#14 „Mbókò“
Eine Begegnung mit dem Jazzpianisten David Virelles
TEXT: Karl Lippegaus | FOTO: Karl Lippegaus
“Was ist die Geschichte der Amerikas, wenn nicht eine Chronik des magischen Realismus?” (Alejo Carpentier)
Sein aktuelles Album „Mbókò“ und sein Vorgänger „Continuum“ sind wie zwei Seiten einer kostbaren Münze. Sie brachten mich auf seine Spur und sein subtiles, engagiertes und innovatives Klavierspiel widersprichen wohltuend den Klischees, die über Latin-Jazz noch immer kursieren. Salsa-Tanzen in der Cocktail-Bar, Zigarren paffende Opas, spärlich bekleidete Mulattinnen usw. Der heute 30-jährige Pianist David Virelles wurde in Santiago de Cuba geboren und wuchs in einer musikalischen Familie auf. Zu seinen ersten prägenden Einflüssen zählten die Musik von Thelonious Monk, Bud Powell und Andrew Hill. Durch die kanadische Holzbläserin Jane Bunnett, die häufig mit kubanischen Musikern arbeitet, kam Virelles 2001 nach Kanada. Ein Stipendium des Canada Council for the Arts ermöglichte dem jungen Pianisten acht Jahre später ein Studium bei dem Jazzmusiker Henry Threadgill in New York. Dort hörte man ihn alsbald in Gruppen mit Steve Coleman, Mark Turner, David Binney und Chris Potter. Vor allem als Pianist im New York Quartet des polnischen Trompeters Tomasz Stanko, auf dessen Doppelalbum „Wislawa“ sowie bei einigen erstaunlichen Konzerten entdeckten ihn bald auch die europäischen Jazzfans. Nach einem Auftritt mit der Stanko-Gruppe beim Jazzdor-Festival in Offenburg trafen wir uns um ein Uhr nachts zu einem Gespräch.
Meine eigene Musik ist Teil der kubanischen Musikgeschichte. Sie entspringt vielen Ideen und Klängen aus dieser Geschichte. Die Referenzen mögen vielen Leuten nicht vertraut sein, aber sie sind definitiv präsent. Mir sehr wichtig sind Alexandro Garcia Gaturla, Amadeo Roldán und andere klassische Komponisten Cubas, die sich mit der Musik unseres Landes aus einer anderen Perspektive beschäftigt haben. Das möchte ich ebenso erforschen wie Folkore und populäre Musik, die anders ist als die Folklore. Und innerhalb all dessen ziehen sich viele sehr unterschiedliche Bezugssysteme und Traditionen dieser riesigen Kultur. Die Tatsache, dass ich aus Cuba komme, prägt mein Interesse an all diesen Traditionen. Einmal, weil ich sie sehr liebe, und weil ich es interessant finde und viele Ideen daraus beziehe.
In Kuba suchte Virelles vor Ort nach Formen von Folklore in rituellem Kontext der Abakuá, einer Geheimgesellschaft mit westafrikanischen Wurzeln. „Mbókò“ kann in dieser afrokubanischen Mythenwelt vieles heißen: „Die Stimme“ (gemeint ist die göttliche), „Zuckerrohr“ oder „Fundament“. Seinem neuesten Album gab Virelles diesen Titel und er überrascht hier einmal mehr durch unkonventionelle Ideen – rein äußerlich schon durch die Besetzung mit zwei Bassisten, Drums sowie kubanischer Percussion. Manchmal sagt Virelles seinen Mitspielern vor einem Konzert: „Ich möchte jetzt ein Gewitter“ oder „Der nächste Teil soll eine futuristische afrikanische Sache in 6/8 werden“. Eine neue Komposition nannte der Cubaner in New York: „Noch zu erzählende Geschichten“.
