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30 Jahre "Jazz in Essen"

nrwjazz gratuliert der engagierten Konzertreihe

Essen, 07.07.2014
TEXT: Heinrich Brinkmöller-Becker | FOTO: Heinrich Brinkmöller-Becker

Essen hat es gut, verfügt die Stadt doch über ein reichhaltiges Jazzangebot mit unterschiedlichen Anbietern und damit über eine vitale Szene. Der Konzertreihe Jazz in Essen – von Peter Herborn 1984 gegründet und von Berthold Klostermann (BK) seit 1992 fortgeführt – gelingt es seit dreißig Jahren, hoch interessante Vertreter des Jazz ins Ruhrgebiet zu holen, die Übersicht der Konzerte vereint sämtliche illustre Namen des nationalen und internationalen Jazz. Der Intendant des Schauspiel Essen und Hausherr des Grillo-Theaters, Christian Tombeil (CT), unterstützt seit 2012 das Projekt in der Veranstalterrolle. Jazz in Essen ist somit ein fester und etablierter Bestandteil des Theaters und in diesem Sinne sicherlich auch eine Bereicherung der Theaterarbeit. Die jährliche Ehrung der Jazz Pott-Preisträger ist der Konzertreihe angegliedert. Nähere Informationen zu Jazz in Essen finden sich in der gleichnamigen Festschrift. Wir gratulieren!

HBB: 30 Jahre Jazz in Essen, wie fühlt man sich als Veranstalter, als Gastgeber?

CT: Wir fühlen uns eigentlich gut, die Saison ist ja vorbei...

BK: ... 30 Jahre älter...

CT: Genau, wir freuen uns beide, dass wir nach den schwierigen Zeiten, wo es darum ging, die Reihe überhaupt am Leben zu erhalten, 30 Jahre feiern konnten. Wir haben ein tolles Wochenende gehabt mit wirklich bemerkenswerten Konzerten. Auch das Programm für die nächste Saison ist in trockenen Tüchern, wieder mit außergewöhnlichen Cross over-Projekten. Das ist mir wichtig zu sagen: Hier finden auch Projekte statt, die eine Anbindung ans Theater haben, wie z.B. bei Erika Stucky. Sie ist ja eigentlich eine Performerin. Das gilt auch für Julia Hülsmann, die mit ihrem Weill-Abend bei uns war. Aber es gab natürlich auch große „klassische“ Namen, wie Jack DeJohnette. Oder wie im nächsten Jahr noch einmal Steve Swallow.

BK: Richtig, Erika Stucky gehört auf die Theaterbühne und Julia Hülsmann gehörte inhaltlich auch auf die Theaterbühne. Ähnlich machen wir weiter: Zwischen den Jahren gibt’s wieder etwas Spezielles, weil das Publikum dann auch ein anderes ist: Dieses Mal wird Iiro Rantala spielen. Er spielt Klavier und ist auch Schauspieler, hat eine Frau, die auch Schauspielerin ist. Sie werden Sketche aufführen. Solche Programme müssen einfach auf die Theaterbühne.

HBB: Sieht der Theatermann das auch so? Was treibt einen Theatermann dazu, sein Haus für den Jazz zu öffnen und die ganze Infrastruktur, die Technik dieser Musik zur Verfügung zu stellen?

CT: Ja, einmal habe ich selber eine große Affinität zur Musik, da komme ich eigentlich her. Dann haben Berthold und ich festgestellt, dass wir eine stärkere Kontinuität in der Disposition und inhaltlich erreichen, als immer nur von der Hand in den Mund zu leben, wie es in den fünf Jahren davor war. Das ist jetzt insgesamt so gewachsen. Ich habe dann z. B. vorgeschlagen, den Jazz-Pott da mit reinzunehmen. So haben wir „Jazz in Essen“ – sicherlich auch aus der Not heraus, da die Stadt gesagt hat, sie werde die Reihe nicht mehr machen – neu aufgestellt, und zwar so, wie wir es gerne hätten. Das ist das Ergebnis. Wir versuchen jetzt, fünf Konzerte pro Saison kontinuierlich zu machen. Das ist für uns als Theater natürlich auch eine Programmerweiterung. Und auch fürs Publikum ist das gut, so können die Leute beides sehen, Schauspiel und Jazz. Außerdem ist das Grillo-Theater einfach super geeignet: Wir haben einen Raum in mittlerer Größe mit außergewöhnlich guter Akustik und Atmosphäre. Diese Synergien führen dazu, dass wir die Reihe erhalten können. Rückschauend kann man sagen: Wir haben inhaltliche, künstlerische und pragmatische Entscheidungen getroffen, die richtig waren und zum Fortbestand der Reihe beigetragen haben. Außerdem hatten wir in den letzten drei Jahren viel Spaß und viel Erfolg mit etlichen ausverkauften Konzerten.

