Into the face!
Im Gespräch mit Branford Marsalis
TEXT: Stefan Pieper | FOTO: Stefan Pieper
Wo alle Jazzer von Projekten sprechen, lehnt der US-Saxofonist Branford Marsalis diesen Begriff ab. Für ihn ist alles Bestandteil einer Entwicklung und jeder Musiker sein ganzes Leben lang ein Lernender. Geboren in Louisiana, wurde er mit Blues, Rock und Rhythm and Blues sozialisiert - Jazz kam erst später unter Einfluss seines älteren Bruders dazu. Seit ungefähr 10 Jahren hat er sich auch stark der europäischen, komponierten Kunstmusik zugewandt, was er als neue Herausforderung ansieht. Im Januar arbeitete er mit dem Dirigenten Kristjan Järvi zusammen und führte als Solist beim Bayerischen Staatsorchester in München Kompositionen von Darius Milhaud und das zeitgenössische „Tallahachie Concerto“ des Komponisten/Rockmusikers Jacob der Veldhuis auf.
Am Rande der Proben in München redete Marsalis Klartext – ehrlich, eloquent und gerne auch etwas provokativ!
Mr. Marsalis, ist es für einen Jazzer eine besondere Herausforderung, Klassik zu spielen?
Auf jeden Fall. Es ist eine andere Form von Musik. Das Spielen ist viel fremdbestimmter. Es gibt Stellen, da musst Du spielen und andere, wo du nicht spielen sollst. Beim Jazz kann man zwischen den Soli immer mal 10 Sekunden Pause machen, damit das Blut zurück in die Lippen kommt.
Ist ein anderes Mundstück Pflicht?
Auf jeden Fall – beim Spiel in der Klassik kommt ein kleineres Mundstück zum Einsatz. Es gibt mehr Kontrolle und produziert einen weniger luftigen Sound. Wenn man leiser spielt, hört man mit einem solchen Mundstück nicht die ganze Luft. Der Klang insgesamt ist viel weniger luftig, das harmoniert mit einem Orchester viel besser, während man im Jazz mit dem Schlagzeugsound auf Augenhöhe sein muss.
Was stand am Anfang Ihrer musikalischen Karriere?
Vor allem Rhythm and Blues, Soul, Rock. Erst als ich über 20 war, habe ich mich dem Jazz zugewandt und mich dabei an meinem zehn Jahre älteren Bruder Wynton orientiert.
Sie beide haben sich ja in verschiedene Richtungen entwickelt...
Mein Bruder hat Klassik und vor allem Jazz studiert, ich habe mich erstmals im Bereich der Popmusik getummelt. Ich war dann in Louisiana erstmal Lehrer. Aber mein Bruder überzeugte mich, nach New York zu gehen. Dort habe ich dann richtig ernsthaft diese Musik studiert.
Wie ist euer Verhältnis zueinander heute?
Wir reden viel über persönliche Dinge, tauschen uns zum Beispiel über Erfahrungen aus, die wir mit unseren Kindern gemacht haben. Musikalische Dinge sind kaum ein Thema.
Als Sie mit dem Orpheus Chamber Orchestra Musik von Debussy und Fauré eingespielt haben, markierte dies ein neues Projekt?
Diese Platte war ein Anfang, heute bin ich viel besser in so etwas. Ich lehne aber den Begriff von Projekten ab. Alles ist doch Teil einer einzigen Entwicklung, wo sich alles miteinander ergänzt. Das klassische Musizieren macht mein Jazzspiel besser und umgekehrt. Ich lerne dadurch ganz neue Möglichkeiten, das Instrument zu kontrollieren.
Siehst Du überhaupt Grenzen zwischen den unterschiedlichen musikalischen Disziplinen?
Es gibt keine Grenzen, wo es doch immer um dasselbe geht: Menschen möchten emotional bewegt werden. Sie möchten etwas empfinden, vielleicht vor Begeisterung aufschreien. Das ist in jeder Musik dieselbe Sache. Der Weg, dahin zu kommen, ist recht unterschiedlich und es ist immer gut, nicht nur eine von mehreren Sparten gut zu beherrschen. Wenn ich eine klassische Komposition spiele, wird sie durch das Bewusstsein besser, wo sich der Beat befindet - da zahlt sich das Rhythmusgefühl aus dem Jazz auf jeden Fall aus! In der Klassik lernen wir wiederum, mit feiner Dynamik umzugehen – das verbessert im Jazz die Sensibilität, um auch mal aus leisen Tönen viel Intensität zu schöpfen. All dies verändert und fördert auch die Fähigkeit zu hören.
Hat Jazz früher ein anderes Lebensgefühl verkörpert als heute?
Jazz hat starke Parallelen zur Barockmusik. Barockmusik war im historischen Kontext oft Tanz- oder sagen wir ruhig mal Partymusik. Von dem Moment an, wo sich die Leute zum Hören der Musik hinsetzen, haben die Komponisten angefangen, anders zu schreiben. So hat es sich im Jazz auch entwickelt.
