#32 „Absinthe“
Provencalische Impressionen des Gitarristen Dominic Miller
TEXT: Karl Lippegaus | FOTO: Christoph Müller
DAS UNMÖGLICHE
Ein Dichter sagte: "Am liebsten ist mir
Die Musik, die man gar nicht hören kann."
Meinerseits denke ich, das ersehnteste Leben ist jenes,
Das man gar nicht leben kann.
(Konstantinos Kavafis, 1897)
Auszüge aus einem Gespräch mit Dominic Miller, Hilton Hotel Köln, 23.1.19
Mit diesem Album "Absinthe" wollte ich davon erzählen, wo ich gelebt habe. In einem irdischen Kräftefeld, das besonders die Künstler anzog: Maler, Dichter, Schriftsteller, eine ideale Umgebung. Ich meine den Luberon in Südfrankreich. Viel Unglaubliches ist dort passiert, vor allem bei den französischen Malern des Impressionismus.
"Absinthe" - wir wissen, worauf sich das bezieht, ist der Opener. Es gibt ein paar Pinselstriche, dann kommt Manu Katché an den Drums herein. Für mich ist es wie die Bewusstwerdung, dass man, naja, ganz schön fertig ist.
Der Grund, warum ich es "Absinth" genannt habe? Weil das eine Art gemeinsamer Nenner ist - nicht nur was die Gewohnheiten der Künstler betrifft; es hat auch etwas mit der zu Kopfe steigenden, gleichsam psychedelischen Natur dort zu tun. Sich im tosenden Mistral wiederzufinden in schwierigen Situationen. Du lebst ja auch dort, Karl, du weisst also, wovon ich rede. Es hat etwas Verhextes, gerade den Mistral betreffend. Dieser hellblaue Himmel.Vielleicht bist du verkatert oder durchlebst gerade eine schwierige Zeit – wie leicht wird daraus ein Kampf."Absinthe" dachte ichmir als eine Hommage: eine Widmung an all die Poeten, die eine Menge Risiken auf sich nahmen: um sich aus ihrer Komfortzone zu bewegen, um einen künstlerischen Ausdruck ringend.
"Mixed Blessing" hat was von einem Folksong. Ich spüre eine starke Affinität zu amerikanischer und schottischer Folkmusik, zu Leuten wie Dick Gaughan, Bert Jansch, Neil Young, Van Morrison – die Liste ist schier endlos. Dafür hole ich meine Martin-Gitarre 'raus und los geht's, der Titel 'Mixed Blessings' bedeutet nicht viel.
Ich entdeckte die Gegend um den Luberon eher zufällig. Meine Frau und ich verbrachten mal die Ferien dort, zu Beginn des neuen Jahrtausends, 2003 muss das wohl gewesen sein, danach kamen wir jedes Jahr wieder.2007 durchfuhr mich ein Geistesblitz, ich sagte zu meiner Familie: 'Jetzt los, wir kommen...und...laßt uns hier leben!' Ich muss eigentlich nirgendwo auf dem Planeten leben. Als jemand, der ständig irgendwo auf der Welt ist, könnte ich in Peru leben - es würde keinen Unterschied machen für das, was ich tue. Mindestens neun Monate im Jahr bin ich auf Achse. Dann entschloss ich mich, in den Luberon zu ziehen und dort zu leben. Daraus sind dann zehn Jahre geworden.
Als Kind hatte ich Wurzeln in Argentinien. Für mich klang der Schulhof spanisch und mein Zuhause war englisch. Ich befand mich ex patria - in der Lage eines Auswanderer-Kindes mit starken Wurzeln in Argentinien, aber auch mit britischen Roots. Nach Grossbritannien zogen wir um, als ich 13 war, zwischendurch hatte ich in den USA gelebt. Wurzeln, wo immer ich meinen Fuß hinsetze.
Am meisten zuhause fühle ich mich mit den Leuten, die ich liebe, das kann überall auf dem Planeten sein. Jetzt bin ich in Köln; wäre meine Familie bei mir, wäre das mein Zuhause. Ich habe keinerlei patriotische Gefühle irgendein Land betreffend.
"Verveine" (Johanniskraut) ist eine Pflanze, die kennst du aus Südfrankreich. Man hat sie im Garten und macht eine Tisane, einen Kräutertee aus den Verveine-Blättern. Dieses Stück war total improvisiert. Was passierte war: Manfred Eicher gefiel ein Outro aus einem anderen Song und er sagte, 'Geht wieder 'rein, jetzt gleich, spielt einfach mit diesen beiden Akkorden.' Eine 100%-ige Improvisation, ein Take, einfach um m<l zu sehen was passiert. Ohne ihn wäre es nicht zustande gekommen.
Nach zehn Jahren im Luberon lebt Dominic Miller, auch der Kinder und der besseren Schulbedingungen in Paris.
Da fühle ich mich unbedeutend, besonders nachdem ich all diese unglaublichen Kunstgalerien besucht habe. Ich bin ins Theater gegangen, sogar ins Ballett! Zur Zeit hat mich der 'Jerusalem-Komplex' gepackt: alles ist einfach too much!
