#16 Giovanni Guidi
Die erinnerten Melodien
TEXT: Karl Lippegaus | FOTO: ECM
Ich denke an jene Morgen, wenn der Nebel die Stadt unter uns verhüllte, und unser Haus ‚Casacolle‘ in eine einsame Insel verwandelte, die den Ozean überragte; ich widme mein Album den Musikern, die die ganze Nacht durchspielten, und den Freunden, die ihnen dabei lauschten; der Tür, die hätte geschlossen sein müssen, die aber geöffnet war; dem Sommerlicht, das die Räume jeden Morgen in Farben eintauchte; unserem Lachen am Frühstückstisch; der Stille, die du spüren konntest, wenn du allein warst; und Luca ist dieses Album gewidmet, weil er, ab dem Moment, als er eintraf, das ganze Haus mit seinem Lächeln erhellte.
Wir leben hier nicht mehr... – Giovanni Guidi
Die italienische Jazzkritik sieht in dem Pianisten Giovanni Guidi (Jahrgang 1985) eines der herausragenden jungen Talente. Sein Mentor, der Trompeter Enrico Rava, hat schon mit vielen großen Pianisten gearbeitet, doch Guidi war ihm bei den Sommerkursen in Siena besonders aufgefallen. Schon an seinem Debütalbum „Indian Summer“ lobten Kritiker die „existenzielle Spannung“ und „leidenschaftliche Hingabe“. In Ravas Band „Tribe“ - mit ihrer mittlerweile sehr offenen Konzeption - mangelt es nicht an starken Persönlichkeiten, doch entpuppt sich gerade Giovanni Guidi, wie an jenem Abend im „Sunset“ in Paris, als der eigentliche Spielmacher, der die Improvisationen der Gruppe wie durch Stromschnellen in immer neue Bahnen lenken kann. Zawinuls berühmten Satz „We always solo and never solo“ scheint der 28-jährige Pianist aus Foligno/Umbrien ebenso verinnerlicht zu haben wie die eruptiven Kräfte und den Nonkonformismus Paul Bleys. Sein Trio mit dem US-Bassisten Thomas Morgan und dem portugiesischen Drummer João Lobo, das gerade sein zweites Album „This Is The Day“ vorlegt, besticht durch ein wunderbar dichtes intelligentes Zusammenspiel. Guidis Kompositionen, die oft wie Hymnen auf Sanftheit und Zärtlichkeit daher kommen, münden organisch in ein feinnerviges, hochspannendes Interplay. Nie ist die Musik mit eitlen Einfällen überfrachtet. Die drei Musiker paradieren nicht mit Belesenheit und keiner von ihnen ist ein Effekthascher. Eindrucksvoll gelingt es den Dreien, die äußeren Schichten abzuschälen, bis die Musik wie eine im Raum vibrierende Skulptur hervortritt.
„Giovanni kannte ich schon, als er drei, vier Jahre alt, also wirklich noch ein Kind war. Ich habe ihn aufwachsen gesehen, mit dieser musikalischen Leidenschaft und allem was dazugehört. Als er dann 16, 17 Jahre alt war, merkte ich, dass er tatsächlich etwas Besonderes hatte.“ (Enrico Rava)
Giovanni Guidi hat bereits ein halbes Dutzend Alben unter eigenem Namen veröffentlicht. Sein Trio mit Thomas Morgan und Joao Lobo zeigt, dass auch auf dem viel beackerten Terrain des Pianotrio-Jazz noch verborgene Schätze liegen. Nach „City of Broken Dreams“ (2011) ist das neue Album der entscheidende zweite Schritt in eine verheißungsvolle Richtung. Der Bassist gehört zu den derzeit gefragtesten im aktuellen Jazz und ist Absolvent der renommierten Manhattan School of Music, der Schlagzeuger kommt aus Portugal und hat offensichtlich eine Menge von Paul Motian gelernt, mit dem der Bassist Thomas Morgan in dessen letzten Jahren noch häufig arbeiten konnte.
Wie wär’s, wenn wir zuerst ein wenig über Klaviere reden würden?
