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Balance aus allen Elementen

Interview mit Olga Reznichenko

Bozen, 30.09.2024
TEXT: Stefan Pieper | FOTO: Lukas Diller, Stefan Pieper

"Man kann sich als Künstlerin nichts anderes wünschen, als viel zu spielen." Die in Leipzig lebende, aus Russland stammende Pianistin und Keyboarderin Olga Reznichenko war beim Südtirol Jazzfestival 2024 eher zufällig zu einer Artist in Residence aufgestiegen – nicht weniger als fünf komplett unterschiedliche Besetzungen zeugen von einer unersättlichen Neugier dieser Musikerin und das Südtirol Jazzfestival Alto Adige bot hierfür den perfekten Entfaltungsraum. In der Band „Beatdenkers POLYPLAY" engagiert sie sich in einem futuristischen elektro-akustischen Konzept. Das Quartett „Crutches" bot spätabends im Batzen-Keller einen herzerfrischenden zugleich akrobatischen „Elevator Jazz", in dem aber auch eine heftige Prise Punk gehörig mitmischt. Der Showdown für alle Sinne folgte einen Festivaltag später: Großartig fühlte sie sich mit Daniel Erdmann und der Schlagzeugerin Francesca Remigi in die treibende Dynamik des Action-Stummfilms „Mister Radio" ein. Auch in Fabian Dudeks „Day By Day" bekannte sie künstlerisch Farbe, um in großer Besetzung jene improvisative Freiheit zu leben, die ihr eine reine Klassik-Karriere wohl für immer vorenthalten hätte. So viele frische, sich ständig erneuernde Berührungen mit dem Unbekannten nähren letztlich auch die Art, mit der Olga Reznichenko die Königsdisziplin im Jazz angeht, jenes ewige Format des akustischen Jazz-Klaviertrios, welches auch in Bozen zugegen war und im lauschigen Ambiente des Parkhotels Holzner ein atmosphärisch charmantes Gastspiel gab. Die aktuelle CD „Rhythm Dissection" legt solche Qualitäten noch analytischer, ja druckvoller offen. Das alles gab Futter für ein angeregtes Gespräch zur blauen Stunde im Kapuzinerpark, dem „Basislager" des Festivals in dieser kleinen Kulturmetropole am Fuße der Dolomiten.

Welche Bereicherung ziehst Du als Teilnehmende hier aus diesem Festival?

Ich werde diese Woche hier sehr vermissen. Die gesamte Erfahrung dieses Festivals hier ist einzigartig. Die verschiedenen Locations, die atemberaubende Stadt und die Umgebung mit den Bergen machen es einfach besonders. Alle fünf Konzerte hatten eine sehr große Bedeutung für mich und meine Mitwirkung beim Alto Adige Festival fühlt sich wie eine Art Manifest an, was ich eigentlich machen will. Überhaupt: Man kann sich doch als Künstlerin nichts anderes wünschen, als viel zu spielen. Aber selbst, wenn ich mal nicht auf der Bühne stünde, würde ich hierher kommen, nur um das Festival zu erleben und die tolle Atmosphäre zu genießen.

War es nicht auch sehr anstrengend manchmal?

Die Vorbereitung für ein Festival wie dieses ist oft intensiv und langwierig. Ich bin die meiste Zeit nur auf Musik konzentriert, übe, bereite mich vor und spiele Konzerte mit verschiedenen Besetzungen. Es erfordert viel Organisation und noch mehr Hingabe. Dazu gehört nicht nur die physische, sondern auch die mentale und kreative Vorbereitung. Vor allem, wenn ich an mehreren Projekten gleichzeitig arbeite, was eine gute Zeitplanung und viel Geduld erfordert. Aber die Vorfreude auf die Konzerte und die Möglichkeit, sich kreativ auszudrücken, rechtfertigen die ganze Mühe. Es ist letztlich diese Balance aus allen Elementen, welche die Magie des Festivals ausmacht.

Wie hat das alles bei Dir mal angefangen?

Ich habe mit Klassik angefangen, wie alle in Russland. Erst Musikschule, danach habe ich in der Musikfachschule ein Jahr klassisch studiert und den Jazz ganz nebenbei kennengelernt. Die ersten Erlebnisse hatte ich noch in der Musikschule, da haben sie Sachen wie Girl from Ipanema und so etwas gespielt. Das waren für mich die allerersten Inspirationen.

