Bild für Beitrag: #21 “Musik machen heißt für mich imaginäre Orte schaffen” | Jozef Dumoulin und die Faszination des Fender Rhodes
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#21 “Musik machen heißt für mich imaginäre Orte schaffen”

Jozef Dumoulin und die Faszination des Fender Rhodes

Köln, 04.03.2016
TEXT: Karl Lippegaus | FOTO: Karl Lippegaus

Jozef Dumoulin wuchs nicht auf einer einsamen Insel im westlichen Flandern auf. Es hatte immer viele Gemeinsamkeiten mit anderen gegeben – ausgenommen sein Interesse am Jazz. Damit war Jozef erstmal wirklich ganz allein gewesen. Eines Tages kam er darauf, an einem E-Piano zu experimentieren, das gar nicht mehr hergestellt wurde. Ich traf Jozef Dumoulin in Paris, an der Place de Clichy, wo einst Truffaut seinen aufwühlenden Film „Les 400 Coups“ (dt. Titel: „Sie küssten und sie schlugen ihn“) gedreht hat. Und schon hatten Jozef und ich unser erstes Gesprächsthema. Aber blenden wir doch erstmal ein wenig zurück.

Anfangs wollte Harold Rhodes nur eine transportable Alternative zum Klavier erfinden, um Soldaten bei der US-Armee die Möglichkeit zum Musizieren zu garantieren. Im 2. Weltkrieg tüftelte Harold Rhodes an einem transportablen elektrischen Klavier. 1965 war endlich der Prototyp fertig, doch vergingen nochmal Jahre, bis das Fender Rhodes Piano (auch bekannt als E-Piano oder elektrisches Klavier) sich durchsetzte. Vor allem im Jazz - auf legendären Alben wie „Bitches Brew“ von Miles Davis, bei Weather Report virtuos gespielt von Joe Zawinul, in Chick Corea’s Return to Forever, in Zappas Band von George Duke oder bei Herbie Hancocks Headhunters. Das Fender Rhodes-Piano prägte den Sound des Jazz-Rock. Obwohl es nicht mehr gebaut wird und in den achtziger Jahren in Vergessenheit geriet, besteht seit etwa zwanzig Jahren ähnlich wie bei den Synthesizern eine große Nachfrage nach den alten Modellen.

Chick Corea oder George Duke, der faszinierende Keyboardmann bei Zappa, modifizierten den Fender Rhodes-Sound durch Ringmodulator und andere Effektgeräte. Heutzutage ist der Belgier Jozef Dumoulin auf den Spuren der großen Vorgänger. Sein aktuelles Album mit dem Projekt Lilly Joel, die CD heißt „What Lies In The Sea“, markiert die weiteste Distanz vom üblichen Fender Rhodes-Sound; die Klänge hängen manchmal in der Luft wie tiefe Wolken über einer endlosen Wasserfläche. Die gefühlvoll verzerrten Sounds rauen glockenähnliche Akkorde auf und werden in Echtzeit vom Computer weiterbearbeitet. Mit „A Fender Rhodes Album“ (2014) hatte Dumoulin einen Meilenstein des Genres in die musikalische Landschaft gesetzt. Sein Trio mit dem Saxofonisten Ellery Eskelin und dem Drummer Dan Weiss nennt sich The Red Hill Orchestra (CD: „Trust“, 2014). Es verbindet Soundscaping mit spontaner Improvisation und erforscht die Parameter von Klang, Raum und Zeit.

Jozef Dumoulin wuchs in Ingelmunster auf, einem Dorf im westlichen Flandern auf. In einer sehr zersiedelten Gegend mit viel Industrie. In Belgien ist der Urbanismus eine einzige Pleite, sagt Dumoulin. Man müsse sich das so vorstellen: ein Bauernhof neben einer Fabrik, daneben ein Wohnhaus, und so ungefähr sieht das kilometerweit aus. Anfangs fand er die Gegend schön, aber jetzt wo er sehr viel unterwegs sei und vergleichen könne, werde ihm die Hässlichkeit seiner Heimat umso mehr bewusst, sagt Dumoulin. Der Künstler, der seit zehn Jahren in Paris lebt, ist gerne unterwegs und findet, es sei eigentlich fast überall schön.

Am Freitag, den 13. November, dem Tag der Terroranschläge in Paris, gab er ein Konzert mit dem Gitarristen Marc Ducret in einem Vorort von Paris (Fontenay-sous-Bois). Nachts kehrte er zurück nach Saint Denis und morgens um vier Uhr wurde er durch die Großrazzia nebenan aus dem ersten Schlaf gerissen.