Die Beziehung zum Klavier ist immer wieder anders. Weil es ein Instrument ist, dass der Musiker nie auf seine Reisen mitnehmen kann. Manchmal kann man an wunderschönen Instrumenten spielen, wie den Steinway-Flügeln; oder es sind Klaviere, die dreißig Jahre alt sind und in kleinen Jazzclubs ihr Dasein fristen. Doch die Herausforderung und die Freude, Klavier zu spielen machen den Charme der Sache aus. Es geht jedes Mal aufs Neue darum, eine Beziehung zu dem Instrument zu finden, dass man vor Ort antrifft. Das kann bisweilen ganz lustig sein; manchmal aber stellt es auch ein Problem dar, wenn man ein Piano vor sich hat, zu dem man schwer einen Zugang findet.
Sie haben mit zwölf Jahren begonnen, Klavier zu spielen?
Ich hatte kein Klavier bei uns zuhause. Doch meine Eltern, besonders mein Vater, haben immer leidenschaftlich gerne Jazz gehört. Deshalb war ich immer von der Musik umgeben. Doch wie ich dann zum Instrument fand war schon etwas seltsam: Ich sah eines Tages, wie ein Freund von mir dabei war, ein Spielzeugklavier auf den Müll zu werfen. Sofort rannte ich hin und sagte, ‚Nein, tu das nicht, ich nehme es.‘ Ab dieser Zeit verliebte ich mich in Klaviere. Eine Woche später hatte ich eines zuhause und fing an, Unterricht zu nehmen. Jazz war eine Musik, mit der ich schon etwas vertraut war, weil ich sie zuhause ständig gehört hatte. So kam allmählich das eine zum anderen und das brachte mich dann auf meinen Weg.
Das Kino scheint einen starken Einfluss auf Sie auszuüben. Für mich hat Ihre Musik gewisse filmische Dimensionen: beispielsweise die „erträumten Themen“, die Traumsequenzen – es gibt ja sogar eine Komposition von Ihnen, die „The Dreamers“ heißt. Die Titel der Kompositionen klingen oft wie Filmtitel: „The Cobweb“, „The Impossible Divorce“… Ein frühes Stück heißt „Johnny Staccato“, wie die berühmte US-TV-Serie mit einer Jazz-Tonspur. Oder denken wir an die phantasievolle Musik gewisser Fellini-Filme, meistens komponiert von Nino Rota, wie etwa „Julia und die Geister“.
Ja, zum Beispiel in letzter Zeit spiele ich viel von Nino Rota, mit dem Posaunisten Gianluca Petrella haben wir eine Platte gemacht. ‚Il bidone‘ ist eine Hommage an Nino Rota und den gleichnamigen berühmten Fellini-Film. Ich mag sehr die Filme von John Cassavetes und sein Frühwerk „Shadows“. Wahrscheinlich ist es wirklich so, dass italienische Melodien, Filmmusiken zu meinem musikalischen Universum gehören - wenn auch nicht immer bewusst.
Kann man von einer „Italienität“ in Ihrer Art Jazz zu spielen sprechen?
Ich denke schon, auch wenn ich es nicht bewusst gemacht habe, ich habe ja nie gesagt “ich will etwas sehr italienisch machen“. Wahrscheinlich ist es aber richtig und auch natürlich, dass es so ist. Nehmen Sie Enrico Rava: Obwohl seine Musik sehr anders ist als meine, nimmt man stark wahr, dass sie italienisch ist. Ich halte das für ganz normal: Wir machen Jazz, gespielt von italienischen Musikern, obwohl es bei meinem Trio mit der Anwesenheit von Thomas Morgan, der aus San Francisco stammt, und von Joao Lobo, der Portugiese ist, eben auch Einflüsse anderer Kulturen gibt.
Jazz als eine kosmopolitische Musik?
Das Bindeglied zu all dem ist Jazz in all seinen Spielformen. Möglich, dass man ein Album wie „City Of Broken Dreams“ nicht als „reine“ Jazzplatte ansieht, nach welchen Maßstäben auch immer. In anderen Aspekten ist es eine richtig starke Jazzplatte.
