"Die Melodie ist der Schauspieler!"
Peter Herborn im Gespräch über sein neues Buch
TEXT: Stefan Pieper |
Welche melodischen Operationen verwenden Erfinder von Melodien in ihrem Schaffen? Wie sind Melodien gebaut, die über Jahrzehnte und Jahrhunderte die Zustimmung einer großen Anzahl von Hörern finden? Solche Fragen kamen Peter Herbon in über drei Jahrzehnten Unterrichtspraxis an der Folkwang Universität immer wieder ins Visier. Im Jahr 2013 startete er mit seinem Projekt, ein Buch aus diesen Überlegungen zu machen - die Veröffentlichung bei einem Schweizer Verlag Ende letzten Jahres dürfte der musikologischen Forschung ein neues Standardwerk beschwert haben. Das belegt auch die hohe Nachfrage. Im April erscheint nun auch eine eBook Ausgabe. Ebenso liegt eine englischsprachige Übersetzung vor, für die auf dem amerikanischen Buchmarkt Nachfrage besteht. „Merkmale der Perzeption und Konstruktion von Melodien“ – so sperrig der Titel für das 700-Seiten-Werk anmutet, so anschaulich ist Peter Herborn die Darstellung musikalischer Gesetzmäßigkeiten gelungen. Das machte Lust, im Gespräch mit Peter Herborn hinter die Kulissen dieses Forschungsvorhabens zu blicken...
Erzähl etwas über die Vorgeschichte zu diesem Projekt.
Ich hatte bereits zwei Bücher bei dem Verlag advanced music verlegt, der später vom Schott Verlag übernommen worden ist. Das waren die Titel „Jazz Arranging“ und "Forgotten Chords". Ich habe in meinem Unterricht so viele Aspekte von Melodien behandelt und wollte dies dann zusammenfassen. Ich habe dann im Sommer 2013 ein Forschungsfreisemester von der Folkwang-Universität bekommen, um mit der Niederschrift beginnen zu können.
Das Buch ist nun wesentlich umfangreicher geworden.
Bei meinen Literaturrecherchen taten sich immer neue Felder auf, vor allem im Bereich der Musikpsychologie. Ich merkte, dass die Dimension meines Projektes mit 600-700 Seiten das ursprünglich geplante Kontingent von 200 Seiten weit übersteigen würde. Für eine Publikation von 200 Seiten hatte ich einen Vorvertrag mit dem Schott-Verlag. Da Schott die Kosten für eine so umfangreiche Produktion zu hoch waren, haben sie davon Abstand genommen. Schließlich habe ich über die Vermittlung eines netten Kollegen einen kleinen Schweizer Verlag gefunden, mit dem ich die Publikation realisieren konnte. Der Verlag emano media/emanobooks zeichnet sich übrigens durch ein zeitgemäßes print-on-Demand Modell aus und lässt mir als Autor alle Freiheiten. Jetzt im Frühjahr 2022 kommt eine durchgesehene Fassung als eBook und physisches Buch heraus. Ab April werden wir auch auf den amerikanischen Markt gehen.
Sind die Seminare der Universitäten und Hochschulen Deine Zielgruppe?
Genau, das ist die Zielgruppe und es gibt da auch schon eine gute Nachfrage. Gerade erst hat die Humboldt-Universität in Berlin das Buch bestellt.
Kannst Du mit einem Satz zusammenfassen, wie Deine Publikation den musikwissenschaftlichen Diskurs weiterbringt?
Das Buch konterkariert das Klischee, dass die Musikpsychologie nur ein „Orchideenfach" ist und belegt, dass doch das Gegenteil der Fall ist. Die Musikpsychologie erklärt, warum und wie bestimmte melodische Operationen im Gehirn der Hörer funktionieren. Die Musikpsychologie erklärt das, was die Musiktheorie auszusagen versucht. Sie ist die Basis der Musiktheorie, also eine interdisziplinäre Perspektive, mit der dieses Fach weiter aus seinem Elfenbeinturm heraus kommt. Hier hat sich in den letzten Jahren zum Glück einiges geändert.
Warum stellst Du den Aspekt von Melodien ins Zentrum?
Die tonale Musik der westlichen Welt baut auf vier Elementen auf: Melodik, Harmonik, Rhythmus und Sound. In anderen Musikkulturen gibt es oft keinen harmonischen Aspekt. Aber da sind überall Melodien. Das ist der grobe Blick. Die genaue Betrachtung ist differenzierter.
Wie verhält es sich im Jazz?