Ich glaube, dass man ein Staunen sucht (in der Musik). Die Improvisation und all die Arbeitsweisen, die damit einhergehen, erlauben es, dass man sich in die Lage versetzen kann, wo man sich selbst zu überraschen sucht. Wenn ich komponiere, benutze ich häufig den Zufall. Ich nehme mich selbst auf und manipuliere diese Information auf eine sehr theoretische Art und Weise. Damit sich daraus etwas anderes ergibt. Dann versuche ich etwas mit dieser Sache anzufangen, die ich selbst erzeugt habe. Ich habe dafür nicht am Klavier gesessen und mir gesagt, „ach, was für eine schöne Melodie!“ Es ist etwas anderes: ich erzeuge ein Material, das mir im Grunde kaum gehört, dennoch war ich es, der es komponiert hat.

Jozef Dumoulin ist jetzt 40 Jahre alt und geprägt haben ihn besonders die 80er Jahre, sagt er. Musikalisch konzentrierte sich für ihn erstmal fast alles auf klassische Musik. Aber er hörte auch die stark elektronisch geprägte Popmusik. In der lokalen Mediathek lieh er sich mit 14-15 Jahren gerne CDs mit Instrumentalmusik aus. Zu seinen ersten Lieblingsplatten gehörte die Musik, die der Keyboardspezialist Jan Hammer für die US-TV-Serie „Miami Vice“ gemacht hatte. Heute begegnet er 15-16jährigen, die schon seit ein paar Jahren Jazzkurse besucht haben. Etwas seltsam findet er das, denn persönlich entdeckte er den Jazz, wie er sagt, „erstmal ganz allein, in meiner Ecke, und relativ spät.“

„Musik machen heißt für mich: Imaginäre Orte schaffen,“ erklärt Jozef Dumoulin. „Es war auch ein physisches Erlebnis, schwer mit Worten zu beschreiben.“So der Belgier in Paris über seine erste Bekanntschaft mit dem Jazz.

Ich stamme aus einer großen Familie. Wir hatten zwei Klaviere zuhause stehen. Jeder spielte mehrere Instrumente – Klavier und noch ein zweites Instrument. Meine ersten Erinnerungen, da war ich vier oder fünf Jahre alt, sind mit dem Klavierspiel verbunden. Ich versuchte Dinge nachzuspielen, die ich irgendwo gehört hatte; man gab mir Notenhefte mit Chansons; und sehr rasch fand ich Freude daran, Leute zu begleiten, die richtigen Akkorde zu finden, und viel zu üben. Auch das Improvisieren gefiel mir von Anfang an sehr, aber es war noch völlig losgelöst von irgendeinem konkreten Musikstil.

Rückblickend hätte er gerne von Anfang an einen guten Jazzlehrer gehabt. Andererseits erlaubte ihm das, sich seinen eigenen „geheimen Garten“ anzulegen, wie er das nennt. Niemand sagte ihm, was gut oder schlecht war. Nur manchmal protestierte jemand aus der Familie und meinte, „Hör auf, das ist ja nur Lärm.“

In den Ferien und in seiner Freizeit arbeitete Jozef Dumoulin viel mit Kindern. Im Sommer fuhr er mit ihnen zwei Wochen in ein Zeltlager. Außerdem gab es in seinem Dorf einen Ort, wo die Kinder hinkamen und den Nachmittag verbrachten. Das war eine freiwillige Sozialarbeit. Er organisierte auch Ferien für Kinder und Jugendliche, Heimkinder, die mit dem Gesetz in Konflikt geraten waren. Bis zu seinem 20. Lebensjahr verbrachte er viel Zeit mit diesen Aktivitäten. Vor seinem Musikstudium belegte er deshalb erst einmal Kurse in Psychologie. Der Lehrer und alle, die er kannte, hatten ihn schon vor dem Abitur gewarnt, er solle bloß nicht Musiker werden, das würde nichts bringen. Das Wort ‚Jazz‘ – vielleicht hat sich das heute etwas geändert – sagte den Leuten in seiner Gegend in den 80er Jahren so gut wie gar nichts. Hardrock kannten sie bessern. Diesen Jazz assoziierten sie mit Drogen, mit schlechtem Umgang, und man meinte: Psychologie, das sei schon ziemlich riskant. Er las dann eine Menge Bücher über psychologische Fragen.

Ich habe mich immer interessiert für die Realität. Und die ist sehr seltsam. Sie ist etwas, das uns ständig entgleitet. Obwohl sie den Anschein hat, etwas Greifbares zu sein, das für jedermann sich gleich darstellt, ist das keineswegs der Fall. Es ist eine Konvention, ein Ensemble aus vielen Konventionen. Ich weiss jetzt, dass es viele verschiedene Arten gibt, die Realität zu beschreiben. Und es war das erste Mal, dass mir jemand erklärte, wie Menschen sich verhalten, wie die Welt funktioniert. Ich glaube, ich habe einiges auch deshalb begreifen können, weil ich mich einerseits innerhalb, andererseits ausserhalb einer Welt bewegte. Und weil ich mich als Marginaler empfand, tat es mir gut, mich mit anderen Sichtweisen auf die Realität vertraut zu machen.

