#26 Von den Fügungen des Zufalls
Der Pianist Roberto Negro
TEXT: Karl Lippegaus | FOTO: Flavien Prioreau
Das Trio nennt sich DaDaDa. Ihr Pianist und Komponist Roberto Negro stammt aus Turin und verbrachte vierzehn Jahre seiner Kindheit in Kinshasa/Zaire, (fast) "ohne ein Wort in einer der Landessprachen zu lernen, aber mit klassischem Klavierunterricht." Der weithin gefeierte Sopransaxofonist Émile Parisien stammt aus Cahors/Südwestfrankreich und fand bei den Marsalis-Workshops in Marciac zum Jazz, er studierte am Konservatorium in Toulouse und formierte ein erstaunliches Quartett. Als Dritter im Bunde begleitet der italienische Meister-Perkussionist Michele Rabbia die abenteuerliche Reise durch Roberto Negros fiktive Welten. Émile hatte Roberto zufällig bei der Einweihung einer Ausstellung des Malers Pierre Soulages, weltberühmt für seine schwarzen Bilder, in Lyon kennengelernt, worauf die gemeinsame Faszination für Ligeti den Ausschlag für die Gründung eines Trios gab.
Ihre CD "Saison 3" stellt hohe Anforderungen an die Spieler, subtile Stimmungen zu treffen, präzise artikuliert wie ein diffiziler Schauspieler-Text. Eine unprätentiöse Leichtigkeit gehört zum Zauber dieses Chamber-Jazz. Anders als der Titel vermuten ließe, geht es nicht um eine weitere Erkundung der Dada-Welten Tristan Tzaras, sondern vermutlich (die CD enthält keinerlei Text) um Klangspiele, Kinderspiele, Cartoons ohne Bilder. Grossartig der gesangliche Sound, der aus dem Sopransaxofon tönt, während das Klavier das Übrige für die jeweilige Szene liefert. Man habe lange an diesen Stücken gearbeitet, sagt Parisien, und jedes Hören enthüllt in der Tat neue Facetten. Ich sprach mit Roberto Negro nach seinem ersten öffentlichen Piano-Solokonzert beim Jazzdor-Festival in Strassburg, das alle Anwesenden von der ersten bis zur letzten Minute in seinen Bann zog.
*
Wie hast du diese Premiere als Solopianist heute erlebt, Roberto?
"Naja, es passierte viel an Improvisationen, aber die sind gesteuert, alles hat eine Architektur.Vieles war ausnotiert, das wird dann live entwickelt. Alles muss gut vorbereitet sein, ohne dass man sich viele Fragen stellt, man weiss wovon man redet und legt los. Jetzt weiss ich, was ich verbessern kann. Vor allem bei einer Solo-Performance heißt es, sehr fokussiert zu sein, denn die gesamte Musik kommt nur von dir. Du versuchst einfach dein Bestes zu geben."
Anfangs gab es viel an elektronischen Klängen aus dem Klavier. Ich musste an das berühmte Bild von René Magritte denken, "Ceci n'est pas une pipe". Es kam mir vor, als wolltest du uns sagen: Das hier ist kein Klavier!
(Lacht.) "Ja, es hat was davon. Gleich zu Beginn, als ich diese Performance konzipierte, schwebten mir dafür zwei große Teile vor. Der erste Teil mit einem gleichsam 'verhüllten' Klavier, vielen Präparationen und Elektronik, was für mich neu ist. Ich fing damit an, als ich mit Michele Rabbia in dieser Gruppe DaDaDa arbeitete, zu der auch Émile Parisien gehört. Für mich war es eine echte Herausforderung, auf die ich große Lust hatte, dieses Morphing, etwas Cinematographisches, was mir sehr entspricht. Dann ergab sich die Frage, wie gehe ich damit um, wie öffne ich die Klangräume? Im weiteren Verlauf ergab sich eine Spiegelform: Man fängt irgendwo an, es kommt zum Umkippen, allmählich entferne ich die Präparationen aus dem Flügel, und es strebt dem Ende zu. Am Punkt, wo es umzukippen droht, wird der Spiegeleffekt deutlich. Das Energielevel steigt, es wird dichter und räumlicher, es konvergiert auf einen zentralen Punkt hin."