BK: Wir sind ja nicht erst, seitdem Christian Tombeil hier Intendant ist, hier im Hause, sondern schon seit über 20 Jahren, d. h. vorher waren andere Intendanten da. Ich kann ganz deutlich den Unterschied sehen, was es bedeutet, wenn sich ein Intendant für die Reihe interessiert. Das merke ich nicht nur in der Zusammenarbeit, das merkt man auch nach außen hin: Die Präsentation ist anders, wir sind in den Medien des Theaters vertreten, wie z. B. im Spielzeitheft und anderen Publikationen. Dies betrifft auch die Planung: Die langfristige Planung ist neu, das war früher nicht so, dass ich eine ganze Reihe im Voraus planen muss. Jazzclubs planen eben anders, deshalb sind auch die Angebote der Agenturen anders, sie sind nicht so sehr darauf eingestellt, die großen Konzertsäle zu bedienen, sondern eher die kleinen Orte. Eine langfristige Planung macht es in vielerlei Hinsicht einfacher.

HBB: Wenn man sich die Festschrift anguckt, stellt man fest: Alles, was Rang und Namen im Jazz hat, ist hier aufgetreten. Gibt es bei der Programmierung ein Konzept, einen roten Faden bei der Programmplanung, oder ist das meiste von Zufälligkeiten abhängig?

BK: Von vielen Parametern, die sind nicht unbedingt zufällig, aber es ist immer ein Abwägen: von Terminen, Wer ist unterwegs?, Ist er schon dagewesen?, Ist es gut, ihn noch einmal zu bringen, wenn er schon dagewesen ist?

CT: Wenn ich so von außen draufschaue: Bertholds Präferenzen liegen schon eher im experimentelleren, moderneren Jazz als im Mainstream. Das spiegelt sich auch im Programm wider. Aber zum Experimentellen gehört für Berthold neben Erika Stucky eben auch DeJohnette, der natürlich eigentlich ein Klassiker ist, aber in der „Essener Besetzung“ dann doch nicht mehr so klassisch war. Letztendlich kommt es immer auf die Mischung an. Deshalb ist es auch so, dass wir uns nicht mit der Philharmonie, wo es ja auch ein ausgezeichnetes Jazz-Angebot gibt, wehtun. Es ist vielmehr eine Ergänzung des Programms, weil wir so wenig Doppelungen z. B. in der Stilistik haben. Zum Beispiel Julia Hülsmann: Der große Saal in der Philharmonie wäre für Hülsmann viel zu groß gewesen und der RWE-Pavillon eine akustische Katastrophe. Sie war hier perfekt aufgehoben. Oder auch das Jubiläumskonzert mit Nils Wogram und den Streichern. Auch hier wäre die Philharmonie zu groß gewesen und der RWE-Pavillon akustisch auch falsch.