„Dieses Album ist all denen gewidmet, die wussten, dass sie nicht länger klopfen mussten an die Tür von ‚Casacolle‘; die zum Dinner kamen und eine ganze Woche lang blieben; die, noch bevor sie uns begegneten, uns willkommen hießen, indem sie frische Eier vor unserer Tür deponierten; die kamen und darauf vorbereitet waren, für drei Leute zu kochen, um sich dann dabei zu ertappen, dass sie vierzig hungrige Mäuler fütterten; das Album ist den Mädels gewidmet, die während einer bestimmten Zeit nie herein ins Haus kamen; gewidmet den Freunden, die sich nur einmal pro Jahr in den Ferien zusammen um einen Pokertisch setzten; all denen, die sich an einem ganz gewöhnlichen Geburtstag bewusst wurden, dass sie den Geburtstagskuchen vom Fußboden aßen; die Platte ist dem Hahn gewidmet, der jeden Morgen pünktlich um fünf Uhr krähte.“ (aus dem Text zu „We don’t live here anymore”)
Welche Rolle spielt für Sie das Unbewusste beim Improvisieren?
Nun, das ist immer sehr wichtig. Miles Davis sagte: „Man muss das spielen, was man nicht kennt.“ Es geht natürlich darum, immer weiter zu gehen. Nun gibt es heutzutage viele junge und zweifellos sehr gute, ja sogar außerordentliche Musiker, die keine Grenzen kennen, die praktisch alles können und, naja, das stört ein wenig: Vielleicht möchten sie auch was riskieren, aber es ist ihnen unmöglich, weil sie eben alles schon zu kennen glauben. Ich finde es wichtig, dass man sich diese unbekannten Räume erschließt. Zum Beispiel ist Keith Jarrett herausragend in technischer Hinsicht und schafft es immer noch, über dieses immense Können hinaus zu gehen.
In Ihrer Version des Standards „I’m Through With Love“ tun sich für mich Verwandtschaften zu Keith Jarrett auf, während die Musik auf “City of Broken Dreams” manchmal pendelt zwischen traumähnlichen, abstrakteren Sequenzen und ganz einfachen, fast kindlichen Melodien. Man könnte sie vielleicht als ‚Kinderszenen aus dem Geist des Jazz‘ bezeichnen.
Ja, das ist ein Kontrast, den ich sehr liebe. Ein sehr einfaches musikalisches Ausgangsthema, um das ich viele andere Dinge spielen kann. Für das Trio schreibe ich manchmal bewusst einfache Dinge. Was mich reizt ist dieser Kontrast: eine Melodie, die einem Traum zu entspringen scheint, und diese „erinnerten Melodien“, die man fast als Kinderlieder bezeichnen könnte. Sie bilden den Gegensatz zu abstrakteren Aspekten, die vielleicht „avantgardistischer“ anmuten. Letzteres mag eine Art Avantgarde umreißen, auch wenn man sich heute zweifellos schwer tut, es geradezu unmöglich ist, von Avantgarde überhaupt noch zu sprechen.
Sie lassen Ihren Mitspielern viel Raum zur eigenen Entfaltung, woraus sich ein ständig mutierender Gesamtklang ergibt. Ich denke da besonders, was das neue Album betrifft, an das längste und für mich neben der Version des Standards „I’m Through With Love“ eindrucksvollste zehnminütige Stück „Where They‘d Lived“. Das Album ist mit 72 Minuten ohnehin fast ein Drittel länger als das vorige.
Stimmt, ich mag sehr den ganzen Sound dieses Trios, mehr als nur das, was vom Piano her kommt, obwohl es auch Momente gibt, in denen ich meinerseits viel spiele. Doch generell mag ich es sehr, auf das Ensemble zu hören und zu reagieren. So ist es auch diesmal und ich möchte auch bei weiteren Plattenprojekten das ewige Schema aus Solo für Piano, Kontrabass-Solo, Schlagzeug-Solo, Thema usw. vermeiden. Lieber mag ich einen fortwährenden Kontrapunkt zwischen den verschiedenen Instrumenten. Auch das Schlagzeug soll ja nicht nur Rhythmus, sondern auch zu Melodie und Harmonie beitragen.
Miles Davis bezahlte seine Mitspieler, damit sie auf dem Podium, auf dem Bandstand probten, erzählt Herbie Hancock in seinen Memoiren. Wie arbeiten Sie, mehr zuhause oder auf Tour?
