"Die Ukraine ist ein europäisches Land"
Ein Gespräch mit Vadim Neselovskyi
TEXT: Dr. Michael Vogt | FOTO: Stefan Pieper
Vadim Neselovskyi spielte in Hürth ein weiteres Konzert im Rahme seiner Benefizkonzert-Tournee zugunsten der Ukraine. Im Gespräch erläuterte er, was es mit seinem Programm „Odesa“ auf sich hat und spricht darüber, was er angesichts des von Putin ausgelösten Krieges durch seine Musik tun kann: Schusssichere Westen für Odesa besorgen, zum Beispiel.
Am 24. Februar 2022 begann Putin einen brutalen Angriffskrieg auf ein Nachbarland, dem er im Vorfeld wiederholt die historische Legitimation abgesprochen hatte. Die Massaker und die archaische Gewalt, die Putin in der Ukraine entfesselte, zerstörten darüber hinaus auf einen Schlag die politische Ordnung eines ganzen Kontinents. Während Menschen in ihren Städten und Dörfern unter russischem Beschuss sterben, Kriegsverbrechen geschehen, die man in Europa nicht mehr für möglich gehalten hatte, und Frauen mit ihren Kindern in Massen aus ihrer Heimat fliehen müssen, fragen sich Künstlerinnen und Künstler, was sie konkret tun können, um den Menschen vor Ort und an in ihren Fluchtzielen zu helfen.
Einer dieser Künstler ist Vadim Neselovskyi, der am 4. Mai im Jazzkeller Hürth ein Benefizkonzert zugunsten der Ukraine gibt. Auf Einladung des Jazzclubs Hürth wird der ukrainische Pianist sein Programm „Odesa“ vorstellen – eine vielschichtige Hommage an seine Heimatstadt, die gerade jetzt unter den Angriffen der russischen Armee leidet. Das Hürther Konzert ist Teil einer mehrteiligen Reihe, die Neselovskyi derzeit durch Deutschland und in Kürze auch durch die USA führt.
„Hätte Putin mich gefragt, hätte ich ihm sagen können, dass niemand auf ihn wartet.“
„Seit Kriegsbeginn hat sich das Leben für uns alle verändert, vor allem aber für diejenigen, die eine starke Verbindung zur Ukraine haben“, erläutert Neselovskyi im Gespräch. „Mein normales Musikerleben war für mich von einem Tag auf den anderen nicht mehr möglich. Ich konnte nicht so weiter machen wie bisher. Das, was gerade passiert, ist völlig anachronistisch. Ich habe noch nie erlebt, dass ein Regierungschef eines Landes eine Rede hält, in der er einem anderen, selbstständigen Land das Existenzrecht abspricht. Ich kenne die Ukraine und Russland sehr gut. Beide Länder mögen oberflächlich betrachtet ähnlich sein. Man spricht ähnliche Sprachen, es sieht dort ähnlich aus, aber beide Länder haben eine völlig gegensätzliche Entwicklung hinter sich. Während die Ukraine seit 1991 eine Demokratie ist, vielleicht keine ideale Demokratie, aber eine, in der rechtmäßige demokratische Wahlen stattfinden und sich eine demokratische Identität gebildet hat, entwickelt sich Russland immer weiter von demokratischen Prinzipien weg. Wie tief dieser Unterschied ist, wurde am 24. Februar offenbar – möglicherweise auch für Putin, der ja anscheinend davon ausgegangen war, dass die Ukrainer mit Blumen auf die russischen Truppen warten. Hätte Putin mich gefragt, hätte ich ihm sagen können, dass niemand auf ihn wartet. Ich habe zwar keine Macht, aber ich bin quer durch die Ukraine und durch Russland gereist und weiß: die Ukraine ist ein europäisches Land, das sich gern der EU annähern möchte. Das wollen die Menschen! Und wegen dieses Traums sitzen jetzt meine Freunde in Odesa in ihren Wohnungen und müssen sich ständig in Sicherheit bringen, weil Raketen in ihren Vierteln einschlagen. Für mich war mit Beginn des Krieges klar, dass ich etwas tun muss. Deswegen traf ich zusammen mit meinem Agenten die Entscheidung, eine Benefiz-Tournee zu organisieren. In deren Rahmen verzichte ich komplett auf eine Gage, sodass alle Einnahmen Projekten in der Ukraine und Hilfsorganisationen zugute kommen, die versuchen, die durch diesen Krieg ausgelöste Not zu lindern.“
„Meine Grußmutter sprach Jiddisch als Muttersprache.“
Mit dem Thema Odesa rückt das Programm der Benefizkonzerte nicht nur die wichtigste ukrainische Hafenstadt in den Fokus. Die Stadt Odesa, die im Ukrainischen mit einem S geschrieben wird, galt lange Zeit als eine der bedeutendsten Kulturmetropolen Osteuropas, verfügte über eine multiethnische und multireligiöse Bevölkerung und war ein Schmelztiegel der Kulturen. Siebzig Jahre nach der Besatzung durch rumänische und deutsche Truppen, während der Zehntausende Einwohner ermordet oder deportiert wurden, wird Odesa nun erneut angegriffen. Für Neselovskyi, der in Odesa geboren und als jüngster Student im Konservatorium seiner Heimatstadt aufgenommen wurde, ist das ganz nah, auch wenn er seit langem in New York lebt: „Mit 17 Jahren verließen meine Familie und ich Odesa und kamen nach Deutschland“, erinnert Neselovskyi sich. „Auch wenn ich schließlich in die USA ging, um in Boston am Berklee College of Music zu studieren, fühle ich mich Deutschland weiter verbunden. Aber Odesa ist und bleibt die Stadt, in der ich aufgewaschen bin, eine kulturell ungeheuer reiche Stadt. Meine Großmutter sprach Jiddisch als Muttersprache und Russisch mit jiddischem Akzent. Als wir nach Deutschland kamen, hatte mein Vater keine Probleme mit der Sprache, denn Jiddisch und Deutsch sind ja sehr eng miteinander verwandt. Odesa wurde ab 1794 von italienischen Baumeistern errichtet, der erste Bürgermeister der Stadt war ein Franzose. Vor der Oktoberrevolution lebten in Odesa viele Nationalitäten zusammen.“