War das ein Kontrast zu Deiner bisherigen traditionellen Ausbildung?

Ja, definitiv. In meiner normalen Schule gab es zwar Musikunterricht, aber der war sehr allgemein und für alle Schüler gedacht. Die Musikschule hingegen hatte eine starke Tradition und der Unterricht dort war viel anspruchsvoller.

Gab es Dinge, die Dich störten?

Es gab keinen Raum für Spaß, ich musste intensiv üben und alles genau lernen. Es ging nicht darum, Musik einfach aus Freude zu machen. Es war oft sehr anstrengend und ich habe sogar geweint, während ich übte. Die Prüfungen waren ernst und man musste gute Noten erzielen, sonst hätte es negative Konsequenzen gegeben. Meine Eltern waren natürlich auch besorgt, denn sie hatten viel investiert. Dadurch fühlte ich einen großen Druck, mein Bestes zu geben. Auch wenn einige Aspekte Spaß machten, war die Ausbildung insgesamt zu wenig spielerisch.

Erzähl weiter, wie der Jazz Dich gefunden hat!

Mir gefiel schon immer, dass die Musik laut war und ich fand das Schlagzeug cool und auch die Jazzharmonien haben mich von Anfang an fasziniert. Ich spielte in den ersten Ensembles mit und probierte mich in freier Improvisation aus. Das alles fühlte sich plötzlich so richtig an, und ich dachte mir: Warum nicht komplett auf Jazz umsteigen? Als ich meiner Familie davon erzählte, dass ich in die Jazzabteilung wechseln wollte, stieß das jedoch auf wenig Begeisterung. In Russland gab es leider das Vorurteil, dass Jazzmusiker hauptsächlich in Restaurants spielen und nur Unterhaltungsmusik machen. Dazu kam das Klischee, dass man als Jazzmusiker leicht zum Alkoholiker werden könnte. Diese Vorstellung war für meine Eltern absolut schrecklich und sie haben mir deshalb verboten, Jazz zu studieren. Aber ich war so begeistert davon, dass ich heimlich weitergemacht habe.

Wie ging es weiter?

In der Jazzabteilung fanden es alle toll, dass ich dabei war. Natürlich waren meine Eltern wütend, aber ich war entschlossen und sagte ihnen, dass ich das jetzt durchziehe. Mein Hauptfachunterricht fand in einer anderen Stadt statt und ich musste mich selbst finanzieren. Die Fahrtkosten konnte ich nicht allein mit meinem Taschengeld decken. Deshalb habe ich einen Job als Korrepetitorin für Posaunisten in der Jazzabteilung angenommen. Diese Arbeit hat mir nicht nur Spaß gemacht, sondern mir auch ermöglicht, noch eigenständiger meinen Weg zu gehen. Ich glaube, das war ein echter Wendepunkt für mich, auch was mein Spiel betrifft.

Du kommst ursprünglich aus dem klassischen Bereich, hast dann den Jazz entdeckt und warst beim diesjährigen Südtirol Festival mit fünf völlig unterschiedlichen Besetzungen unterwegs. Wie passt das alles zusammen? Wie definierst Du Dein kreatives Zentrum innerhalb dieser Vielfalt? Für mich ist es entscheidend, dass ich Spaß am Spielen habe. Egal ob klassisch oder Jazz – es muss für mich stimmig sein. Ich schätze es, zwischen verschiedenen Stilen und Anforderungen zu wechseln. Das gelingt mir oft recht gut, weil ich genau weiß, wie etwas klingen soll und mich schnell anpassen kann. Diese Vielfalt finde ich unglaublich faszinierend, weil sie mir erlaubt, ständig Neues zu entdecken und auszudrücken.

Das hast du ja gerade in den letzten Tagen hier bewiesen, wo Du in unterschiedlichen Konstellationen aufgetreten bist.

Auf jeden Fall. Das hält meine Kreativität lebendig und lässt mich ständig wachsen.

In der Band Crutches habt ihr ja fast schon so etwas wie Punk-Musik gemacht, allerdings auf einem extrem kunstvollen Niveau. Erzähl mir mehr darüber.