BK: Ich greife das mit Wogram gerne auf, lasse Künstler mit neuen Projekten spielen. Auf diese Weise ergeben sich so bestimmte Kontinuitäten. Die gehen allerdings auch in den Mainstream-Bereich. Ich würde da die Stilistiken wie Mainstream oder Experimentelles nicht so einfach zuordnen und das eine gegen das andere ausspielen wollen. Also, ich habe Ron Carter da gehabt, Ray Brown, ich habe fast alle Bassisten hier gehabt, die eine Rolle gespielt haben, ob E-Bassisten oder Kontrabassisten oder auch Schlagzeuger. Man muss jetzt nicht die Schlagzeug-Reihe komplett machen, aber wenn man im Nachhinein darauf guckt, dann ist das auch ganz schön zu sehen, dass von Art Blakey bis Manu Katché z. B. alle da gewesen sind. Ich habe natürlich auch schon einmal den ein oder anderen „Helden“ dabei. Oder wir hatten eine Fusion-Band wie Yellowjackets vor fünf Jahren. Da kamen dann auch Leute zum Konzert, die in den 80er Jahren solche Musik gemacht haben, die sonst gar nicht unbedingt in diese Reihe gekommen wären. So gibt es manches Interessante, manche Leute haben ihre Relevanz und ihre Meriten, die verbürgt sind durch Jazz-Lexika und die Jazz-Geschichte, und dann andere, die inhaltlich interessant sind, wenn z. B. nächstes Jahr Nik Bärtsch kommt mit Ronin, dann finde ich das einfach klasse, Minimal und Groove zu verbinden. Wenn wir von sich ausschließenden oder sich komplementär ergänzenden Programmen gegenüber der Philharmonie sprechen: Wenn Nik Bärtsch und Ronin bei uns spielen und im gleichen Halbjahr er in der Philharmonie mit Bugge Wesseltoft und Hauschka spielt, also mit einem ganz anderen Projekt, das auch gar nicht unter seinem Namen läuft, da kann man mal jemand von einer anderen Seite sehen in einem größer angelegten Projekt.

HBB: Noch einmal zur Dramaturgie: In den 30 Jahren hat sich da ein wenig verändert. Z.B. Doppelkonzerte gibt es nicht mehr.

BK: Das könnte man vielleicht noch einmal in der neuen Rolle als Programmteil des Hauses neu überlegen. In diese Richtung haben wir noch nicht gedacht, zumal ja auch das Geld nicht mehr geworden ist. Die Sachen sind einfach teurer geworden, was wir ein bisschen dadurch auffangen konnten, dass Technik nicht mehr zugebucht werden muss wie früher. Also Bands, das ganze Drumherum ist teurer geworden, Verträge sind aufwändiger als vor 30 Jahren. Mit gleichbleibendem Etat könnten wir Doppelkonzerte gar nicht mehr machen.

(In einer kleinen Unterbrechung – CT wird ans Telefon gerufen – entspinnt sich ein Gespräch über „Jazzinitiation“.)

HBB: Wie bist du zum Jazz gekommen?

BK: Ich habe halt meine Obsession zum Job gemacht. Ich habe mich vorher schon dafür interessiert, sonst könnte man das nicht machen, man braucht eine gewisse Repertoire-Kenntnis, um da überhaupt erst einmal einzusteigen. Ja, bei mir war das etwa im Abitur-Alter, als ich auf Jazz aufmerksam wurde. Es gab immer Zugangsmusiken, also Musiken, die etwas vom Jazz hatten, aber kein Jazz waren, die dann aber Leute darauf aufmerksam gemacht haben. Bei mir war das Brian Auger, Brian Auger and The Trinity, den habe ich mit Julie Driscoll im Saalbau, der heutigen Philharmonie, gehört. Da haben die ein Stück gespielt und auch angesagt: „Bumpin’ on Sunset“ von Wes Montgomery. Meine erste Jazzplatte war dann „The Further Adventures of Jimmy and Wes“ von Jimmy Smith und Wes Montgomery. Da war die fette Gitarre – ich habe damals Gitarre gespielt, allerdings mehr so „Protestsongs“ à la Bob Dylan. Ich fand dieses Groovige gut und v.a. die Hammond-Orgel. Da kamen diese fette Gibson-Gitarre und der Orgel-Sound zusammen und dies von den beiden amtlichen Koryphäen gespielt. Von da aus ging das dann los. Im Studium hatte ich es mir zur Gewohnheit gemacht, jede Woche eine Jazz-Platte zu kaufen. Da habe ich dann gekauft, was bei J.-E. Berend so beschrieben war. Coltrane, die erste Charlie Parker-LP.

HBB: Jazz-Veranstaltungsorte gab es ja in Bochum weniger.

