, sondern auch über die Kultur der Musikerinnen und Musiker, ihre sozialen Erfahrungen, ihr Erbe zu vermitteln. Bei unserer Arbeit als Kulturverein geht es nicht nur darum, Jazzkonzerte zu ermöglichen...
…, aber natürlich geht es auch darum.
Welche Bedeutung hat Hürth inzwischen auf der Jazz-Landkarte?
Ich sehe Hürth einerseits lokal, es ist meine Heimatstadt. Andererseits sehe ich den größeren Kontext des Rhein-Erft-Kreises und natürlich unseres Bundeslandes. Und da müssen wir uns nicht verstecken. Wir haben vor Ort eine wahnsinnig vitale und interessante Jazz-Szene, die sich nicht nur auf die großen urbanen Zentren wie Köln beschränkt. Es ist interessant, dass in den vergangenen Jahren die Anziehungskraft, die Berlin auch auf viele Künstler aus NRW ausübt, nachgelassen hat. Viele sind inzwischen an Rhein und Ruhr zurückgekehrt, weil es hier familiärer und strukturierter zugeht. Außerdem gibt es neue Entwicklungen, die dem Jazz wichtige Impulse geben dürften.
Womit hat das zu tun? Mit politischer Förderung doch wohl weniger?
Jazz verfügt nicht über die Lobby, die etwa die Oper, das Sinfonieorchester oder das Schauspiel haben. Ich will gar nicht die verschiedenen Sparten gegeneinander ausspielen. Ich möchte auch niemandem etwas wegnehmen. Ich denke aber schon, dass der Jazz mehr Aufmerksamkeit verdient. Ich weiß, dass es aus Sicht der Politik nicht einfach ist, den Jazz in seiner Komplexität wahrzunehmen und zu sehen, wo Unterstützung nötig und sinnvoll wäre. Aber es kann nicht angehen, dass immer nur die großen Veranstalter und Leuchtturmprojekte von Zuwendungen profitieren. Man kann das Prinzip des großen Dreisparten-Hauses nicht auf den Jazz übertragen. Anstatt einfach das größte Lokal in der Stadt und vielleicht ein Festival in den Blick zu nehmen, muss den Verantwortlichen klar werden, dass Jazz ist eine Nischenkultur ist. Er floriert auch abseits der Metropolen an kleinen und unscheinbaren Orten, in Kellern und Clubs. Diese vielfältige und bedeutende Szene verdient es, ins Rampenlicht gestellt zu werden. Es geht auch gerade darum, die Vielfalt zu erhalten und Experimentierfelder zu schaffen, damit sich neue Dinge entwickeln können.
Was tut denn die Politik?
In letzter Zeit hat das Ministerium für Kultur und Wissenschaft NRW die Förderung für freie Ensembles sowie die Jazz-Exzellenzförderung mit zusätzlichen Mitteln ausgestattet, die Jazz-Künstlern in NRW Planungssicherheit, künstlerischen Freiraum und Entwicklungsmöglichkeiten geben sollen. Es wird auch stärker anerkannt, dass die Musikszene unseres Landes vor allem durch freischaffende Musikerinnen und Musiker geprägt und bereichert wird. Es gibt darüber hinaus Förderprogramme für freie Spielstätten. Das alles ist gut. Aber diese Planungen gehen größtenteils noch auf die Zeit vor Corona zurück und müssten nun dringen angepasst werden.
Leidet die Jazz-Szene weiterhin unter den Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung?
Kultur insgesamt war als erste von Maßnahmen betroffen. Es muss aber klar werden, dass es dabei nicht nur um ein konkret abgesagtes Konzert oder verschobene Tourneen geht. Durch die Krise spitzt sich die finanzielle Situation der Kommunen zu. Da ist die Versuchung groß, den Rotstift überall dort anzusetzen, wo man Möglichkeiten sieht, die auf dem Papier gut aussehen. Entsprechen muss man darauf achtgeben, dass Kultur nun nicht zum zweiten Mal Opfer wird. Nach dem Wegbruch der Verdienstmöglichkeiten darf Kultur jetzt nicht erneut bestraft werden.
Was können Sie mit Ihrem Verein in dieser konkreten Situation tun?
Zum einen haben wir mit kreativen Konzepten dafür gesorgt, dass unsere Künstler auch während der Pandemie auftreten konnten und können. Wir haben in Zusammenarbeit mit anderen Kulturpartnern in Hürth, vor allem mit dem Bürgerhaus, Streaming-Angebote und ein Freiluftformat entwickelt. Beides wurde vom Publikum sehr gut angekommen. Zum anderen haben wir dafür gesorgt, dass alle abgesagten Konzerte nachgeholt werden konnten, sobald es die Situation zuließ. Tatsächlich haben wir das geschafft und sind darauf auch sehr stolz.
Das ist aber der berühmte Tropfen auf den heißen Stein?
Angesichts der Lage können lokale Initiativen nicht alles auffangen. Deswegen muss es auch in der Krise darum gehen, dass Vereine wie unserer sich regional vernetzen. Eine Plattform wie nrwjazz bietet eine hervorragende Basis, um Synergieeffekte zu schaffen und dem Publikum, den Künstlern, den Agenturen und Veranstaltern ein Bewusstsein dafür zu geben, was gerade passiert, was optimiert werden kann und wie wir besser vom kulturellen Reichtum unseres Bundeslandes profitieren können. Ich hatte bei meinem letzten Interview darauf hingewiesen, dass das hervorragende israelische Trio Shalosh nach Hürth kommen wollte. Durch die Pandemie war das nicht möglich, jetzt holen die Musiker aber ihren Besuch nach. Wenn solch eine Spitzen-Formation in unser Bundesland kommt, ist das eine fantastische Chance, die man nicht verpassen darf! Eigentlich sollten auch andere Veranstalter die Gelegenheit beim Schopfe packen und sich mit der Band absprechen, ob weitere Auftritte möglich sind – etwa in Münster oder in Kleve, in Aachen oder woanders. Wenn alle Veranstalter bei nrwjazz Mitglied wären, könnten auch Agenturen das Portal nutzen und ihre Arbeit optimieren. Wir müssen Nordrhein-Westfalen als großes Ganzes sehen und begreifen, dass wir die Bedingungen für den Jazz über den eigenen Ort hinaus verbessern müssen. Genau das stärkt am Ende auch unsere Stadt und bringt mehr Kultur vor unsere Haustüre. Ich bin mir sicher: nrwjazz ist dabei eine wichtige Hilfe. Je mehr mitmachen, desto stärker sind wir und desto mehr wird unsere Stimme gehört.