Ja, Crutches ist eine wirklich außergewöhnliche Band, die ich als eine sehr progressive und punkige Jazz-Band beschreiben würde. Wir nennen es scherzhaft "Elevator-Punk" – eine Art von Musik, die die Energie und den Geist des Punk mit den komplexen Strukturen und akrobatischen Rhythmen des Jazz verbindet. Es ist unglaublich spannend, Teil dieser Konstellation zu sein und ich bin besonders dankbar für die Zusammenarbeit mit Jan Frisch, unserem Bandleader. Jan ist nicht aus dem Jazzbereich, sondern kommt aus einer ganz anderen musikalischen Ecke, und gerade das macht seine Kompositionen so einzigartig und inspirierend. Er hat uns alle in dieser Besetzung zusammengebracht und die Ergebnisse sind wirklich beeindruckend. Im Mai hatten wir eine Tour und waren im Studio, wo wir alles nach Noten gespielt haben. Es war unglaublich anspruchsvoll, das Repertoire zu erlernen, da es so vielschichtig und komplex war, besonders wenn man auf der Keytar spielt, die ein völlig anderes Spielgefühl hat als das Klavier.

Genau, die Keytar. So heißt also diese wundersame Umhänge-Keyboard, das Du wie eine Gitarre im Stehen spielst. Wie bist Du auf dieses Instrument gestoßen und was reizt Dich daran besonders?

Ich wusste, dass es dieses Instrument gibt, und es wurde in den 80er Jahren viel in der Popmusik und auch im Jazz verwendet – Herbie Hancock und Chick Corea haben es ja groß gemacht. Aber ich wollte es in einem anderen Kontext nutzen. Meine Begeisterung für die Keytar wurde geweckt, als ich eine Band in Leipzig hörte, die sich Talibam! nannte. Ich war sofort fasziniert und beschloss, mir selbst ein Modell zuzulegen. Das Gefühl, im Stehen zu spielen, ist für mich besonders reizvoll. Am Klavier sitzt man meist, während man auf der Keytar stehen kann und sich freier bewegt. Es gibt dir das Gefühl, noch mehr in der Musik aufzugehen und eine größere Bühnenpräsenz zu haben – fast wie beim Gitarrenspiel. Ich habe mir dann ein spezielles Pedalboard zusammengestellt, um ein breiteres Spektrum an Sounds zu erzeugen. Mit diesen Erweiterungen wird die Keytar zu einem viel spannenderen und ausdrucksstärkeren Instrument. Was mich besonders fasziniert, ist die Entdeckung von Noise-Blends und Effekten, die ich damit erzeugen kann. Ich habe eine große Leidenschaft für laute, kraftvolle und experimentelle Klänge entwickelt und ich liebe diese enorme kreative Freiheit, mit solchen „Krach"-Elementen zu arbeiten und neue, entfesselte Sounds zu erzeugen. Solche Entdeckungen heben meine musikalische Arbeit immer wieder auf eine neue Ebene.

Ihr habt euch dann, genauso wie wir im Publikum, einen alten, bemerkenswerten Stummfilm angesehen, dabei aber mit freier Improvisation Musik gemacht. Heraus kam eines der intensivsten Live-Erlebnisse, die einen Raum füllen können. Wie hast Du das zusammen mit Daniel Erdmann und der Schlagzeugerin erlebt?

Das Filmkonzert war wirklich eine großartige Erfahrung. Das Ganze hat sich ziemlich spontan entwickelt. Wir hatten zwar ein Stück vorbereitet, das Daniel komponiert hatte, und dieses Stück haben wir beim Soundcheck geprobt. Danach haben wir uns gemeinsam den Film angesehen und entschieden, dass wir frei improvisieren möchten. Für mich war es eine willkommene Gelegenheit, frei zu spielen. Nach den intensiven Konzerten am Montag und Dienstag sehnte ich mich nach etwas, bei dem ich einfach loslassen konnte. Die freie Improvisation bot mir die perfekte Gelegenheit dazu. Es war fast wie eine Art meditatives Erholungsprogramm – eine Art musikalisches Wellness-Programm, bei dem ich mich zurücklehnen und die Musik fließen lassen konnte.

Also war der Film die einzige Partitur und das in Echtzeit?