Du sprachst vom Cinematographischen. Es gibt ja auch immer eine gewisse Theatralik bei deinen Auftritten. Das fiel mir schon beim Jazzèbre-Festival in Perpignan bei DaDaDa sehr auf. Ist das nun ein zentrales Anliegen von dir, den ganzen Körper in die Performance einzubeziehen?
"Es ist ziemlich unkontrolliert, manchmal würde ich es gerne etwas eindämmen, zuhause arbeite ich daran. Ich finde es gut, bestimmte Dinge zu kontrollieren, die Wahl zu haben, wie man sie einsetzt, damit eben nicht der ganze Körper ständig involviert ist. Aber vor allem wenn es wie heute abend um eine Premiere geht, vergisst du alles, du beugst dich tief über die Musik, ich denke dann nur an sie. Und mein Körper geht mit mir durch, voilà! Es ist also in der Tat unfreiwillig. Was die anderen Kunstrichtungen betrifft – Theater und Literatur vor allem liebe ich sehr. Ich habe einen Charakter, der einfach zum Theatralischen tendiert, im Leben und im Alltag, vielleicht kommt es deshalb so deutlich zum Vorschein in meiner Musik. Aber dahinter steckt kein echter Vorsatz. Konkret war für mich der einzige Moment heute im Konzert von bewußter Gestik geprägt, als ich mich gleichsam 'blockierte', nur einen Akkord spielte und dabei strikt geradeaus blickte. Es war wie eine kleine Regieanweisung an mich selbst: tack!! Aber der ganze Rest, die Körperbewegungen, waren nicht bewusst so gewollt."
Ich kann das vielleicht noch etwas präzisieren: In jedem neuen Kapitel deiner Improvisation kommt eine neue Geste von dir.
"Ok, einverstanden."
Dein Körper reagiert auf die Improvisation. Es gibt zwei Aspekte: Einmal dich, der die Musik hervorbringt. Aber auch ein enorm konzentriertes Dir-selbst-zuhören. Die Musik wirft dir etwas zurück. Und du reagierst auf das, was das Klavier auslöst.
"Ja, ja. Und es geht sogar noch weiter: Was im Moment produziert wird, wo ich es produziere, existiert weiter, das bin dann nicht mehr ich. Genau das ist es! Schön beobachtet – es hat gleich ein Bild in mir hervorgerufen, als du das sagtest. Man sendet etwas aus und empfängt etwas – eine fundamentale Sache. Das erlaubt, das man wie besessen ist: man ist im Begriff, etwas zu tun und gleichzeitig läuft es durch dich hindurch. Hier betraf es nur mich, ich war ja allein, aber wenn ich mit anderen spiele, widerfährt es uns allen. Es gibt nichts Schlimmeres als wenn das nicht passiert! Mit den Jahren kommt man immer besser damit zurecht, man kennt sich besser und hat den Stress, auf einer Bühne zu sein, besser im Griff. Natürlich hat es auch Momente gegeben, wo man einfach nicht bei der Sache war. Du bist auf der Bühne, du spielst, aber im Kopf bist du woanders – eine Katastrophe. Es gelingt dir nicht, diesen Moment zu genießen, es kommt nicht rüber, du fühlst nicht was du spielst. Und die, die dich kennen – die merken es auch. Die Leute können ein Konzert von dir gut finden, dass du selbst überhaupt nicht mochtest. Weil du mit dem Kopf ganz woanders warst. Es geht darum, die Energie zu kanalisieren und sie ganz in die Musik hineinströmen zu lassen. Wenn ich mich noch mehr auf meinen Körper besinne, kann ich den Klang noch besser ausformen."