Spaziergang durch Odesa
Es ist auch dieses Odesa der Vergangenheit, das Vadim Neselovskyi mit seinem Programm beschreibt. Die Kompositionen entstanden noch vor dem Ausbruch des Krieges und nehmen Odesa als Ort der Erinnerung, als Ort der Sehnsucht, aber auch als konkrete Stadt der Gegenwart in den Blick. Das Konzert der unterschiedlichen Stimmen, Sprachen und Kulturen, die Odesa bis heute prägen, bestimmt auch die Musik des Albums, auf dem Neselovskyi zu einem Spaziergang durch sein Odesa einlädt – mit großer pianistischer Geste und einer stilistischen Palette, die sich mit unbekümmerter Freiheit bei verschiedensten Genres bedient. Dabei entdeckt der Zuhörer eine Stadt, in der sich die große mit der persönlichen Geschichte verschränkt. Ein facettenreiches Portrait, das genauso poetisch wie abgründig ist. Ein Gemälde, das vom hektischen Treiben des Odesitischen Hauptbahnhofes zum Konservatorium führt. Ein Gemälde, das den für das Klima der Stadt so typischen Eisregen heraufbeschwört, die ikonische Potemkinsche Treppe, die akaziengesäumten, breiten Straßen, aber auch das Grauen des Zweiten Weltkrieges und des Massenmordes an den Juden, die in den 1930er Jahren über ein Drittel der Bevölkerung ausgemacht hatten.
„Ich habe mich intensiv mit der Geschichte auseinandergesetzt.“
In der jetzigen Zeit fällt es schwer, die Musik des Albums „Odesa“ unabhängig von den Ereignissen zu hören, die gerade über die Stadt hereinbrechen. Doch entstanden ist das Programm noch bevor die ersten Bomben fielen, unterstreicht Neselovskyi: „Das Projekt, das gerade auf CD erschienen ist, habe ich vor dem Krieg geschrieben und aufgenommen. Jetzt hat sich die Situation verändert. Odesa wird gerade in diesem Augenblick angegriffen und das führt dazu, dass man die Dramatik, die gewiss in der Musik angelegt ist, mit anderen Ohren hört. Ich habe mich für das Projekt auch intensiv mit der Geschichte auseinandergesetzt. Etwa mit der Ermordung der Juden Odesas, für die rumänische Truppen unter Leitung der deutschen SS verantwortlich waren. Aber es gibt auch lyrische Momente in meiner Musik, Momente aus meinem Leben, Anklänge an Eisensteins Film Panzerkreuzer Potemkin und die berühmte Treppenszene. Diese Szene, in der die Menschenmassen vor den zaristischen Truppen die Stufen hinabfliehen, der Kinderwagen… Wenn ich das jetzt spiele, muss ich an Mariupol denke, an all das, was gerade jetzt in der Ukraine passiert. Irgendwie kam bei diesem Projekt alles zusammen. Ich brauchte keine neue Musik zu schreiben, sie war schon da.“
Hilfsbereitschaft ist groß
Vadim Neselovskyi hofft mit seinen Konzerten etwas bewegen zu können. Und die Hilfsbereitschaft ist groß, wie er weiß: „Im März habe ich „Odesa“ in der Friedenskirche in Ratingen gegeben und konnte zusammen mit der veranstaltenden UBS-Stiftung 50.000 Euro für SOS-Kinderdörfer in der Ukraine einnehmen. Ein Benefizkonzert, das ich in New York mit unglaublichen Musikern wie Sullivan Fortner, Dan Tepfer, Aaron Diehl und Elio Villafranca gespielt habe, brachte 70.000 Dollar für eine amerikanische Organisation ein, die gegen Menschenhandel kämpft und dafür sorgt, dass flüchtende Frauen aus der Ukraine sicher an ihren Zielort ankommen, ohne Kriminellen in die Hände zu fallen. Dank der 3.000 Euro, die ich bei einem Konzert in den Niederlanden eingespielt habe, konnten schusssichere Westen für Odesa angeschafft werden. Das ist schon unglaublich, ich spiele als Musiker Töne auf meinem Klavier und daraus erwächst dann die Möglichkeit, für Menschen schussischere Westen zu besorgen – wer hätte so etwas ahnen können?“
Sämtliche Einahmen des Konzerts in Hürth kommen dem Hürther Partnerschaftsverein e. V. zugute, der sich für die Partnerstadt Peremyschljany in der Ukraine einsetzt.“Zusätzliche Geldspenden können unter der Nennung des Verwendungszwecks Ukraine an den Partnerschaftsverein Hürth bei der Kreissparkasse Köln, IBAN DE67 3705 0299 0137 0087 00, BIC: COKSDE 33 überwiesen werden.