Im Jazz fällt mir immer wieder auf, dass viele Musiker die Melodie aus einer harmonischen Perspektive betrachten. Es gibt irgendwelche Akkorde und über diese Akkorde wird etwas gespielt. Die Melodie als solche wird in ihrer eigenständigen Dimension oft zu wenig berücksichtigt. Diese Tendenz ist leider im Jazz viel verbreitet. Um dies zu demonstrieren, habe ich im Buch die Harmonik, die oft alles überschattet, erstmal hinten angestellt. Was natürlich nicht heißt, dass sie nicht existent ist. Sie wird vielmehr von der Melodie implizit dargestellt. Deine Überlegungen werden ja gerade durch Beispiele sehr anschaulich gemacht.
Nach welchem Plan bist Du vorgegangen?
Ich habe z.B. ein Solo von Keith Jarrett transkribiert und hier abgedruckt. Aber ich habe bewusst nur die rechte Hand aufgeschrieben. Ohne linke Hand, Bass oder Schlagzeug. Trotzdem entwickelt sich die Musik aus sich selbst heraus. Der melodische Verlauf ist hier alles, so dass es nirgendwo einen Akkord braucht. Und genau das wollte ich hier sagen: Melodie ist ein selbständiger Faktor, der nicht zwingend auf Harmonik angewiesen ist. Mein Anliegen ist es aber, dass wir uns auch wieder auf die Basics konzentrieren. Und deswegen habe ich dieses Buch geschrieben. Ich versuche hier, eine kleine Grammatik aufzustellen, wo es sich um zun zeigen, dass es sich in der Musik ähnlich wie in der Sprache verhält, bei der beispielsweise die deutsche Syntax eine Abfolge von Subjekt, Prädikat, Objekt vorgibt. Auch Melodien haben eine Syntax.
Also gibt es doch eine Hierarchie zwischen den Komponenten in der Musik?
Ich möchte hier an ein Erlebnis im Theater erinnern. Ich habe ja auch Bühnenmusik für Theaterstücke gemacht, z.B. in Göttingen und Innsbruck. Vor allem da ist mir dieses Bewusstsein für Hierarchie gekommen. Eben zwischen Text und Schauspieler und Inszenierung drumherum. Was in der Musik passiert, lässt sich damit vergleichen: Die Melodie ist der Schauspieler, die Harmonik ist die Beleuchtung und alles andere, also Klang und Orchestrierung, ist das Bühnenbild. Es gibt noch eine ganz andere Hierarchie, bei der die Melodie ganz oben steht: Die GEMA macht sich für die Rechte an Melodien stark. Es gibt 100 000e Melodien, die geschützt sind. Aber vermutlich keine einzige Harmoniefolge. Deswegen möchte ich in dieser Arbeit sagen: Hier geht es erstmal um Melodie und erst danach um die ihre ganz eigenen Gesetzmäßigkeiten.
Der Song My Funny Valentine durchzieht als Beispiel wie ein roter Faden das ganze Buch. Was bedeutet Dir dieses Stück?
„My funny Valentine“ ist ein Meisterwerk in Sachen logischer Tonfolge. Jeder einzelne Ton hat hier einen Sinn. Ich habe das Stück immer schon in meinen Theorie-Veranstaltungen im Jazz-Studiengang der Folkwang Universität analysiert. Je weiter ich in die Analyse eingestiegen bin, desto mehr faszinierte mich, wie schlicht und einfach das Stück vordergründig daherkommt und doch extrem hochgradig durchdacht ist.
Hat Richard Rodgers dies alles auch analysiert und mitgedacht, als er das Stück geschrieben hat?
Musiker wie Richard Rodgers oder George Gershwin, die für einen Großteil der Populärmusik in Amerika zuständig waren, hatten einen immensen Background. Gershwin zum Beispiel hat Unterricht bei Joseph Schillinger gehabt - einem aus Russland in die USA eingewanderten Musiktheoretiker, der zwei umfangreiche Werke mit dem Titel „The Schillinger System of Musical Composition“ geschrieben hat, die im Grunde genommen daher kommen wie höhere Mathematik .
Braucht man dieses ganze Theoriegerüst, um einen guten Song zu schreiben?
Ich glaube nicht, dass es wichtig ist, ob man sich dieser Mittel bewusst bedient. Es ist so wie mit der deutschen Sprache: Goethe hat mit der Sprache etwas anderes, eigenes anstellen können als wir Normal-Sterblichen - auch wenn wir alle die gleiche Grammatik im Kopf haben. Manche können damit intuitiv einfach viel besser als andere umgehen.
Wie verhält es sich beim Keith-Jarret-Solo, auf welches Du ebenso ausführlich eingehst?
