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Die Jazzahead 2016
TEXT: Stefan Pieper | FOTO: Stefan Pieper
In Zeiten sinkender Nachfrage nach CDs komme es umso mehr auf eine gute Live-Präsenz an – formuliert Uli Beckerhoff das Gebot der Stunde für alle, die auf dem eng umkämpften Musikmarkt Fuß fassen wollen. Der geradezu inflationäre Ausstoß neuer Tonträger ist mittlerweile kaum noch zu bewältigen, obwohl der durchschnittliche Jazzfan nach wie vor eine CD pro Monat käuflich erwirbt. Dass diese, in der Publikumsumfrage der Jazzstudie des nrwjazz e.V. ermittelte Zahl überhaupt so hoch ist, erstaunte den jazzahead-Gründer im Gespräch sogar etwas. Aber für eine gute Selbstvermarktung der Musiker brauche es heute vor allem eine „optische Bewerbungsunterlage“ - und die jazzahead bietet den hier auftretenden Künstlern etwas: Wer von der Jury für eines der „Showcase“-Konzerte auserkoren wird, der bekommt ein aufwändig produziertes Video als „Visitenkarte“ über das eigene Tun. Eine Gage gibt es allerdings nicht für angereisten Bands, wohl aber zum Glück endlich Unterstützung bei den Reisekosten. Ein Showcase-Auftritt soll vor allem andere Gigs nach sich ziehen, die auch vielleicht mal bezahlt werden dann. Wichtigste Anforderung: In 30 Minuten alles an künstlerischer Qualität auf den Punkt bringen. „Das müssen Musiker leisten können. Vorstellungsgespräche sind ja auch nur zeitlich begrenzt“ gibt Uli Beckerhoff hier ganz den geschäftstüchtigen Pragmatiker.
Inhaltlich ans eingemachte geht es auf der jazzahead. So stellte die Union Deutscher Jazzmusiker (UDJ) die Ergebnisse der bundesweiten Studie zu Lebens- und Arbeitsbedingen der Jazzer in Deutschland vor. Fazit: Im Jazz wird zu wenig verdient, jeder zweite ausgebildete Profimusiker muss mit weniger als 1000 Euro pro Monat über die Runden kommen. Dabei ist der kunstfertige Qualifikationsgrad doch durchaus mit dem eines Chirurgen vergleichbar, lautete ein zutreffender Kommentar auf der Podiumsdikussion mit dem Autor Thomas Renz und weiteren UDJ-Vertretern. Vieles davon wussten wir alle schon, jetzt gibt es viele belastbare Zahlen für diese Zustände und hoffentlich neue politische Signalwirkungen. Solche Signale in viele Richtungen erhofft sich auch der Verein nrwjazz e.V.. Was die Macher die der Studie über die Situation des Jazz in NRW nun weiter damit anstellen, war eine bezeichnende Frage? Antwort: Jetzt liegt das Mandat, bei allen, die die Broschüre aufmerksam lesen und daraus Ideen für eine intelleigente Ausgestaltung der Jazzwirklichkeit in NRW entwickeln und vor allem auch verwirklichen.
Am höchsten baut auf der jazzahead alljährlich der Messestand des Jazz-Bundeslandes Baden Würtemberg. Im Musterländle ist vieles sehr gut um die Jazzförderung bestellt, und es geht anscheinend auch sehr aufgeräumt zu in Sachen einer – auch in NRW dringend nötigen! - Kräftebündelung der Akteure. Davon zeugte am Baden-Würtemberg-Stand allein schon ein kleines Faltblatt, auf dem kurz, aber übergreifende sämtliche Akteursgruppen, Förderinstanzen, Vereine und Verbände und eben solche Spielstätten zu sehen sind! (Nrwjazz bietet so etwas auch....siehe jazzdatenbank nrw.) Auf jeden Fall zeigt sich am Beispiel von Baden-Würtemberg, welchen Sinne öffentlich geförderte Landesarbeitsgemeinschaften für den Jazz machen.
