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"Ich gebe hier alles von mir preis"

Nicole Johänntgen ließ sich von der Bergwelt inspirieren

Zürich, 25.06.2022
TEXT: Stefan Pieper | FOTO: Daniel Bernet, Stefan Pieper

Die in Zürich lebende Saxofonistin wählte für ihre zweite Soloaufnahme die Cappella di San Gottardo - in 2100m Höhe gelegen auf dem Scheitelpunkt der berühmten Alpenpassstraße - mit einer nachhall-gesättigten Akustik, die manchmal fast selbst zu einem Musikinstrument wird. Ist der Mensch nicht ganz klein angesichts der Größe einer solchen Berglandschaft? Oder ist er dochganz im Mittelpunkt? Das improvisierte Spiel ganz mit sich allein wurde zur Meditation über solche Seinsfragen.

Beschreib den Moment, als Du danach aus der Kapelle heraus getreten bist.

Es war mittags um 12:30 Uhr. Wir hatten um 11 Uhr angefangen. Und um 12:30 Uhr war ich fertig.
Und ich muss sagen, es war ein Glücksgefühl. Oder nennen wir es ein Gefühl von Vollkommenheit.

Was war anders als bei Deiner ersten Solo-CD?

Die erste Solo-CD war von ihrer Stimmung her etwas nebelig, das entspricht dem Tag, an dem die Aufnahme stattfand, der auch sehr nebelig war. Aber diese CD hier hat etwas von Auflösung. Es löst sich alles irgendwo hin auf.

Hast Du alles in einem Fluss durchimprovisiert?

Ja, obwohl ich die Tracks einzeln aufgenommen habe. Aber alles wurde so aufgenommen wie gerade gespielt.

Will die Musik eine „Botschaft“ verkörpern?

Die Musik hat seine melancholische Seite aber man hört auch den Gotthard-Aspekt. Da ist das ehrfürchtige drin. Diese Bergwelt. Wenn man die sieht, stellt sich heraus, man ist als Mensch doch so winzig klein. Aber andererseits auch groß. Die Musik soll also nichts niederschmetterndes haben, sondern eine Kraft verkörpern.

Beschreib mal den Schaffensprozess diese beiden CDs. Wo gehst Du mit dieser zweiten Solo-CD weiter?

Ich wollte etwas neues probieren: Ich habe zum ersten Mal auch das Bariton und die Stimme eingesetzt. Das mit der Stimme hat mich einfach mal gejuckt, um es auszuprobieren.

Du hast jahrelange Erfahrungen in diversen Bands. Markiert Deine Hinwendung zum reinen Solospiel einen künstlerischen Paradigmenwechsel?

Diese Seite von mir war immer schon da. Aber es braucht manchmal Zeit, bis man einen Platz für so ein Projekt findet. Das meine ich nicht zeitlich, sondern vor allem mental. Es muss der richtige Zeitpunkt da sein, um es einfach mal raus zu lassen. Und ja, mich hat überrascht, dass dies einfach so geht.

Was hat Dich an dieser Kapelle hoch oben auf der Passhöhe fasziniert?

Da war eine starke Verschmelzung mit dem sakralen Raum. Und dann dieser Hall! Ich kann es allen empfehlen, so etwas mal auszuprobieren. Wenn ein solcher Hall vorhanden ist, wächst man unweigerlich aus sich selbst ganz neu heraus. Bei dieser Solo-Aufnahme war auch klar, dass etwas einzigartiges, nicht wiederholbares entstanden ist. Ich könnte das so auf diese Weise nicht noch ein zweites Mal reproduzieren.

Hattest Du überhaupt schon Stücke im Kopf dafür oder hast Du einfach drauflos gespielt?

Die Ideen für die Melodien kamen tief aus mir heraus. Alles war bestimmt durch den Gotthard. Ja, der Gotthard hat dies aus mir heraus gerufen. Bei dieser Aufnahme gibt es kein Blatt vor den Mund

Markiert Solospiel für Dich einen Freiheitsgewinn?

Das Solospiel ist überhaupt ein einziger Zauber. Man geht da richtig tief rein, man kann das auch zulassen. Ich kann das Wort Zeit komplett neu interpretieren. Ich kann alles immer neu formen. Ich kann so viel Zeit wie ich will für einen Ton verwenden. So etwas kann ich in einer Band nur bedingt. Das alles ist so unmittelbar, dass es nicht probbar ist. Ich habe für mich eine neue musikalische Sprache daraus entwickelt. Ich weiß garnicht, ob jemand so etwas vor mir schon mal gemacht hat.

Wirst Du nach dieser Aufnahme wieder Solo-Konzerte spielen?

Es wird eine Tour durch Kirchen geben damit. Und es wird sicherlilch wieder völlig anders werden. Wo und wie die Stücke von der neuen Platte erscheinen, wird der Zufall und der Moment bestimmen. Übringens werden die Konzerte selten länger als eine halbe Stunde dauern?

Warum?

Die Anstrengung bei einer solchen Spielweise ist immens - physisch und mental. Wenn ich in einer Kirche mit sechs Sekunden Hall spiele, bin ich nach 30 Minuten ausgelaugt. Und zwar auch, was Konzentration und Intensität anbelangt. Wenn ich in einer Band mit vier oder drei Leuten spiele, kann ich mich auch gut etwas ablenken, weil die anderen Leute etwas herein geben. Aber wenn ich alleine spiele dann gebe ich 30 Minuten lang so viel wie sonst in anderthalb Stunden. Die 30 Minuten eines Soloauftritts sind eben nicht durch drei oder vier Personen geteilt, sondern ich gebe in jedem Moment alles von mir preis.

Markiert dieses Soloprojekt eine transzendentale Erfahrung und willst Du sie weitergeben?

Es ist schon es ist schon etwas Spezielles und sehr eigenes für mich.

Nicole Johänntgen

Solo II

Selmabird Records

VÖ: 17.6.2022

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