Sogar als du nach und nach die Objekte, mit denen du die Klaviersaiten präpariert hattest, in eine kleine Kiste geworfen hast, war das immer sehr musikalisch, es passte einfach alles zueinander.
"Ja. Ok, das war jetzt sehr bewusst. Für das Morphing und die Form des Spiegels bedurfte es einer Installation. Ich wollte diese kleinen Objekte nicht einfach irgendwo hinlegen und kam auf die Idee mit der Box. Die benutze ich immer, um meine Sachen herumzuschleppen. Nur ein kleiner Teil der Musik bestand erstmal aus realen Klavierklängen, der Rest war stark bearbeitet (trafiqué). Nach und nach nimmt man Dinge weg, aber das muss auch alles musikalisch Sinn machen. Wie dieses Ostinato in der linken Hand. Man spielt und auch das wird eine musikalische Aktion."
In Perpignan hast du irgendwann diese Spraydose genommen und gesprüht. Auch dieser Klang ergab für mich absolut Sinn im Kontext des Ganzen. Eine Sache, die das Klavier dir in dem Moment nicht liefern konnte.
"Ja, ich dachte plötzlich an dieses Druckluft-Ding, das man zur Reinigung von PC-Tastaturen verwendet. Die Dose darfst du übrigens nicht mit ins Flugzeug nehmen. Natürlich war das ein Effekt, ich schnappe mir die Flasche und sprühe damit. Gut, das gibt es auch."
Du bist Mitglied des Tricollectifs, was ist das?
"Ein Kollektiv aus zehn Personen, bestehend aus acht Musikern, einem Autor/Schauspieler und einem Graphiker/Videokünstler. Acht dieser zehn Leute kennen sich seit ihrer Kindheit in Orléans, die beiden anderen sind ich und der Gitarrist Guillaume Maknine, aus dem Trio des Geigers Théo Ceccaldi. Wir leben alle in Paris und organisieren ein jährliches Festival, das immer Ende März in Orléans stattfindet, wir sind ein Verein mit einer Struktur, dem angegliedert ist ein Plattenlabel. Natürlich sind alle sehr mit ihren Projekten beschäftigt, das wurden mit der Zeit immer mehr, und es gilt nun die richtige Form zu finden, um weiter in Verbindung zu bleiben, menschlich wie musikalisch. Wir haben alle viel Respekt füreinander und mögen uns alle sehr. Es gibt eine Großformation, wo wir alle zusammenkommen, Le Grand Orchestre du Tricot. Es gibt viele Gemeinsamkeiten und wir verspüren immer den Drang, etwas zusammen zu kreieren. Das wird auch so bleiben, aber es muss gut organisiert sein, damit das mit der Zeit nicht verwässert wird. So bleibt es ein wunderbares Abenteuer. Momentan gibt es jeden Monat zwei Abende mit Konzerten des Kollektivs in Paris und das bereits erwähnte dreitägige Festival im März. In Orléans haben wir das Glück, dass man uns eine fantastische große Bühne zur Verfügung stellt, La Scène Nationale d'Órleans."
Es gibt immer mehr Jazz-Kollektive in Frankreich, stimmt's?
"Ja, überall im Land. Jedes funktioniert nach eigenen Regeln und wir lernen viel voneinander. Natürlich tickt jeder anders, aber wir sind gut vernetzt: Tricollectif, Capsule, Coax, Grollectif und viele andere."
Was ist die Story hinter deinem Album "Garibaldi Plop"?