So fühlt man sich, unbedeutend, in Paris. Du kommst an und keinem fällt's auf, du kannst die Stadt wieder verlassen, das merkt auch keiner. Das Dorfleben, das ich davor zehn Jahre lang erlebte, war anders.
"Absinthe". Die wortwörtliche Bedeutung ist: absentia – Abwesenheit. Nicht da sein, abwesend, sowas gefällt mir: ein Entfliehen, eine Flucht.
Einige dieser außergewöhnlichen Künstler verfügten über eine hohe Kunstfertigkeit. Mag man sich auch mit Absinth betrinken - wenn überhaupt, wird es deine Schritte zwar etwas abschwächen, doch es wird dich an Orte bringen, von denen du nie träumtest. Es bedarf allerdings eines gewissen Könnens, um dort hinzugelangen. Gesichter grün anmalen, den Himmel in purpur malen.Mit den Kontrasten der Farben spielen. Hat man das Können und den Hintergrund, macht es das Ganze noch stärker. "Absinthe" – der Albumtitel ist nur eine Metapher für die Entdeckung einer anderen Seite deines Wesens. Wohin du auf andere Art nicht hin gelangt wärst.
"La Petite Reine" ist ein anderer Begriff für Fahrrad. Die kleine Königin ist französischer Folk-Slang. Der Grund warum es so heißt ist, dass ein anderes Stück "Bicycle" heißt, s ist eine Reprise dieses Stückes.
On the road - unterwegs zu sein ist bei mir von der Performance geprägt. Ich bereite mich innerlich vor, es nimmt einen Charakter an, dann kommt es nur noch drauf an, wie du Gitarre spielen kannst. Zuhause fällt mir das Komponieren leichter, weil vor mir kein Publikum steht, da bin ich viel allein, Einsamkeit umgibt mich, alles ziemlich offensichtlich. Während ich soviel allein bin, entdecke meine Probleme, meine Schwächen, Dinge, die mich an mir stören. Das versuche ich in die Musik zu bringen.
Vieles beim Komponieren passiert ohne Gitarre. Erstmal suche ich nur ein Konzept, bevor ich Töne aufschreibe. Ich betreibe Radsport und wenn ich dabei auf eine Idee komme - sei es ein rhythmisches Motiv, sei es einfach ein Feeling -besteht mein Talent einfach darin, mir meine Gitarre zu nehmen und etwas Sinnvolles daraus zu machen. Das klappt nicht immer - aber wenn, ist es eine wunderbar, wenn das Konzept Realität wird.
"Christiania". Als ich in Kopenhagen war, lebte ich mit meinem Sohn in einer Hippie-Gemeinschaft in Christiania. Es ist eine geschlossene Gruppe – jeder ist high, entspannt und friedlich. Es gibt keine Gesetze – ein gutes Modell für die Gesellschaft, denke ich. Denn jeder ist cool und es ist mein Tribut an die Philosphie, dass jeder cool ist, ohne eine Politik oder was immer.
KL: Mir fiel als erstes deine wunderbare Art auf, die Saiten anzureißen, als ich dasVorgängeralbum „Silent Light“ zum ersten Mal hörte. Arbeitest du sehr gezielt daran, wie der Finger die Saite anzupft? Bei den Pianisten würde man von Anschlag sprechen.
Das tue ich. Für mich ist Sound der König. Wenn ich keinen guten Klang erziele, komme ich nicht voran. Ich könnte Stunden damit verbringen, nur ein oder zwei Töne zu spielen. Was einen Musiker ausmacht ist der gute Sound. Die Intonation. Das Lernen im Umgang mit Obertönen. Ich liebe es zu üben, es würde dich verrückt machen, wie lange ich das aushalte. Für mich ist es wie Yoga oder Kampfkunst. Einen guten Klang finden, langsam und kontrolliert schwingen lassen, nicht zuviel Dynamik. Lass die Dynamik weg - spiel' einfach nur.
Ich mag ehrlich gesagt keine Tonleitern und Arpeggios üben. Was ich übe ist Bach, weil ich weiß, ich werde nie richtig gut darin. Was mir jedochgelingt ist diese Abfolge von Tönen. Bei Bach wimmelt es von Tonleitern und Arpeggios. Wenn ich langsam bringe, wird es wie eine Yogaübung. Auf diese Weise verbessere ich meinen Sound.
"Étude" heißt so, weil es verdammt schwer zu spielen ist. Nicht mal ich bekomme es richtig hin. Ich schrieb es in der Tradition von Villa-Lobos und einigen anderen, die Stücke für Studierende schrieben. Es hat ein romantisches, französisches Feeling.
KL: Wir sprechen mit dem Gitarristen Dominic Miller über sein am Album "Absinthe", das in der Provence, mit Blick auf den sehr nahe gelegenen höchsten Berg der Region entstand, dem "windumtosten Berg", dem Mont Ventoux. Und natürlich kommt das Gespräch mit Mr. Miller, der zehn Jahre im nahen Luberon-Bergmassiv gelebt hat, irgendwann auf Gitarren.
