Infektionsschutzgesetz
Kultur braucht Gleichbehandlung
TEXT: Stefan Pieper |
Wir befinden uns aktuell am Tag 159 des "kurzen, zweiwöchigen Wellenbrecher-Lockdowns, um uns ein schönes Weihnachten zu ermöglichen“. Weihachten ist schon wieder vorbei, die Konzert Bühnen sind immer noch dicht. Durch das neue bundeseinheitliche Infektionsschutzgesetz sind nun wohl auch viele hoffnungsvoll geplante open-Air-Konzerte geplatzt.
Im Jahr eins der Pandemie hatten wir einen wunderbaren Sommer erlebt: Viele spontan aus der Taufe gehobene Open-Air-Konzert-Formate entfalteten eine seelisch heilende Wirkung. Ein reicher Lohn für alle Mutigen, die unter diesen Bedingungen Jazz veranstalteten - ebenso für alle, die sich endlich wieder aus dem Hause trauten, um - in hoher "pandemiekonformer" Disziplin wohlgemerkt - kulturelle Sternstunden zu erleben. Denn die stellen sich auf Anhieb ein in Zeiten, wo dies alles so brutal zur Disposition steht. Mehr noch: Viele Aktionen des letzen Sommers haben auch dem Jazz in NRW zu noch mehr öffentlichem Ansehen verholfen. Der Jazzklub Krefeld sorgte zum Beispiel dafür, dass Menschen mitten in der Innenstadt vielleicht zum ersten Mal erlebten, dass Musik noch anderes als C-Dur und Viervierteltakt kann. Die Initiative Musik fördert nun die Fortsetzung dieses Engagements. Auf Schlössern und Burgen im Münsterland vermengte sich improvisierte Musik mit den frühlingshaften Naturgeräuschen. Nur zwei von zahllosen Beispielen! Die physisch-analoge Welt, das geteilte Wir-Gefühl hat etwas Heilendes.
Ein neues Szenario dringt wie ein aktueller Tiefschlag durch das Grundrauschen der Nachrichten hindurch: Steht durch das kommende, auf Bundesebene verabschiedete Infektionsschutzgesetz die von allen sehnsüchtig erwartete Open-Air-Saison, dieser Strohhalm, an den sich die Livekultur gerade klammert, schon wieder unmittelbar vor dem Aus?
Kulturveranstaltungen sind Bildungseinrichtungen gleichgestellt!
Wir als nrwjazz e.V. können nur den Forderungen des Deutschen Kulturrats zustimmen und ausdrücklich fordern: Frau Merkel und Ihr selbst gewähltes Beraterteam, begeben Sie sich endlich wieder auf den Boden unserer Verfassung! Nehmen Sie den Grundsatz der Kunstfreiheit ernst!
Konkret heißt eine Gleichbehandlung von Kultur, den Inzidenzwert von 100, der gemäß dem kommenden Infektionsschutzgesetz auch für Kulturveranstaltungen gelten soll, wieder an jenen für öffentliche Bildungseinrichtungen, also Schulen und Hochschulen anzupassen. Denn Konzerte sind gleichberechtige Bildungs- und am allerwenigsten Infektionsträger. Das Kulturleben ist zu kostbar, als es irgendeinem sinnlosen Symbolaktionismus in den Rachen zu werfen. Die Regierungsexperten glauben ja selber der Wissenschaft, der gemäß die hauptsächliche Infektionsgefahr in geschlossenen Räumen, etwa am Arbeitsplatz, in Industriebetrieben, in Schulen oder bei privaten Treffen in Häusern und Wohnungen und auch in öffentlichen Verkehrsmitteln besteht. Darüber hinaus gibt es schon hinreichend durchdachte Szenarien in Gestalt ausgewählter Modellprojekte zur Testung von Öffnungen, die auch in Zeiten hoher Inzidenzien verantwortbar sind.
Frau Bundeskanzlerin, hören Sie auf, weiter die Kultur zu zerstören! Das darf man auch von einer bekennenden Naturwissenschaftlerin einfordern - vor allem wenn handfeste naturwissenschaftliche Erkenntnisse die realen Infektionsrisiken bei Kulturveranstaltungen objektiv eingeschätzt haben. Ergreifen Sie jetzt diese kleine Chance und passen Sie das Infektionsschutzgesetz in dieser Hinsicht an.
Ebenso appelllieren wir an alle Kulturschaffenden, sich lautstärker, provokativer und öffentlicher zu artikulieren...