"Das Foto zeigt meinen Vater und zwei seiner Kumpane 1945, ein Jahr nach Kriegsende auf einer Pilgerreise. Ich habe dieses Foto seit langem zuhause vor mir und wollte etwas mit dem Cellisten Valentin Ceccaldi und dem Drummer Sylvain Darrifourcq machen. Ich brauche immer einen Auslöser, um was zu komponieren. Valentin sah eines Tages dieses Foto bei mir und meinte, 'Das ist ja riesig.' Und ich, 'Na klar.' Diese Blicke der drei Männer - man glaubt, es sei gestellt, sie schauen irgendwie ins Leere und scheinen gleichzeitig etwas zu fixieren. Irgendwie mysteriös. Ich weiß natürlich warum, aber der Betrachter kann sich tausend Geschichten dazu ausdenken. Es stehen zwölf geöffnete Weinflaschen vor ihnen auf dem Tisch. Man würde also sagen, die drei Kerle sind alle schwer angetüdelt, irgendwie verloren. Tja, man kann sich vieles sagen..."
"Die Story ist folgende: Diese drei Männer auf dem Foto sind alle 21 Jahre alt und während des 2. Weltkriegs waren sie Widerstandskämpfer in den italienischen Alpen. Ich will's kurz machen: Ein letztes Mal hatten sie die Grenze zu Frankreich überquert, auf einer sehr gefährlichen Mission, und da sagten sie sich: Also gut, falls wir das überleben sollten, gehen wir auf eine Pilgerreise. Sie pilgern also durchs Piemont, sind in der Nähe von Turin, und besuchen dort eine Tante von einem der drei. Die öffnet für sie eine Weinflasche nach der anderen, alten Wein, und jeder dieser Weine ist umgekippt. Untrinkbar. In dem Moment schoß mein Onkel dieses Foto von ihnen. Ich nannte mein Album "Garibaldi Plop" – einmal weil alle drei der Brigade Garibaldi angehörten und zweitens wegen des Geräuschs, das der Korken beim Öffnen macht. Um diese Story herum konstruierte ich meine Musik. Es ist auch eine Widmung an meinen Vater. Er ist einer der letzten Überlebenden und heute 93 Jahre alt. Es gibt nicht viele, die sich sagen können, diese Epoche erlebt und während dieser dunklen Epoche unserer Geschichte gekämpft zu haben."
Natürlich habe ich vor unserem Treffen ein wenig über dich recherchiert, Roberto. Aber bitte erzähle du uns, wie du überhaupt Musiker geworden bist...
"Ich bin Italiener, geboren in Turin, meine Eltern waren Unternehmer. Nach dem Krieg hatte mein Vater ein Diplom in Agronomie. Dann kam der Wiederaufbau, mein Papa war unternehmenslustig, er hat sich da ´reingekniet und Karriere gemacht in Turin. Hat eine Fabrik gehabt, die glaube ich Kabel herstellte. Ende der siebziger, Anfang der achtziger Jahre hatte er Lust, sein Leben zu ändern, aus mehreren Gründen, ich erspare euch die Details, aber meine Eltern siedelten sich dann, nach etlichen Reisen und Begegnungen, in Kinshasa an, der Demokratischen Republik Kongo, damals noch Zaire."
"1981 wurde ich in Turin geboren und war das einzige Kind meiner Eltern, die vorher schon mit anderen Partnern Kinder bekommen hatten. Damals war eine Scheidung in Italien noch ein großes Ding, es war die Bleierne Zeit. Es war also keine schlechte Idee loszulassen und zu verschwinden, also zogen sie fort. Und so verbrachte ich die ersten vierzehn Jahre meines Lebens.
In Zaire lernte ich französisch, das war die Sprache der Ausgewanderten in Kinshasa. Zu meinem großen Bedauern habe ich nie Lingala gelernt. Mein älterer Bruder spricht es sehr gut, er besuchte dort das Gymnasium und hat es spontan gelernt, ich dagegen nur ein paar Worte."
Roberto, du hast dann in Kinshasa Klavierunterricht bekommen, wie ich las auf Wunsch deiner Mutter – in klassischer Musik...