Das Psychologiestudium hat er längst hinter sich. Heute habe er nicht mehr das Gefühl, das Leben kontrollieren zu können. Etwas, das dem Geist der Menschen entspringe, organisieren zu können. Das Bedürfnis, sich mit solchen Fragen zu beschäftigen, hatte ihn als junger Student gepackt – heute nicht mehr. Zwei Jahre studierte er Psychologie – bis zur Zwischenprüfung. Im zweiten Studienjahr hatte er aber schon begonnen, gleichzeitig Musik zu studieren. Beides zusammen – das stieg ihm etwas zu Kopf und er wollte erstmal weder das eine noch das andere Wissensgebiet verlassen. Doch wenn er Psychologie studierte, konnte er nicht gleichzeitig am Klavier arbeiten, und umgekehrt. Irgendwann zog er einen Schlussstrich und machte nur noch Musik; aber er brauchte Jahre, um sich mit dieser Entscheidung wirklich anzufreunden und sie gutzuheißen.

Momentan arbeitet Jozef Dumoulin als ‚artist-in-residence‘, in einem der bekanntesten Jazzclubs in Frankreich: im Petit Faucheux in der Stadt Tours, südwestlich von Paris. Er kann dort nicht nur intensiv an seiner eigenen Musik arbeiten, sondern auch Künstler zu Konzerten einladen – wie den von ihm bewunderten schwedischen Pianisten Bobo Stenson. Ein großer Teil der Arbeit besteht wiederum in Workshops mit jungen Musikern aus Tours. Das war etwas, das er immer machen wollte: vor allem auch Musik zu machen mit Amateuren. Man wird sehen, was dabei herauskommt, aber er formiert zum Beispiel Bands mit Behinderten oder einfach Jugendlichen, die gerne mal zusammen Musik machen würden.

Ich lebe jetzt seit zehn Jahren in Saint-Denis. Einem Vorort von Paris mit sehr vielen Problemen. Ich habe mir immer gesagt, es sei doch schade, in einem solchen Stadtteil zu leben, ohne ein Minimum an Sozialarbeit zu verrichten. Es hatte sich aus den verschiedensten Gründen nie etwas dort konkretisiert. Aber jetzt werde ich in dieser Hinsicht mit dem Job in Tours diesen Aspekt etwas nachholen können.

Manchmal bin ich bei meiner Familie in Belgien. Mein Bruder hat zwei kleine Jungs. Der eine spielt schon Saxofon, der andere Schlagzeug – sie sind elf und neun Jahre alt. Sie haben noch keinen Unterricht gehabt, aber wenn ein Klavier da ist, spielen wir schon mal zusammen. Mir macht das genauso viel Spaß wie wenn ich mit sogenannten Profimusikern aus meiner Generation was mache. Kinder haben mich immer schon sehr fasziniert. In ihrer Art zu sein und in der Musik ist es genauso. Wenn man mit ihnen musiziert, kommt etwas sehr Frohmachendes zum Vorschein. Irgendwann möchte ich sehr gerne mal eine Platte mit Kindern machen. Ein richtiges Album, bei dem wir alle zusammen Musik machen. Da wäre ich sehr dafür.

In Brüssel habe ich dann noch ein-zwei Jahre Musik studiert und eine Jazzklasse besucht. Das war eine sehr intensive Zeit für mich; es war das erste Mal, dass ich sowas studieren konnte und gleichaltrige Musiker kennenlernte, die Jazz praktizierten. Das erste Mal, wo man mich darauf ansprach, ich erinnere mich sehr an genau diesen Moment, da erwähnte jemand das Album von Pat Metheny mit Jaco Pastorius, wie heisst es noch, „Bright Size Life“. Das ist eine Platte, die ich mir oft angehört hatte, mit neunzehn. Und plötzlich mit jemandem reden zu können, der sie auch kannte, das war erstmal richtig seltsam. Ich war nie Leuten begegnet vorher, die die selben Platten hörten wie ich. Es war etwas sehr Privates geworden, dieses Platten hören. Und dann traf ich Musiker, und es kam mir fast so vor, als habe jemand in meinem intimen Tagebuch gelesen.

In Brüssel hatte er eine erste eigene Band, mit einer Sängerin, sie traten ziemlich häufig auf. Aber die Anfänge waren sehr bescheiden: man spielte ein paar Standards, Jozef hatte ein Keyboard, keinen Flügel zur Verfügung, er suchte noch nicht nach einem persönlichen Stil, sondern war erstmal nur für diese Sängerin der Begleiter am Keyboard.