Was Jazz wirklich populär gemacht hat, war dieser Aspekt von Party und illegaler Subkultur – vor allem ausgelöst durch die Alkohol-Prohibition in den 1920er Jahren. Die Regierung hatte Alkohol verboten und überall boomten illegale Clubs. Und die Musik, die dort das Lebensgefühl artikuliert, war Jazz.
Was könnte getan werden, um Jazz wieder solche eine kulturelle Relevanz zurück zu geben?
Da ist der Zug endgültig abgefahren. Popmusik beherrscht heute alles. Damit verglichen, hören nur ganz wenige Menschen heute klassische Musik oder Jazz. Das kann man meiner Ansicht nach nicht mehr rückgängig machen.
Wie sehen Sie Ihre eigene Rolle hier?
Ich möchte keine Massen erreichen, sondern Musik spielen für Menschen, die gerne und bewusst zuhören. Vor allem in den Vereinigten Staaten, wollen viele gar nicht mehr zuhören. Im angloamerikanischen Raum ist schon die Begrifflichkeit bezeichnend: Viele sagen, ich will ein Konzert „sehen“ und nicht „hören“. Denen kommt es auf Lightshow und viel buntes Drumherum an. Wenn sie einen Song mögen, dann nur, weil man ihn mitsingen kann.
Wo ist die Fähigkeit zum Zuhören am besten?
Auf jeden Fall im kontinentalen Europa. Am Allerbesten ist sie nach wie vor in Deutschland, aber auch in den ganzen Nachbarländern, vor allem auch in Osteuropa. Ich liebe es, in Deutschland zu spielen. Dort gibt es diese tief verwurzelte Musikalität aus der eigenen Tradition heraus. Hier habe ich das Gefühl, die Menschen wollen verstehen, was wir auf der Bühne zu erreichen versuchen. In den ehemaligen kommunistischen Ländern ist es nicht so viel anders. Da sind auch viel mehr Menschen in Konzerte gekommen, weil sie für das Publikum frei zugänglich waren. Ständig einer Musik zuzuhören, war Teil der Kultur. Und von solchen Qualitäten spüre ich immer noch einiges, wenn ich nach Deutschland komme.
Welche Verantwortung trägt ein Musiker gerade in schwierigen Zeiten?
Die Zeiten sind immer schwierig gewesen! Wir Musiker sollten uns einfach darauf besinnen, immer unser Bestes zu geben. Am besten zu sein ist viel wichtiger als am populärsten zu sein! Und man muss zulassen, dass wenn man gut sein will, damit nicht so weit kommt und es wahrscheinlich nie zum Millionär bringen wird. Deswegen braucht es eine Grundsatzentscheidung: Möchte ich reich und berühmt werden und dafür alles tun? Oder möchte ich einfach nur und ohne Kompromisse gut sein? Man kann selten beides haben.
Wie sehen Sie das Verhältnis zu Ihrem Publikum?
Es ist mein sehr ernsthafter Wunsch für ein Publikum zu spielen und dieses dazu zu bringen, dass es meine Musik versteht. Ich sehe heute viele andere Jazzmusiker in einer sozialen Sackgasse. Sie wollen sich abgrenzen und mögen die Menschen nicht. Viele sind in ihre eigene Virtuosität verliebt. Sie schreiben komplizierte Stücke und spielen vor allem für sich selbst.
Was würden Sie den jungen Jazzmusikern, die gerade fleißig an der Hochschule studiert haben, gerne sagen?
Spielt mehr als nur eure Instrumente - was ihr unglaublich gut könnt. Sondern spielt Musik! Das wichtigste am Jazz ist nicht die Improvisation allein. Es gibt noch elementarere Dinge: Den Beat. Oder einen guten Song als Quelle. Heute wird immer und überall die Improvisation über alles gestellt. Das ist ein Teil des Problems. Wenn Du aber über einen guten Song improvisierst, schaffst Du es im Idealfall, dass das Publikum die Idee dieses Songs, seine wirkliche Melodie umso tiefer erfasst.
Hat sich diese Herangehensweise in der Historie des Jazz geändert?
Alle Soli von Lester Young oder Charlie Parker basieren auf Songs. Im modernen Jazz basieren die Improvisationen meist auf abstrakten Akkordstrukturen, da wird viel analytischer und mathematischer rangegangen. Das kann auch sehr exzellente Resultate hervorbringen, fühlt sich aber manchmal auch etwas kalkuliert an. Das musikalische Vokabular von heute ist viel technischer geworden.
Was kann man tun, um hier wieder mehr Leben reinzubringen?
Man sollte sich viele verschiedene Sachen anhören. Und sich als Jazzer auch mit der Klassik beschäftigen.
Jazz braucht also immer etwas außerhalb des Jazz, damit es lebt?