BK: Ja, aber ich kannte ein bisschen vom Jazz, bin auch schon mal zu den Festivals in Moers und Altena gefahren. Während meines Amerikanistik-Studiums gab es dann im 2. Semester ein Proseminar „Der moderne Negerroman“. Da habe ich viel gelesen und gemerkt, dass es da viele Bezüge zur schwarzen Musik gab. Das ist für mich ein Thema geworden, darüber habe ich meine Dissertation geschrieben, weil ich im Laufe der Zeit gemerkt hatte, dass das nicht so systematisch untersucht worden war. Von daher hat mich beides begleitet: Interesse für Literatur und Musik. Ich bin kein „Dr. Jazz“, kein Musikwissenschaftler, ich komme nicht von der Musik her, sondern eher von den Cultural studies.

(Nach der Unterbrechung geht es weiter...)

HBB: Essen als Jazzmetropole: Neben Jazz in Essen hier im Grillo-Theater gibt es die Philharmonie, das Katakomben-Theater, Stiftung Zollverein, Schloss Borbeck, Zeche Carl, Bürgermeisterhaus Werden, Jazz-Offensive Essen-Festival und nicht zuletzt die Folkwang-Universität mit einer renommierten Jazzabteilung...

BK: Alles sind Angebote von Veranstaltern, die eigentlich im Kern etwas anderes machen. Die machen auch Jazz wie wir auch. Das ist typisch für die Situation in Essen. Es gibt hier eben nicht das domicil wie in Dortmund. Aufs Ruhrgebiet bezogen ist das ein Spezifikum für Essen, Jazz läuft immer unter „ferner liefen“, z. B. die zwei Jazz-Veranstaltungen auf Zollverein im Jahr, meistens mit Jan Garbarek oder die WDR-Big Band, aber sonst ist da ja nichts in der Richtung. Bei der Zeche Carl habe ich nicht den Eindruck, dass da Jazz groß angenommen wird. Deswegen liegt der Schwerpunkt da auf anderen Sachen. Als Jazz-Ort wird das nicht so ganz angenommen. Früher war das schon so, da haben viele gespielt, es gab in den 80er Jahren dort gut besuchte Konzerte.

HBB: Als nrwjazz interessiert uns natürlich der Netzwerk-Gedanke. Gibt es da bei den genannten Veranstaltern in Essen Absprachen der verschiedenen Veranstalter, Zusammenarbeit, oder ist eher ein gewisses Konkurrenzprinzip vorherrschend?

CT: Es ist ja überall das Gleiche. Konkurrenz belebt das Geschäft, aber natürlich kennt Berthold die Kollegin von der Philharmonie und umgekehrt, wir stimmen das Angebot ab, dass wir z. B. am Wochenende nicht gleichzeitig zwei Riesenkonzerte haben.

BK: Also jetzt haben wir im Vorfeld die Programme ausgetauscht, um auch inhaltlich sehen zu können, was die anderen so machen.

CT: Unser Jazzpublikum hier – in der Philharmonie ist es noch extremer – ist ja nicht das Zielpublikum der Zeche Carl, sondern bei uns ist das Publikum schon Ende 30, Anfang 40 bis 100. Eben auch, weil das Ambiente so ist. Deswegen sagt auch Berthold programmatisch, eine Salsa Crossover-Geschichte hier zu machen, ist Quatsch, da müsste man eigentlich alle Stühle herausräumen dürfen. Das muss man dann woanders machen. Ein anderer Aspekt: Die Philharmonie und wir verfügen über Instrumente, über Flügel beispielsweise, die andere für viel Geld anmieten müssen. Auch das ist wichtig. Du willst dir ja jetzt nicht z. B. Brad Mehldau holen und bietest ihm dann einen gruseligen Flügel, auf den er lieber verzichten würde. Das sind ja auch Kriterien, die für den Ort eine Rolle spielen.

BK: Was das Publikum angeht, gibt es nur eine ganz geringe Schnittmenge zwischen den einzelnen Publika an den verschiedenen Orten. Von der Philharmonie sehe ich wenige Leute, die auch zu uns kommen.

HBB: Beim Konzert vor kurzem mit Dirk Raulf und Meret Becker in der Zeche Carl war in der Tat ein ganz anderes Publikum ...