Ja, genau. Ich würde sogar sagen, der Film wurde unser viertes Bandmitglied in diesem Moment. Natürlich habe ich den Film genau beobachtet und wusste, worum es ging und wie sich die Szenen entwickelten, was uns half, die musikalischen Timings und Übergänge zu gestalten. Die hohe Kunst lag darin, mit der Musik nicht zu konkret oder zu theatralisch zu werden, sonst wird es schnell übertrieben. Aber es gab vieles, was völlig überraschend entstand. Etwa die Szene, in der die zwei Züge aufeinandertreffen und fast aufeinanderprallen. Da hatte ich einen lauten Moment ganz für mich allein, als die anderen beiden kurz aufhörten. So etwas ist sehr witzig und gleichzeitig sehr intensiv.

Ist das nicht eine unglaubliche Herausforderung, musikalisch spontan auf etwas richtig zu reagieren, was in einem fertigen Film schon gründlich ausgearbeitet ist?

Ja, aber gerade im Zufälligen liegt immer eine große Chance. Oft habe ich auch einfach entschieden, etwas alleine zu spielen, ohne genau zu wissen, was die anderen beiden machen würden. Aber vieles, was dabei herauskam, hat super funktioniert. Am Ende waren wir mal in einem Groove drin, der wie Disco oder Techno war und völlig gegen die Atmosphäre des Films ging, aber gerade deshalb so spannend war.

Nach diesen diversen Konzerteindrücken mit Dir war ich neugierig, wie sich all diese Einflüsse und Begegnungen im musikalischen Konzept Deines eigenen Trios aufgehen würden. Würdest Du sagen, Dein Trio ist eine Art Gefäß, in welches die ganzen diversen Erkundungen und Abenteuer einfließen, damit etwas noch Tieferes draus entsteht?

Absolut. Mit meinem Trio mache ich mein eigenes Ding, da habe ich völlige Freiheit. Als Bandleaderin und Komponistin bringe ich meine eigenen Ideen und Visionen in das Trio ein. In meinen anderen Projekten spiele ich oft in verschiedenen Besetzungen und Stilen, was auch spannend ist, aber das Trio ist mein persönliches „Labor" für meine musikalischen Experimente. Hier kann ich unterschiedliche Klangfarben und harmonische Strukturen realisieren, um weiter an meiner musikalischen Vision zu arbeiten.

Welcher Freiraum eröffnet sich?

Vor allem auch die Freiheit, mit avantgardistischen und disharmonischen Klängen zu experimentieren. Das bedeutet nicht, dass die Musik des Trios nur kompliziert oder abstrakt ist. Im Gegenteil, wir schaffen oft eine sehr zugängliche und kraftvolle Musik. Die Herausforderung liegt darin, eine Balance zwischen Schönheit und Reibung zu finden. Ich liebe es, harmonische Strukturen zu verwenden, die auf den ersten Blick „schön" erscheinen, aber dann mit unkonventionellen Elementen kombiniert werden, um eine besondere Spannung zu erzeugen. Diese Mischung, die sowohl eine gewisse Ordnung als auch eine spontane, chaotische Qualität besitzt, erzeugt für mich eine besondere Tiefe.

Also braucht Schönheit auch immer eine Prise Rebellion?

Das ist auf jeden Fall so. Neulich habe ich zum Beispiel einige neue Stücke geprobt, die ich im Januar komponiert habe. Diese Stücke enthalten viele komplexe Harmonien, die zwar an sich schön klingen, aber die ich bewusst so arrangiere, dass sie Raum für spontane Reibung bieten. Meine Herangehensweise ist es, eine Art von Klang zu erzeugen, bei dem die Struktur und die Harmonien zwar vorhanden sind, aber nicht dominieren. Man kann mit den Tönen spielen, auch wenn sie nicht unbedingt zum harmonischen Grundgerüst passen. Für mich ist es wichtig, dass die rhythmische Struktur feststeht, aber zugleich harmonische Freiheit immer erlaubt und erwünscht ist. So machen gerade so manche „falsche" Töne den Klangteppich doch erst interessant. Es geht mir darum, eine Spannung zu erzeugen, die über die klassischen harmonischen Strukturen hinausgeht. Vielleicht so eine Art Schönheit durch Chaos. Ich kann Harmonien nutzen, die an sich schön sind, aber ich füge Elemente hinzu, um die Gefälligkeit oft sogar zu „zerstören". Gerade so eine Anti-Schönheit öffnet neue Perspektiven, welche die Musik auf eine andere Ebene bringt.

Olga, ich danke Dir für dieses spannende Gespräch!

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