Die New York Times schrieb über eines seiner Konzerte im ‘Village Vanguard’ im letzten Jahr:
“Perkussives Spiel, ausgetüftelte Harmonien und Cluster, sorgsam gespielt manchmal sogar mit der flachen Hand oder dem Unterarm. Virelles geht nie planlos oder unüberlegt vor. Er hat einen sicheren Anschlag und verfügt über multiple musikalische Vokabularien, aus denen er eine Synthese zu schaffen entschlossen scheint, eine Synthese, die weder schematisch noch offensichtlich ist. Dass er ein wenig zu irritieren statt zu bezaubern gewillt scheint, ist vielleicht einer der besten Gründe, um ihn live zu erleben.“
Wie sind Sie zur Musik gekommen, David ?
Ich kam in Santiago de Cuba zur Welt. Meine Eltern sind beide Musiker, mein Vater Sänger und Songschreiber, meine Mutter Flötistin im Sinfonieorchester meiner Heimatstadt. Ich wuchs also mit viel Musik auf und meine Freunde waren ebenfalls Musiker, Tänzer, Bildende Künstler. Das war die Umgebung, in der ich aufwuchs. Ich folgte diesem Pfad und als meine Eltern merkten, dass ich eine Begabung für Musik zeigte, fragten sie mich, ob ich eine Musikschule besuchen wollte und ich sagte Ja. Welches Instrument ich gerne spielen würde. Ich sagte: Klavier. Wir hatten eines zuhause und eine meiner Tanten ist eine klassische Pianistin, die am Tschaikowsky-Konservatorium in Russland ihr Examen gemacht hatte. Sie arbeitete sich durch die ganze harte Tradition der russischen Schule. In all den Jahren haben mir meine verschiedenen Lehrer enorm geholfen. Der Zugang zu all den diversen Arten von Musik war eine starke Stimulanz, auch für das was ich heute tue. Ich suchte nach einem Ventil für meine Kreativität und da bot sich mir diese Gelegenheit, das zu tun. Dabei galt es sehr diszipliniert zu sein. Aus mir wurde nie ein klassischer Pianist, aber das war das Repertoire, das in den Schulen behandelt wurde. Da wurde ich mit allem konfrontiert – von Bach bis zu Rachmaninov, vielen cubanischen Komponisten, speziell denen, die Klaviermusik geschrieben haben, zum Beispiel Ignacio Cervantes, Manuel Saumell, Carlos Fariñas und Leo Brouwer. Noch heute interessiert mich ihr Schaffen sehr. Und ich versuche herauszufinden, wie mein heutiges Tun dazu in Beziehung zu setzen ist. (-21:12)
In allen rituellen afrikanischen Formen in Cuba ist der Fundamento die Wurzel, das Prinzip und der Ursprung von etwas Unstofflichem. Dieser Name wird den Steinen verliehen, in denen die Orishas wohnen. Weil es mit einem Gott oder einem Geist assoziiert wird, ist alles was ein Gegenstand der Verehrung ist, ein Fundamento. (Lydia Carbrera)
Heute abend sagte jemand nach dem Konzert zu mir: „David Virelles spielt nicht wie ein cubanischer Pianist.“ Sie haben das wahrscheinlich oft gehört, oder?
Wohl wahr. Durch die Jahre war ich involviert in Gruppen, die streng genommen nur diese Art von Musik machten: Musik, die zum Tanzen gedacht ist. Natürlich kann man sie aus diesem Kontext heraus lösen und in etwas anderes überführt werden. Ich habe viel aus diesem Genre übernommen, doch hier ist etwas dem verwandt, worüber wir gerade sprechen. Würde ich bewusst etwas von dieser Musik in das einbringen, was die Stanko-Gruppe macht, würde es mit ziemlicher Sicherheit nicht passend erscheinen. Ich meine die Musik, die von dort kommt, wo ich geboren wurde und aufwuchs. Es entspringt einer anderen Sprache, es bewegt sich in einem anderen Kontext; zweifellos gibt es Dinge, die Teil meines Wesens als Künstler, meiner Persönlichkeit geworden sind, durch die eigene Herkunft. Aber verschiedene Situationen verlangen nach anderen Lösungen und dem möchte ich nachgehen. Ich wähle nicht den leichten Weg, dem Offensichtlichen, obwohl auch danach manchmal verlangt werden mag.
David Virelles, Sie waren von Cuba zuerst nach Kanada umgezogen. War das nicht schwer für Sie? Haben Sie Cuba nicht sehr vermisst?