CT: Oh ja, der ist übrigens bei uns in der Casa auch als Komponist mit seiner Schauspielmusik zu „Lucky Happiness Golden Express“ mit dabei. In diesem Stück spielt er auch live. Da sieht man wieder den inhaltlichen Anknüpfungspunkt. Oder ich versuche Berthold immer wieder dazu zu überreden, Jens Thomas zu holen, der eben zwei Jahre lang bei Elmar Goerden in Bochum Konzerte gemacht hat, die leider hinterher nicht mehr so gut funktioniert haben. Aber ich finde, seine Ennio Morricone-Sachen haben auch etwas mit Theater zu tun.

BK: Jens Thomas war ja auch hier, mit Lauer.

CT: Ja, Lauer war hier, meine Ex-Frau hat ja mit denen gespielt. Das fand ich jetzt auch bei Galliano so toll. Man merkte ja, da hatten wir ein Publikum, das kannte die Fellini-Filme, das merkte man.

BK: Bei unserem Jazzpreis kann man dann auch mal spezielle Dinge machen. Da biete ich auch Gruppen, die ich sonst nicht machen würde. Georg Graewe z. B., unser nächster Preisträger, wenn der mit Gerry Hemingway und Ernst Reijseger kommt, das ist keine einfache Musik.

HBB: Z. B. bei Erika Stucky habt ihr ihre Bochumer Fans nicht so ganz erreicht...

CT: Doch, wir sind auch in überregionalen Jazzmagazinen vertreten, deswegen ist ja eine langfristige Planung so wichtig. Wir bewerben so Konzerte schon langfristig, das trägt auch seine Früchte. Bei unseren Konzerten lagen wir immer bei über 150 Besuchern, wir waren auch oft ausverkauft. Da braucht man einfach einen langen Atem.

HBB: Deshalb frage ich ja auch: Wie erreicht man im Verbund das Publikum im Einzugsbereich von nrwjazz, also das Publikum im Ruhrgebiet oder in ganz NRW? Wie erreicht man die Interessierten über den lokalen Rahmen hinaus?

BK: Im Terminkalender von nrwjazz sind unsere Angebote ja veröffentlicht.

CT: Unser großer TUP-Monatsplan liegt auch in Bochum aus, der wird ja in 52 Ruhrgebietsstädten verteilt. Man darf nicht unterschätzen, dass das Interesse schnell an der Stadtgrenze aufhört. Leute aus anderen Städten zu uns zu ziehen, funktioniert eher bei Leuten wie Swallow, DeJohnette oder Carter. Die, die innerhalb der Stadtgrenze bleiben, lieben ihre Reihe und kommen wegen des Gewöhnungseffekts: „Das kennen wir, da gehen wir hin.“
Und noch einmal zurück: Da wir eben nicht vor 20 bis 80 Leuten spielen und Synergien in der Reihe ‚Jazz in Essen’ hergestellt haben, ist das eine absolut sinnvolle und erhaltenswerte Geschichte. Wir bekommen ja auch keine Förderung von 6-stelligen Beträgen. Bei der Jazz-Reihe ist das natürlich ganz anders als beim Theater, wir müssen eben über 50 % einspielen. Da gibt es zwar auch Sponsoren, zum kleinen Teil ist auch noch die Stadt beteiligt, aber das ist nicht so wie beim Theater.

HBB: Wagen wir abschließend einen Blick in die Zukunft. Wenn man in der Festschrift das Intendanten-Zitat liest: „Weg von verspielter Experimentierfreude, Aufbruch zu ruhigem Understatement“, heißt das, jetzt wird alles langweiliger, routinierter?

CT: Nein, für mich zielte das mehr darauf ab, dass der Rahmen steht, dass die Abläufe in ruhigerem Fahrwasser sind. Das wünsche ich mir. Es macht einfach irgendwann keinen Spaß mehr, sehr kurzfristig und unzuverlässig planen zu müssen mit allen auch finanziellen Unwägbarkeiten. Wir sind froh, hier die Reihe in einem jetzt festen Rahmen zu haben. Die Reihe ist allseits gewollt, die Reihe läuft hier weiter. Dieses Nicht-von-der-Hand-in-den-Mund-Leben-Müssen macht schon Sinn.