Ich finde es fast beängstigend, wie konsequent Keith Jarrett als Improvisator in komponistischer Manier die Dinge weiter entwickelt. Die Erklärung dazu mutet fast banal an: Dieser Mann hat mit 4-5 Jahren angefangen, Klavier zu spielen und schwere Stücke von vielen Komponisten gespielt. Er hat klassische Alben aufgenommen, etwa von Bach oder Schostakowitsch. Er erreicht seine Universalität, weil er die ganzen syntaktischen Prinzipien von Melodien dieser Komponisten internalisiert hat. Vielleicht auch, ohne es unmittelbar zu wissen und ohne darüber zu viel nachzudenken. Fakt ist: Melodien sind wie eine Art Grammatik. Die 12 Töne, die aller tonalen Musik zugrunde liegen, sind das Lexikon dazu. Und dann gibt es eine Reihe von melodischen Operationen, mit denen diese 12 Töne horizontal verknüpft werden können.
Hat Dich diese Arbeit an dem Buch weitergebracht in deiner persönlichen Sichtweise?
Oh ja. Mein Hören und Machen von Musik hat sich geändert. Ebenso bekomme ich Rückmeldungen von Studierenden, mit denen ich Inhalte dieses Buches in Lehrveranstaltungen behandelt habe: Viele sagten mir, dass sie schon nach kurzer Zeit anders über Musik nachdenken und anders machen konnten.
Kannst Du ein Beispiel geben?
Mir persönlich ist noch stärker bewusst geworden, wie stark Aspekte von Symmetrie und Kongruenz beim Hören wichtig sind. So etwas ist gerade für das Erleben von Songstrukturen von Bedeutung, wo es immer um symmetrische Verhältnisse geht. Alles hängt von einer Relation aus Spannungsaufbau und Spannungsabbau ab. Das ist ein wesentlicher Bestandteil von tonaler Musik überhaupt.
Kommen wir damit auch schon in die psychologische Ebene Deiner Untersuchung?
Es geht ja auch um Bedürfnisbefriedigung. Meine Grundfrage ist: Worin bestehen die Prinzipien, die beim Bau von Melodien über Jahrzehnte und Jahrhunderte Hörer anziehen? Diese Frage ist im Grunde genommen die Basis des ganzen Buches. Hier spielt der Aufbau von Erwartung mit hinein, ebenso aber die Verletzung von Erwartung.
Was leistet hier My funny Valentine?
Da wird eine Erwartung aufgebaut und dann plötzlich wird sie konterkariert. Das spielt hier eine riesige Rolle.
Wie verhält es sich in populärer Musik oder Volksmusik?
Viele sehr populäre Lieder haben so gut wie keinen Spannungsaufbau und keine Erwartungsverletzung, eben weil diese Songs eine ganz andere Intention haben. Volkslieder werden zu sozialen Bindungsmitteln und sind nicht eigentlich auf eine neue musikalische Erfahrung hin angelegt.
Wie wächst die Kunstmusik über so etwas hinaus?
Je mehr man in die Kunstmusik geht, desto mehr kommt der Aspekt von Spannungsaufbau ins Spiel. Damit wird auch die kommunikative Dimension komplexer. Der "Sender" baut etwas auf, was den Hörer in eine bestimmte Erwartungshaltung versetzt. Die bestätigt wird oder nur teilweise bestätigt wird und manchmal eben auch gar nicht. Daraus erwächst ein sehr unterschiedliches Befriedigungsgefühl. Wenn dauernd Erwartungen verletzt werden, will das erstmal niemand hören.
Also definiert sich das Urteil, ob ein Stücke Musik einfach nur schön oder auch gut ist, auf dem schmalen Grat der Erwartungsverletzung?
Deswegen gehst du ja überhaupt erst in ein bestimmtes Konzert. Und jemand anderes eben nicht, da er andere Bedürfnisse hat. Man könnte die musikalischen Genres hier in ihren Intentionen unterscheiden, wie weit sie mit Bedürfnisbefriedigung, Erwartungsaufbau und Erwartungsverletzung arbeiten. Die tonale Musik der westlichen Welt hat hier mit zwei Hierarchien zu tun: Die eine Hierarchie ist das Metrum. Die andere definiert sich über den Umstand, dass es einen zentralen Ton gibt, um den sich die anderen Töne gruppieren. Die Zwölftonmusik verweigert sich dieser Hierarchie durch zwölf gleichberechtigte Töne. Wir haben keinen Chef im Ring. Mir ist dieser Unterschied sehr bewusst, da ich mich jahrelang mit nicht-tonaler Musik beschäftigt habe, vor allem in meiner zeitgenössischen Oper „Lorca“, die ich 2005 als konzertante Fassung mit dem WDR produziert habe. Bei nicht-tonaler Musik, welche sich der Ton-Hierarchie verwehrt, geht die Musik keinen kommunikativen Aspekt mehr ein.