Ja, das war schwer, ein totaler Kulturschock. Aber ich muss sagen, ich war in der sehr glücklichen Lage, Leute zu finden, die mich mit offenen Armen begrüßt haben, als ich nach Kanada ging. Sie waren so nett zu mir und haben mir so viel geholfen. Die Saxofonistin Jane Burnett und ihr Mann Larry Cramer waren extrem großzügige Leute. Es gab auch noch einige andere. Wissen Sie, das passierte in einer sehr wichtigen Zeit in meinem Leben. Ich war an einem Punkt angelangt, an dem bin ich irgendwie immer noch, wo ich wachsen und arbeiten, auf eigenen Füßen stehen konnte. Ich wollte Resultate erzielen und fand Orte, wo die Leute in meiner Umgebung mir das erleichtert haben. Ich bin ein echter Fan des Lebensstils in Kanada und weiss das sehr zu schätzen: ihre Werte und ihr Verhalten gegenüber Immigranten. Ich fühle mich Kanada sehr verbunden und viele Leute, die ich dort traf, gehören zu meinen engsten Freunden.
In Ihrer Formation Continuum – fantastisches Album auf Pi-Recordings -agiert nicht nur der aus Haiti stammende und durch Cecil Taylor bekannt gewordene Drummer Andrew Cyrille, sondern auch ein kubanischer Bildhauer und Maler namens Alberto Lescay, der für die visuelle Komponente sorgt.
Ich habe mehrere Jahre mit Andrew Cyrille gearbeitet. Er sagte einmal zu mir, in vielen Fällen bekomme er die Information von den anderen Leuten in der Gruppe. Ich fand, das war eine wertvolle Lektion. Wir tendieren gelegentlich zu dem Glauben, alles müsse von uns kommen. Das muss nicht immer so sein. Man kann die Dinge atmen lassen, sie so lassen wie sie sein wollen; nicht immer bedürfen sie deines Inputs. Um das zu erfahren, musst du dich in Einklang mit dem befinden, was im Moment geschieht. Wer auf Autopilot geschaltet hat, mag das Bedürfnis zu spielen verspüren, wird vielleicht aber im Moment gar nicht gebraucht. Mehr einzubringen mag eine spezifische Notwendigkeit sein - all diese Entscheidungen sind jedoch in Echtzeit zu treffen. Und gehört zu den Ansprüchen, die improvisierte Musik an einen stellt: Was tue ich jetzt, lasse ich die Dinge wie sie sind, verharre ich in der Rolle eines Outsiders? Schon das Zuhören selbst ist eine Form der Anteilnahme. Aber man muss nicht immer Spielen. Das versuche ich noch immer herauszufinden, es ändert sich von einer Situation zur anderen.
Das neue Album “Mbókò” befasst sich mit der Carabalí-Kultur Cubas, insbesondere mit der Geheimsekte der Abakuá. Bei seinen Musikstudien fiel dem jungen Pianisten auf, dass Religion und Kultur ganz allgemein prägend für die cubanische Identität waren und sind. Alle Kompositionen, die er schrieb, sind direkt inspiriert von den Abakuá. Wenn Román Díaz – ohne ihn als Kulturträger wäre dieses Album gar nicht denkbar gewesen - die Trommeln aus Cuba schlägt, geschieht das ganz im religiösen Geist dieser afrocubanischen Geheimgesellschaft, ist also laut David Virelles ‚heilige Musik‘. Es sei daran erinnert, dass auch die heute weit verbreiteten Batá-Trommeln lange Zeit nicht außerhalb der Rituale gespielt werden durften, wir bewegen uns also hier nicht unbedingt auf festem Boden. Auch in der sogenannten klassischen Musik Cubas gab es Komponisten, die in diesem Kontext arbeiteten und zu denen David Virelles eine intensive Beziehung verspürt.