Vor einem Konzert, nein, da kann ich nicht arbeiten, denn oft bin ich auf Tour, da ist es unmöglich. Vor einer Tour versuche ich mir zuhause so viel wie möglich am Klavier zu erarbeiten, auch wenn es auch Zeiten gibt, eine Woche, in denen ich es gar nicht zu spielen mag, nach einer langen Tour, um den Kopf zu befreien. Es gibt Zeiten, in denen ich viel musiziere, aber keine andere Musik höre, einfach um den Kopf zu säubern/leeren, clean zu werden. Neulich sprach ich mit Enrico Rava, ich weiß nicht mehr, wer es aufbrachte, aber jemand meinte: „Das Genie ist derjenige, der am nächsten bei sich selbst ist“. Das ist wichtig, in der Musik, in der Kunst, im Leben – dicht dran zu bleiben an dem, was man ist, ohne zu versuchen die Schwächen zu maskieren, zu vertuschen. Nur so kann sich meiner Meinung nach in der Kunst eine bedeutsame direkte Verbindung zum Zuhörer ergeben. Man sollte nichts verheimlichen, kaschieren. Vor allem Ungenauigkeiten gilt es im ständigen Lernprozess zu überwinden, wobei sie in dem Moment, in dem sie auftreten, wenn sie sich manifestieren, ins Spiel einbezogen werden sollten. Was in jenen Momenten geschieht, in denen man versucht die Grenzen zu überwinden, von denen wir vorhin sprachen.
Welche Rolle hat Enrico Rava als Mentor für Sie gespielt?
Ich genieße die Arbeit mit Enrico immer sehr, auch mit ihm unterwegs zu sein ist wunderbar. Jeden Tag hat er eine Geschichte über egal welchen Musiker auf der Welt, von Cecil Taylor bis Roswell Rudd oder Steve Lacy. Ich habe dann das Gefühl, mit dem letzten der großen traditionellen Musiker zu spielen, obwohl es eine der neueren Traditionen aus den 60er Jahren ist. Enrico ist wie ‚der letzte Mohikaner‘, einer der wenigen, die noch leben, die diesen Geist des Aufbruchs haben, eine ursprüngliche Art, sich dem Jazz zu nähern. Tatsächlich kann ich diese Musik nur in der Gruppe Enricos spielen, zusammen mit ihm. Wenn wir Konzerte geben, zweimal war er krank und da spielten wir im Quartett, wir haben die selben Themen gespielt, aber es geriet völlig unterschiedlich, mit viel weniger Energie, weniger Geist. Nur wenn er da ist, mit seiner Art und seinen Konzepten, gelingt es.
Welches Ensemble im Jazz hat Sie besonders stark angesprochen?
Das Quartett von Keith Jarrett mit Dewey Redman, Paul Motian und Charlie Haden ist eine Gruppe, die ich sehr liebe und stundenlang gehört habe. Natürlich auch das andere Quartett mit Jan Garbarek, aber besonders das mit Dewey Redman. Vor vier, fünf Jahren machten wir eine Platte aus diesem Geist, da war ich viel jünger, es ist auch normal, dass dieser starke Einfluss da ist. Tatsächlich bin ich immer auf der Suche danach, ein eigenes Quartett zu bilden, aber ich schaffe es nicht mich festzulegen, denn ich habe immer etwas Angst. Jetzt konzentriere ich mich vor allem auf die Trioarbeit. Nun, man braucht natürlich neue Ideen, um weiter, jenseits von jenem berühmten Quartett, zu gelangen.
Vielleicht reden wir noch kurz über Inspirationen aus anderen Kunstformen – wir haben das Kino erwähnt – welche anderen Kunstformen interessieren Sie?
Naja, ich gehe eben ziemlich oft ins Kino und liebe Filme sehr – es hängt vom Moment ab – aber in der letzten Zeit sehe ich viele italienische neorealistische Filme, viel von Fellini, viele nicht aktuelle Filme. Das heutige italienische Kino ist leider unheimlich hässlich und schlecht. Und dann lese ich ziemlich viel. Ich mag sehr amerikanische Schriftsteller wie Raymond Carver, Paul Auster, Richard Yates, von der Form her vor allem Short stories.
Plattentipps:
The House Behind This One (CAM)
Tomorrow Never Knows (CAM)
We Don’t Live Here Anymore (CAM)
City Of Broken Dreams (ECM)
This Is The Day (ECM)
mit Enrico Rava: Tribe (ECM)