Aber ich kann doch auch zu nicht-tonaler Musik, die mich begeistert, eine starke emotionale Bindung eingehen?
Nicht-tonale Musik sagt erstmal: Ich bin ich. Entweder der Hörer mag mich oder mag mich nicht. Frei tonale Musik muss dem Hörer wie eine Erscheinung gegenüber treten. Sie verweigert sich jeder Versprechung. Sie sagt eben nicht: Ich baue dir dieses oder das andere auf. Ich war kürzlich bei einem Konzert von Daniel Barenboim, der Stücke von Pierre Boulez aufgeführt hat. Da hat Barenboim vorher versucht, Dinge zu erklären. Die haben dann das Stück gespielt und es hatte eine starke Wirkung auf mich. Aber das, was Barenboim vorher erklärt hatte, war für mich nicht mehr nachvollziehbar. Und ich bin nun wirklich kein unerfahrener Hörer.
Liegt darin nicht auch eine große Freiheit?
Auf jeden Fall, das ist ja auch in keinster Weise eine Abwertung. Die Hörer müssen nur eben eine andere Haltung haben und dürfen nicht denken, ich gehe mit dem Musik-Machenden eine Kommunikation ein. Die Musiker oder eben die Musikstücke stellen vielmehr etwas in den Raum. Arnold Schönberg, der dieses Prinzip wickelt hat, schrieb vor seiner großen Phase mit der Zwölftonmusik erstmal eine fundamentale Harmonielehre auf. Erst aus diesem Erfahrungshorizont hat er beschlossen, etwas anders zu machen. Genauso, wie viele frei improvisierende Jazzer erstmal ganz profunde Verbindungen in die Jazz- History hatten. Guck Dir an, wer auf „Free Jazz“ von Ornette Coleman spielt: Freddie Hubbard, Scott LaFaro, Musiker, die erst profunde Arbeit gemacht haben im Mainstream Jazz. Oder hör Dir John Coltranes Aufnahme "Ascension“ an, mit McCoy Tyner und Jimmie Garrison. Das ist ja sozusagen die zeitversetzte Variante von Colemans "Free Jazz".
Was macht aufgrund Deiner Überlegungen musikalischen Fortschritt aus?
Das ist eine große Frage. Formulieren wir es mal so: Unterwirft man sich dem menschlichen Wahrnehmungssystem und diesen Gesetzen, welche auf Hierarchie hinaus laufen? Oder unterwirft man sich ihnen nicht? Mit dem Freejazz wollte man sich dem nicht unterwerfen, ebenso nicht mit Zwölftonmusik. Beides hat seinen eigenen Reiz. Die entscheidende Frage ist: Will man innerhalb eines Systems arbeiten oder will man es nicht? Die Kunst liegt in der Verknüpfung von Elementen. Es gibt immer noch eine weitere Variante. Vielleicht kann man das ja unter musikalischem Fortschritt verstehen. Ich meine mit Fortschritt ja gar nicht: Besser werden, sondern eher den Aspekt von Hinzufügen und leicht Verändern. Fortschritt heißt vielmehr, immer noch weitere Möglichkeiten zu finden.
Bei welchen aktuellen Projekten suchst und findest Du neue Möglichkeiten?
Im September habe ich eine Produktion mit der SWR-Big-Band und Lee Morgan, in der es um Hardbop im weitesten Sinne geht. Außerdem habe ich angefangen, einen Klavierzyklus zu schreiben. Dafür höre ich mir gerade alle mögliche Klaviermusik an - am liebsten im Moment Schostakowitschs Präludien und Fugen. Ich bin völlig überrascht, dass ich dort Dinge höre, wie ich sie Schostakowitsch überhaupt nicht zugetraut habe. Ich staune hier über extrem fortschrittliche Dinge, obwohl diese Musik fast 100 Jahre alt ist. Fortschritt hat immer etwas mit Verändern und Hinzufügen zu tun. Mit weiter Wachsen.
Freust du dich, nach Deiner Emeritierung an der Folkwang jetzt mehr Zeit für andere Dinge zu haben?
Eigentlich geht alles so weiter wie vorher, nur ohne Hochschule. Es ist so wie früher in meiner vorlesungsfreien Zeit. Ich habe Produktionen und Deadlines und ich schreibe Stücke. Ich habe auch einige Schüler, denen ich weiterhin online Unterricht erteile. Vielleicht wird es sich auch nochmal irgendwo ergeben, auf lockerer Ebene eine Lehrtätigkeit fortzusetzen.
Buch
Peter Herborn: Merkmale der Perzeption und Konstruktion von Melodien
emano books 2021, 700 Seiten, € 59,90
ISBN 978-3-03836-045-2