HBB: Nach 30 Jahren werden die Macher, aber auch das Publikum grauer. Wie erreicht man neue, jüngere Zielgruppen?

CT: Wir machen uns da eigentlich keine Sorgen. Das ist bei den Konzerten eben völlig unterschiedlich. Bei der Stucky z. B. kommen jedes Mal ganze Familienverbände. Bei Galliano war wiederum ein ganz anderes Publikum, auch ein jüngeres, mit vielen Frankophilen, die wahrscheinlich mit der Musik eher ein Pariser Café assoziieren...

BK: ... die Italo-Cineasten ...

CT: Wir wissen, es gibt einen harten Kern. Dann gibt es immer sehr stark eine punktuelle Orientierung nach dem, was wir machen. Das Publikum ist dann sehr unterschiedlich. Ich schätze, wir sind deutlich im Altersdurchschnitt unter der Philharmonie.

BK: Das Publikum reagiert auf die Bands, es kommt ganz darauf an, wer spielt. Ich sehe mich mehr als Basisarbeiter. Ich arbeite ja auch an anderen Fronten auf dem Basislevel wie z. B. an der VHS. Ich glaube, das Jazzpublikum reagiert schon darauf, was es erwartet, was man kennt, was einen Namen hat. Einfach weil Jazz Jazz ist, kommt keiner.

CT: Ich glaube, für den Jazz gilt das Gleiche wie für die klassische Musik: Es wurde schon alles totgesagt, aber letztendlich überlebt es. Man sieht es ja auch an den jungen Künstlern in dem Bereich. Bei uns Wogram z. B., dann gibt es hier bei der Folkwang-Universität die Professur ...

BK: Wobei die Jazz-Studenten nicht ins Konzert kommen.

CT: Die kommen aber auch nicht in die Philharmonie.

BK: Die kommen nur, wenn sie selber oder ihre Freunde spielen.

CT: Die gehen auch nicht ins Theater. Die Studenten fahren heim. Von den 40.000 Studenten wohnt ja nicht einmal die Hälfte in Essen. Dazu kommt, dass die Studenten wahnsinnig zu tun haben. Zur Zuschauerentwicklung kann ich nur sagen: In den letzten drei Jahren ist es bei uns kontinuierlich mehr geworden. Das liegt nicht daran, dass die Programmatik mehr Richtung Mainstream gegangen wäre. Wir hatten jetzt nicht jemand wie Gregory Porter, der in der Philharmonie 1.900 Leute bringt, sondern wir hatten hier Leute, über deren Resonanz wir uns selbst wunderten wie z. B. beim ersten Konzert mit der Stucky vor zwei Jahren zwischen den Jahren, da waren wir eher skeptisch.

BK: Das bezog sich aber eher auf den Zeitpunkt, weil wir vorher zwischen den Jahren noch nie etwas gemacht hatten. Auch beim letzten Jahreswechsel hatten wir mit Céline Rudolph überlegt: Das könnte passen. Da gab es noch zusätzlich den Lokalbezug, weil sie in Essen mal unterrichtet hat. Für mich war es erstaunlich voll. Das hat mir gezeigt, dass man doch etwas anderes machen kann als ein normales Jazzkonzert. Zumal die amerikanischen Bands zu dem Zeitpunkt sowieso nicht unterwegs sind. Die touren erst wieder ab Februar. Also muss man hier in Europa etwas zusammenstellen.

CT: Zum Synergieeffekt möchte ich abschließend auch noch sagen: Ich finde es ganz toll, dass wir die Fotoausstellung von Ihnen auch hier machen konnten. Nicht nur für die Jazzfreunde, die in die Konzerte gegangen sind, sondern auch andere Leute sagen immer wieder: Mensch, das sind ja tolle Fotos, das ist wirklich interessant. Das Publikum nimmt das intensiv wahr. Das ergibt eine wunderbare Synergie: Von Theater und Musik spannen wir hier im Hause den Bogen zur mittlerweile völlig anerkannten Kunstform Fotografie.

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