Das sind nur Werkzeuge, aber natürlich will man die in gutem Zustand haben, um damit arbeiten zu können, also bevorzuge ich qualitativ gute Gitarren. Doch gibst du mir eine minderwertige Klampfe, werde ich trotzdem was herausholen. Diese Objekte müssen gespielt werden. Für meine Begriffe gibt es gar keine schlechten Instrumente. Sogar die Gitarre meines Nachbarkindes direkt von nebenan werde ich in die Hand nehmen. Das Ding ist vermutlich völlig verstimmt, dann kompensierst du das. Ich lege die Gitarre nicht vorsichtig in ihren Koffer, hole sie wieder raus, wische sie ab und flippe aus, wenn jemand anderer sie hält. Nein – Musikinstrumente müssen gespielt werden. Man sollte nicht süchtig danach werden, wie der Name schon sagt sind es nur Instrumente.
Ich wusste noch nicht, wer was in der Musik tat. Ich war noch ein Kind, nicht sonderlich interessiert an Musik. Mit 13-14 Jahren fing es erst an, vor allem hörte ich viel Hendrix. Meine Soundsphäre draussen war argentinischer Folklore und etwas Tangomusik, was mir nicht bewusst war. Es ist keine Überraschung, dass viel von dieser Musikalität, der Rhythmik und der Art von Synkopierung ihren Weg gefunden hat in meine musikalische DNA. Ich hatte einfach keine andere Wahl.
"Bicycle" heißt so, weil ich viel Fahrrad fahre, die Idee dazu kam mir auf dem Fahrrad und es hat eine zirkuläre Bewegung. Ein zirkuläres Riff, das nicht aufhört, es geht den Hügel rauf und runter, aber es hört nicht auf.
Mir wurde wohler, als die Besetzung der Platte feststand. Besonders mit Santiagos Bandoneon als Speerspitze der Gruppe, ab da fiel es mir leichter mit den Charakteren im Kopf, was zu schreiben, es ähnelt der Auswahl von Schauspielern. Sagen wir, ich habe ein Stück in zehn Szenen und brauche Schauspieler, die über diese Themen improvisieren können. Ich hatte zwar ein Skript, aber es ist ein loses Drehbuch. "Absinthe" ist 50% choreographiert und 50% einfach loslassen.
Ombu ist ein Baum, der vor allem in Argentinien wächst. Unglaublich dicke Wurzeln. Ganze Familien versammeln sich mit ihren Angehörigen unter diesen Bäumen. Im Mittelpunkt steht der Baum, der Schatten während der Hitze spendet. Damit gehe ich zurück zu meinen argentinischen Wurzeln.
Ich kam anfangs mit einer Struktur an; er sagte 'Ok, zeig mal her...' Dann spielte ich ihm die Sachen vor und es gefiel ihm. Am Abend vorher hatte ich Manfred erzählt: 'Ich will das Album 'Absinthe' nennen, von absentia, dem Ringen der Seele, dem Mistral...' Er sagte, 'Wirklich? Interessant.'Dann präsentierte ich ihm morgens die Stücke vor und er meinte, 'Das ist kein Absinth, laß' es raus! Gib' mir etwas von dem, was du mir gestern abend erzählt hast.' Er trieb mich aus der Komfortzone. Dabei hatte diesen durchdachten Plan: 90% strukturiert und 10% improvisiert. Doch er meinte,'Nein, ihr müsst nochmal 'ran. Vergesst mal alles, was ihr über dieses Stück wisst. Geht rein und nehmt es nochmal auf.'
"Ténèbres"ist die Finsternis. Manfred mochte dieses Stück sehr. (...) K: Ein berühmtes Stück in der Klassik sind die Lektionen der Dunkelheit, Les Lecons de Tenebres, von Couperin...? Wirklich? Das wusste ich nicht.
Eine Schallplatte ist wie ein Foto. Sie zeigt, wo ich zu dieser Zeit meines Lebens war. Es passiert viel, ich werde älter,damit muss ich mich jetzt befassen.
Ein Album ist wie ein Tagebuch - falls es jemanden interessiert. Ich stelle mir gerne vor, hier oben etwas zu haben, das dich zum Nachdenken bringen kann, wo du in deinem Leben bist. Ich tue das nicht für Musiker, schon gar nicht für Gitarristen. Hätte ich das vor, wäre ich beim falschen Label. Sie haben keine vom Ego getriebene Philosophie.
„Saint Vincent“ ist dem Gitarristen der Paul Simon-Band gewidmet, die „Rhythm of the Saints“ machte, Vincent Nguini (1952-2017) aus Kamerun. Ein paar Monate lang, während ich mit der Band auf Tour war, wurde Vincent für mich zu einem Guru. Er verlor nicht viele Worte, aber wenn hatte es Gewicht.
Plattentipp:
Dominic Miller, „Absinthe“
mit Santiago Arias (Bandoneon), Mike Lindup (Keyboard), Nicolas Fiszman (Bass), Manu Katché (Drums)
Februar 2018, La Buissonne, Pernes-les-Fontaines