"In gewissem Sinne war das auch ein großer Unsinn. Ich fange mit fünf, sechs Jahren an, mit meinem Lehrer, der aus Zaire kommt, aber bis in die Fingerspitzen die europäische Kultur kennt. Denn das wird so erwartet. Das Klavier kommt von dort und es wird in europäischen Familien erwartet, darin die Kinder zu erziehen. Die Sache hatte aber auch ein Gutes, und wenn ich Unterricht geben würde, übernähme ich die selbe Methode wie damals mein Lehrer: Das heißt, er fing wirklich mit dem Instrument an. Er zeigte mir Dinge und ich machte sie nach. Eine Methode der Imitation. Noten lesen lernte ich erst danach, nicht während dessen. Wenn du zuerst Noten lesen und erst danach spielen lernst, was du da liest, ist das meiner Ansicht nach eine destruktive Methode, sie zerstört jeden kreativen Elan. Für mich stellt der Klang den ersten Kontakt mit der Musik dar: Klang und das Hervorbringen dieses Klanges. Egal was für ein Klang das ist: es geht um die Kontrolle über diese Hervorbringung, um das Zusammenbringen der Klänge. Und je weiter du voranschreitest, umso stärker kultivierst du das, du lernst zuhören, Noten lesen, komponieren. All das sind wichtige Vektoren für die Übermittlung und dienen deiner inneren Bereicherung. Aber ausgehen muss dies vom physischen Bezug zum Instrument, Dafür bin ich meinem Lehrer in Kinshasa auf ewig dankbar, ich besuchte ihn zweimal in der Woche, und weiß, das brachte mich auf meinen Weg und machte mir letztendlich überhaupt Lust weiterzumachen."
"Ich lebte in Kinshasa mit einer Familie, die sich überhaupt nicht für Musik interessierte. Wir hatten drei Schallplatten zuhause – die Sonaten von Beethoven und ich weiss nicht mehr was noch. "La Mer" von Debussy, das war's auch schon."
Ich höre manchmal einen starken Ravel-Einfluss bei dir...
"Oh, ich bin ein großer Fan von Ravel, Messiaen, ich liebe sehr die französischen Komponisten des XX. Jahrhunderts. In Kinshasa kannte ich die Musik, die ich am Klavier spielte, also die Klassiker. Dann gab's noch das, was wir auf Schülerparties hörten: den Euro-Dance der 90er Jahre. Und natürlich zwangsläufig die Musik aus Kinshasa. Auf den Straßen und im Radio ist diese Musik dort natürlich omnipräsent, viele Rhumbas und solche Sachen. Das hat mich geprägt, ohne dass ich loszog und danach suchte. Jenseits unserer Gartenmauer lag eine Evangelistenkirche, wo jeden zweiten Tag eine Messe stattfand, in Afrika heisst das, es wird drei Stunden lang gesungen.
Ich habe einen rhythmischen Ansatz, der nur von dort kommen kann. Weder hat mir das eine Schule vermittelt noch habe ich es en détail von Schallplatten gelernt.
In Europa habe ich mich mehr mit Fragen der Harmonik und der Stimmung befasst, mit Rhythmus und Groove dagegen kaum, gleichwohl sind sie präsent."