Dann bekam er ein Stipendium für die Kölner Musikhochschule und konnte in der Jazzabteilung bei dem britischen Pianisten John Taylor studieren. Damit begann er 1999 und interessierte sich für viele Arten von Musik, versuchte aber auch einen Standard im Jazzrepertoire ohne viele Unfälle zu spielen. Noch heute spielt er Standards für sich, einfach nur um zu üben, auch wenn er später live etwas anderes spielt, hilft ihm das seine Gedanken zu ordnen. Mit John Taylor spielte sich sehr viel ab, es ging nicht nur um korrekte Interpretation, es konnte in viele verschiedene Richtungen gehen, John zeigte ihm, wie man mit einem Pedal arbeitet von Anfang bis Ende des Stückes, wie man die Musik öffnet. Wie gestaltet man eine Melodie. Wie phrasiert man.

Wie lernt man das Improvisieren?

Learning by doing. Il faut le faire. Man muss sich da hinein bewegen. Mit einer gewissen Liebe für die Gefahr, das Risiko. Man muss ein Selbstvertrauen entwickeln. Es spielen viele Dinge eine Rolle. Das gilt für jeden. Es sollte dazu gehören, dass man sich mit einem Resultat abfindet, das man selbst nicht immer ganz versteht, sagt Jozef Dumoulin. Für mich ist das etwas sehr Wichtiges. Ich habe mit den Jahren gelernt, das zu erfassen. Das war nicht selbstverständlich. Vor allem wenn man beginnt etwas Erfolg zu haben – nicht im gesellschaftlichen Sinne, sondern für sich selbst – wenn deutlich wird, dass dieses Improvisieren zu etwas hinführt, hat man rasch ein Interesse daran, diesen Weg weiterzugehen. Aber es ist auch von Bedeutung, neue Wege einzuschlagen, ohne sie gleich zu beurteilen.

Ich weiss nicht, wie das alles gekommen ist. Aber irgendwann hat mir jemand gesagt: Das Fender Rhodes-Piano, das ist gut, das ist ein tolles Instrument. Ich sah dann in einem Musikmagazin eine kleine Annonce. Jemand wollte ein Fender Rhodes verkaufen. Ich habe angerufen, bin hingefahren, so einfach war das, es war die Zeit, als sie nicht das kosteten, was sie heute wert sind. Ich wohnte damals in Köln und hatte ein Zimmer, das gerade groß genug war für mein Bett und ein Keyboard. Es gab auch noch ein Waschbecken, aber sonst war es wirklich winzig. Das Fender Rhodes hat dann ein-zwei Jahre gegen die Wand gelehnt herumgestanden. Nach meiner Zeit in Köln bin ich dann nach Brüssel gezogen und ich habe dann angefangen, auf dem Rhodes zu spielen, denn ich hatte damals jede Woche einen Gig in einem Café in Antwerpen. Das Klavier, das sie dort hatten, war schon nicht sehr gut, außerdem war es immer sehr laut in diesem Café, und jemand hatte da eine Verstärkeranlage zusammengebastelt, die wirklich nicht besonders gut war. Das deprimierte mich, auf diesem Klavier zu spielen, also nahm ich mein Rhodes mit dort hin, spielte aber anfangs noch sehr wenig darauf, nur einmal die Woche. Ich hatte einen kleinen Verstärker, an dem es einen Knopf für die Verzerrung gab, und ich fing an, Standards zu spielen mit dem Rhodes und diesem Verzerrungseffekt und das hat mir sehr gefallen.

Manchmal habe ich den Eindruck, Sie stellen am Fender Rhodes eine Versuchsanordnung her, ein Mechanismus wird in Gang gesetzt. Doch was dann passiert ist für Sie vermutlich ebenso überraschend wie für Ihre Zuhörer.

Genau darum geht es – das ist die Idee.

Plattentipps:

A Fender Rhodes Solo (Bee Jazz)

Jozef Dumoulin Trio: Rainbow Body (Bee Jazz)
Jozef Dumoulin & Lidlboj: Trees Are Always Right (Bee Jazz)

Jerome Sabbagh, Jozef Dumoulin, Rudy Royston: Plugged In (Bee Jazz)

Octurn_21: Emanations (Yolk)

Octurn_21: _7eyes (Octurn)

Lilly Joel: What Lies In The Sea (Sub Rosa)

Alban Darche: Pacific (pépin & plume)
Jozef Dumoulin & The Red Hill Orchestra; Trust (m. Ellery Eskelin & Dan Weiss) (Yolk)

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