Jazzszenen aller Länder vereinigt euch: Die Jazznationen schicken Delegationen nach Bremen, verwandeln die Messehalle in eine bunte Flaniermeile mit landestypischen Köstlichkeiten wie erlesene Südtiroler Weine oder auch einem exquisiten Whisky Tasting, das etwa dem Schottischen Länderstand einen vorübergehenden Massen-Zulauf bescherte. Und es sind jetzt noch überall die sehr leckeren Schweizer Schokoriegel in der Kameratasche und anderswo. Die Schweiz als diesjähriger Länderschwerpunkt präsentierte sich mal wieder mit ganz viel Lebendigkeit und Humor – ebenso mit profundem Knowhow, wie man sich für den Jazz engagiert. In der Schweiz gibt es jazzverbände, die auf ihren Internetportalen über Beratungsangebote für organisatorische Fragen des Musikerdaseins anbieten. Nick Bärtsch und die Band „Hildegard lernt fliegen“ rockten die Glocke, dass es krachte. Den Vogel in Sachen schrägen Einfallsreichtums schoss der Schlagwerker Lucas Niggli ab: Er vertrieb aus dem stillen Örtchen, nämlich der Herrentoilette im Messegelände jede Stille: Surreal war es schon, als es hinter drei verschlossenen Klokabinen-Türen zu klingen, zu trommeln und zu muszieren begann, danach „besprangen“ Niggli, Erika Stucky, Akkordeon und Marc Unternährer die paralysierten Toilettenbenutzer mit einem wilden Musikhappening. Der Klangforscher Lucas Niggli bringt wohl neue Befunde aus Bremen mit, welche bis dahin ungeahnten Resonanz-Potenziale in den Wand-Urinoirs schlummern - und die Tatsache, dass die drei unter diesen Bedingungen sogar Eminem-Stücke musizierten legte einmal mehr die universale Kompetenz offen, die gute Jazzmusiker auszeichnen.
Damit Jazz nicht nur in Kellern und Nischen vor sich hinmodert, sondern wieder zu direkt zu den Menschen kommt, braucht es frische Präsentationsformen und zuweilen auch mal Happenings wie diese! Ebenso wie der Jazz solch umtriebige, etwas anarchisch gewitzte, zugleich künstlerisch kompromisslose „Charakterköpfe“ wie Lucas Niggli mehr denn je braucht...
Und schon hatte man sich wieder ausgiebig an vielen Ecken und Enden festgeredet, dass schon wieder viel zu viele Konzerte unfreiwillig „geschwänzt“ werden mussten. Da ist der reine Musikfan, der sich ganz privat den vielen Konzerten hingeben kann und nicht ständig von permanemtem Networking „vereinnahmt“ ist, fein raus. Die jazzahead zeigt, wie Jazzkonzerte von großen Publikumsmasssen gestürmt werden, wenn man diese nur durch entsprechende Imagekampagnen zu locken weiß. Sämtliche jazzahead-Konzerte, nicht nur jene auf dem Messegeländer, waren in der Regel sehr gut gefüllt.
Ein Konzert-Highlight, das bei vielen Fachteilnehmern und Musikliebhabern vorher schon dick im Kalender markiert worden war, musste leider ausfallen– nämlich ein Gastspiel der norwegischen Saxofonistin Mette Henriette. Website und Programmheft enthielten dem Besucher ein weiteres spektakuläres Sonderkonzert vor - nämlich einen Auftritt des aserbeidschanischen Pianisten Elchin Shirinov mit seinen beiden fantastischen britischen Trio-Partnern- in der Verbindung von aserbaidschnaischer Mugham-Musik und hochkarätigem Jazz liegt nach wie vor ein hohes Entdeckungspotenzial. Man sollte nie aus großer Kunst ein Geheimnis machen – dieser Appell muss hier auch mit etwas mahnendem Zeigefinger an die jazzahead-Macher gehen!
Sehr physisch, sehr direkt war die Performance des Bassisten Omer Avital. Auf lebendigem Höchstlevel demonstrierte das Pablo Held Trio, welche Früchte das langjährige Pflegen einer konsistenten Band-Chemie trägt. Pino Minafras Großformation erfuhr im Schlachthof eine Erweiterung durch eine kreatives Frauen-Gesangsquartett. Großen spontanen Einfallsreichtum verbreitete ein Duo zwischen Nils Wogram an der Posaune dem Pianisten Bojan Z. Und es gibt auch mal wieder was wirklich Neues: Der Sänger Ola Onambule kam aus London nach Bremen und stammt ursprünglich aus Nigeria. Mit seiner stimmlichen Präsenz und seinem eigenwilligen Charme schaffte er es mühelos, einen ganzen, weiten entrückenden Kosmos innerhalb von 30 Minuten zu zaubern. Unglaublich diese zart leuchtenden Falsett-Nuancen in Onamblues Gesang, die manchmal Assoziationen an die unerreichte Antony Hegarty aufkommen ließen. Und es blitzen immer wieder Farben auf, wo der Gesang des gebürtigen Nigerianers unmittelbar afrikanisch und eben nicht afro-amerikanisch klingt. Ola Onbambule kommt übrigens bald nach NRW zur drei Konzertterminen in Mönchengladbach und Dorsten – unbedingt vormerken!
Ola Onbambule kommt übrigens am 20. und 21. Mai nach NRW zur zwei Konzertterminen in Mönchengladbach und Dorsten – unbedingt vormerken!