Alles braucht immer etwas, das von außerhalb kommt! Man muss immer möglichst viele Einflüsse aufsaugen, um kreativ zu sein. Nur die Massenprodukte für den Mainstream brauchen so etwas nicht. Da kopiert man immer dasselbe, tauscht die Attribute aus und verkauft es neu. So funktionieren ja auch sämtliche Bestseller-Romane. Irgendwann macht man aus dem Buch einen Film. Hauptsache, es kommt hinterher immer dasselbe raus! Die Masse der Kunden macht dies auch noch mit, weil sie instinktiv das Gewohnte suchen. Wenn Du aber das Ziel verfolgst, ein großartiger Autor zu werden, dann brauchst Du immer Einflüsse von woanders her.
Was sollten Musiker besser lernen?
Das wichtigste ist, dass man lernt, Musik zu hören. Um auf diese Weise ein universelles musikalisches Vokabular tief zu verinnerlichen.
Gibt es etwas, das das Publikum auch lernen müsste?
Nein. Das Publikum muss nichts lernen, das ist nicht sein Job. Der Job des Publikums ist es allein, das Gehörte zu mögen oder nicht. Es ist so ähnlich, wie wenn du zum Arzt gehst. Der sagt dir ja auch nicht, geh nach Hause und lese alles über deine Krankheit. Der stellt die Diagnose, hilft dir mit deiner Erfahrung. Das Publikum zahlt 35 Euro, um ein Konzert zu hören. Es darf nicht noch 500 Euro investieren müssen, um ein Seminar zu besuchen, um zu verstehen, was wir auf der Bühne machen. Der Musiker ist der Experte – und es ist dessen Job, eine Botschaft verständlich rüberzubringen. Der Job des Publikums ist es, zum Konzert zu kommen. Sich dafür die Zeit zu nehmen. Nicht mehr, nicht weniger. Alles andere liegt in unseren Händen als Musiker.
Kann Jazz sich überhaupt noch gesellschaftlich behaupten angesichts der totalen Übermacht einer Unterhaltungsindustrie?
Nein, das kann er nicht! Dafür sind die heutigen Musiker auch nicht wirklich gut genug. In vielen Jazzclubs sind kaum Leute. Das ist nicht die Schuld des Publikums, sondern die der Musiker.
Beschreiben Sie noch mehr die ideale Haltung in Bezug aufs Publikum!
Das Publikum braucht das Gefühl, dass Du als Musiker ihm nahe kommst. Dass es als Zuhörer wirklich willkommen ist. Ich denke in diesem Kontext an die Verbeugung der Musiker als einem Akt der Dankbarkeit. Leider ist auch dies zu oft zu einem oberflächlichen Ritual erstarrt. Wichtig ist, dass diese Geste in tief empfundener Weise erfolgt.
Bei vielen Jazzmusikern von heute habe ich etwas den Eindruck, dass sie nicht wirklich für ihr Publikum spielen. Viele Musiker gerade in den USA erwecken den Eindruck, dass sie keine Bescheidenheit und Dankbarkeit mehr ihrem Publikum gegenüber empfinden.
Wie definieren Sie musikalischen Fortschritt?
Man muss in der Lage sein, Dinge zu hören, die andere nicht hören. Aber man braucht ein kritisches Auge und ein kritisches Ohr, um alles, was in der Welt schon vorhanden ist, zu entdecken. Die zwölf Töne, aus denen Bach, Beethoven und viele andere in vielen Ländern Musik geschöpft haben, sind ja schon vorhanden. Ebenso, wie Einstein die Relativitätstheorie nicht erfunden, sondern entdeckt hat. Er sah einfach nur etwas, was die anderen nicht sahen.
Ist das nicht ein gesellschaftliches Problem, dass viel zu viele Menschen so stark von Medien etc. beeinflusst und auf extrem einfache simple Systeme konditioniert sind?
So ist es. Und man kann dies nicht mehr ändern. Ich für mich habe das akzeptiert. Ich rede auch nicht mehr über Musik. Und wenn Menschen mit mir über Musik reden wollen, wechsele ich schnell das Thema. Generell lehne ich Popmusik nicht ab, vorausgesetzt, da sind großartige Musiker, die ihre Instrumente spielen (können) und Songs schreiben können. Die meisten Popmusiker von heute können aber kaum etwas in dieser Art.
Was für Zukunftsprojekte haben Sie noch?
Ich möchte gerne einmal Musik zu Lyrik schreiben. Ich bin ein großer Verehrer von Rainer Maria Rilke zum Beispiel.
Oh, das hat gerade eine junge Band aus meiner Region gemacht. Da werden erst die Texte gelesen – danach improvisiert die Band und macht dort weiter, wo die Worte enden.
Das ist sehr cool. Überhaupt tut es dem Jazz gut, wenn von außen neue Einflüsse hineinkommen. Ich würde gerne auch etwas mit Rilke machen, aber ich würde anders an die Sache herangehen.
Unplugged gibt Branford Marsalis Ende Januar zwei Kirchenkonzerte in Zürich und Basel. Nach weiteren Terminen quer über den Globus folgt am 25.5. ein Live-Termin in NRW, nämlich in der Herforder Münsterkirche am 25.5.
Stefan Pieper