Wissen Sie, ich denke nicht in Kategorien wie Jazz oder irgendeiner anderen musikalischen Definition. Für mich ist der sogenannte Jazz nicht losgelöst von den Musiktraditionen Cubas oder den anderen, die mich interessieren. Es ist alles Teil einer Art von Ausdruck – diese riesige Diversität der Kulturen aus der Neuen Welt. Für mich haben Bud Powell, Charlie Parker, Thelonious Monk und Andrew Hill genauso viel miteinander gemeinsam wie die cubanische Folkmusik oder Musik aus Brasilien oder Haiti, die ich gehört habe. Denn obwohl sich die Dinge verschieden entwickelt haben an diesen Orten, glaube ich, es ist im Grunde immer eine Musik mit einer sozialen Funktion für die Menschen. Auch in bin ein Teil dieses Gefüges.
Im Stanko-Quartett scheint mir Ihr Beitrag besonders wichtig, geradezu formgebend. Und Sie sind wie auch Thomas Morgan und Gerald Cleaver ein sehr guter Zuhörer, der in Echtzeit kompositorische Entscheidungen trifft.
Das Arrangement kann eine große Wirkung auf die Art haben, wie man eine Musik präsentiert. Ein Beispiel: bei der Entstehung einer Schallplatte spielt für uns die Tonmischung eine große Rolle: das Hereinkommen verschiedener Dinge auf unterschiedlichen Levels, vom musikalischen Geschehen bedingt. In der sogenannten klassischen Musik sind diese Details bereits in die Partitur eingeschrieben. Die Meister im Orchestrieren kennen genau die Ingredienzien, die einen spezifischen Klang produzieren. Auch bei uns ist es wichtig, in Begriffen von Orchestrierung zu denken. Wie klingen die verschiedenen Kombinationen zusammen? Bezogen auf die Tomasz Stanko-Gruppe heißt das: Wie klingt der Bass mit der Trompete? Der Bass mit dem Klavier. Dann das Trio aus Klavier, Bass und Schlagzeug. Oder auch nur Trompete und Schlagzeug. Und jede Schattierung, alles dazwischen Liegende.
Mein Engagement muss 100%ig sein. Was den Sound betrifft. Natürlich bin ich ständig voll konzentriert auf die gesamte Aktion dessen, was passiert. Aber den Klang betreffend kann es auch genügen, wenn ich hier und da gleichsam Kommentare einstreue. Oder etwas zu einer generellen Farbe des Ganzen beisteure. Das muss nicht immer stark ausdifferenziert sein, aber dieses eine wird allem eine andere Form geben. Mir dieser Aspekte bewusst zu sein prägt vieles in meinem Denken über die Musik, nicht nur mit Anderen, sondern auch in meiner eigenen Musik. Wie harmonieren Instrumente bei unterschiedlicher Dosierung? Wie lassen sich daraus verschiedene musikalische Sprachen ableiten? Dies sind die Kombinationen, die verschiedene Sprachen und Farben suggerieren.
Wie würden Sie Ihre Rolle im New York Quartet des polnischen Trompeters Tomasz Stanko umreißen?
Es trifft nicht nur auf diese Gruppe, sondern auf viele Ensembles zu, mit denen ich zu tun habe: Ich finde, man muss weit offen sein für die sich bietenden Möglichkeiten. Es gilt seinen Platz zu finden, innerhalb dessen, was um einen herum geschieht. Ein Beispiel: Ich führe jetzt mit Ihnen ein Gespräch und wir legen einen Ton für diese Konversation und eine bestimmte Länge fest. Auch in der Musik ist das so. Ist da jemand mit einer einzigartigen Instrumental-Stimme, gilt es Mittel und Wege zu finden, um diese Stimme zu begleiten. Man ist aufgefordert, nicht das abzurufen, was man schon weiß, auch wenn das eigene „Vorwissen“ gleichsam die Basis für alles hergibt, was im eigenen Spiel hervortreten wird. Vor allem muss man besonders sensibel sein, stets in Einklang mit der Situation, und den verschiedenen Elementen, die im Spiel sind. Warum? Weil all diese Informationen eine Richtung anzeigen, in die Musik fließen kann.
Hörtipp:
David Virelles: „Continuum“ (Pi Recordings); “Mbókò” (ECM)
Mit dem Tomasz Stanko New York Quartet: “Wislawa“ (ECM)