"Als ich nach Europa kam, ließ ich vom 14. bis 18. Lebensjahr das Klavierspiel erstmal bleiben, spielte Gitarre und sang in Rockbands. Kleine Krise eines Jünglings. Es war erstmal undenkbar, dass ich Berufsmusiker wurde, in meiner Umgebung gab's nichts dafür, also schrieb ich mich an der medizinischen Fakultät in Grenoble ein, und da traf ich Leute, die Musiker waren. Musik hat mich mein ganzes Leben lang beschäftigt, aber dort spürte ich, das war es, was ich machen sollte. Ich studierte drei Jahre Medizin, dann Molekular-Biologie, das verbrauchte weniger Zeit, dann brach ich auch dieses Studium ab. Es war eine Katastrophe für meine Familie, ich war immer ein guter Schüler gewesen, und sie wollten unbedingt, dass ich studierte. Ich sagte nein, ich will Klavier spielen. Ich immatrikulierte mich am Konservatorium von Chambery, weil die dortige Jazzabteilung am nächsten lag. Bis dahin hatte ich nur eine klassische Ausbildung bekommen. Und warum Jazz? Das war nicht so sehr ein Stilfrage, denn bis ich 18 wurde, hatte ich noch nie eine Jazzplatte gehört, sondern weil Jazz für mich synonym war für Freiheit des Ausdrucks und Improvisation. Was falsch ist, denn Improvisation findet sich jenseits aller Stile. Doch ich blieb dabei und entdeckte die ganze Geschichte einer Musik."
"Ich zog dann rauf nach Paris, wie man hierzulande sagt, denn Frankreich ist sehr auf Paris zentriert. Dort lernte ich dann die Leute des Tricollectif kennen – Theo und Valentin Ceccaldi, der erste war Adrien Chennebault, der Drummer. Mit ihm formierten wir gleich ein Trio, als ich 2008 in Paris ankam. Danach ergaben sich zahlreiche Projekte, Ich verspüre keine Lust mich zu wiederholen, Ich weiss, dass ich ein eigenes Universum habe, in dem sich bestimmte Dinge immer wieder finden. Aber ich strebe auch die Erneuerung und neue Erfahrungen mit anderen Musikern an. Ein Projekt kann entstehen, weil wir Lust haben, ein bestimmtes Repertoire umzusetzen, ich mag auch sehr Chansons. Immer versuche ich, sozusagen eine globale Architektur anzupeilen, und dem einen Rhythmus einzuhauchen. Man sagt mir – und ich bin mir dessen bewusst, dass es ein cinematographischer Ansatz ist. Oft ist es wie eine Reise, da sind Kompositionen, die weniger als eine Stunde dauern, durch verschiedenste Etappen, aber mit einem gespannten roten Faden, einer Spannung. Was ich komponiere steht immer in Bezug zu den Leuten, mit denen ich spiele. Bei "Garibaldi Pop" dachte ich gezielt an Sylvain Darrifourcq und an Valentin Ceccaldi. Vieles entstand noch während der Proben; beide haben eine starke Persönlichkeit, und ich suchte nach einer Musik, die darauf Bezug nimmt. Da passieren die berauschendsten, schönsten Dinge."
Dann erzähle ich Roberto in einer späteren Mail, weil mich Hörer mehrmals darauf angesprochen hatten, von einem Sänger, der so ähnlich heißt wie er: Roberto Blanco, ein Schwarzer. Und Roberto Negro, ein Weißer. Ich schicke ihm einen YouTube-Link und er schreibt sofort zurück: "Ich finde ihn super!!! Bin echt begeistert. Danke für den Tipp, Karl." Vielleicht wird mal 'ne Platte daraus: Roberto Negro plays Roberto Blanco?! On sait jamais!
Plattentipps:
Dadada Saison 3 (Label Bleu)
Garibaldi Plop (Tricollectif)
Kimono (Tricollectif)
Tribute to Lucienne Boyer (Tricollectif) mit Le Grand Orchestre du Tricot
Loving Suite pour Birdy So (Tricollectif)
La Scala (Ayler, 2013) mit Théo und Valentin Ceccaldi
Horizons (Cristal, 2017) mit David Enhco Quartet
... und 2018 erscheint seine erste Piano-Solo-CD...
Kontakt: www.robertonegro.com; www.tricollectif.com
Konzerte: www.inclinaisons.com
Merci an Roberto, Émile Parisien (Paris), Marion Piras (Bordeaux) und Philippe Ochem (Strassburg)
Fotos: Roberto Negro und Cover zu "Garibaldi Plop"