#10 Voice In The Night“ Charles Lloyd
Beginnings: Memphis – Los Angeles – New York
TEXT: Karl Lippegaus | FOTO: Dorothy Darr
Man geht auf die Bühne und ist nervös, die Sache anzugehen. Dann beginnst du zu spielen und begegnest den Göttern. Und das Nächste, was ich spüre, ist, dass Dorothy versucht, mich von der Bühne zu lotsen. Die anderthalb Stunden sind vergangen wie im Traum. Fliegen können und trotzdem noch erdgebunden zu sein, ist wunderschön. Wir alle sind wie Geister auf einer Reise, dies ist nur eine Passage, und Musik ist stets meine Inspiration und Tröstung gewesen.
Ist es manchmal auch ein Kampf, ein Konzert zu geben?
Ich denke nicht so darüber. Für mich ist es mein Gebet, meine Religion. Ich bin von Natur aus Musiker. Ich bin selig, dass sie noch immer hervor kommt. Man fängt als junger Mensch an, und musizierend findet man seinen Weg. Und jetzt bin ich an einem Punkt, wo sich all die über viele Jahre gemachte Musik in mir angesammelt hat, und es ist wie eine Familie, es sind meine Kinder. Ich habe einen tiefen Bezug zu all den Aufnahmen, die ich gemacht habe, meinen Reisen zum Licht. Ich habe gar nicht die Wahl zu sagen, welche besser ist, sie sind Varianten. Ich bin ein Suchender, auch im Leben, das Spirituelle zieht mich an. Der Kurs der Welt ruft mich nicht mehr.
Wie war das, als Du zum ersten Mal nach New York kamst)?
Da fühlte ich mich von den Stars angezogen, Bird und Lester Young und all die anderen hörend. Ich war im Mekka und wollte das alles erfahren. Doch ich war in der glücklichen Lage, einen lieben Freund aus der Highschool-Zeit zu haben, (den Trompeter) Booker Little (1938-1961), der mir sagte: „Es geht um Charaktere, es geht nicht um Stars.“ Booker holte mich raus aus dem Hotel, in dem Lester Young gelebt hatte, und ich konnte bei ihm wohnen. Er war ein tief spiritueller Mensch, im nächsten Jahr starb er mit 23 Jahren, aber er war ein Erleuchteter. Noch immer wird mir dieser Segen gespendet, und davon muss ich Zeugnis ablegen.
Welche Beziehung hattest Du anfangs zum Radio?
Als ich sehr jung war, hörte ich diese tollen Jazzsendungen, die von New Orleans und anderen Orten herüber drangen, was ich so an meinem kleinen Radio einstellen konnte. Ich versteckte das Radio unter mein Kissen und lauschte ihm; ich sollte längst im Bett sein und meine Eltern lebten in einem anderen Teil des Hauses, sodass sie mich nicht hörten. Für mich hatte das Radio eine Art Bekenntnischarakter, es sprach nur zu mir. Ich hatte dieses intime Verhältnis zu Billie Holiday, denn ich spürte: nur zu mir sang sie. Das Gleiche galt für Lester Young und Charlie Parker: ich hörte diesen dunklen Song, bei Duke Ellington und seinem Orchester, all das hat mich geprägt.
Eines Abends hatte ich diesen Traum, ich würde nach New York gehen, Billie Holiday heiraten und mich um sie kümmern, aber ich kam zu spät. Es war jedoch erstaunlich, wie dieser durchs Radio kommende Klang diesen kleinen Jungen erreicht und so tief berührt hatte. Ich lebte ganz in meinen Träumen und hatte so wunderbare Leitfiguren wie (den Pianisten) Phineas Newborn (1931-1989), der unser Johann Sebastian Bach war und mir half, viele felsige Küsten zu umschiffen. Diese Gemeinschaft von Musikern inspirierte mich sehr; dann gab es die Musiker, die in meine Stadt (Memphis) kamen, und viele von ihnen – Lionel Hampton und Count Basie, all diese Leute - übernachteten bei uns, weil es keine adäquate Unterkunft für sie gab. In diesem Milieu wuchs ich auf und es war wunderschön. Ich mochte es nicht, im Süden zu leben, aber ich befand mich an einem besonderen Ort.
Wie fühlt sich das an, Tenorsaxofon zu spielen?
Wenn du ein Blasinstrument spielst, besonders das Saxofon, ist das was sehr Persönliches. Wäre ich in Leipzig zur Welt gekommen, wäre aus mir vielleicht ein Bratschist oder Cellist geworden – ich mag das Cello sehr. Ich wurde jedoch im amerikanischen Süden geboren und vernahm das Alt- und das Tenorsaxofon, und Johnny Hodges war der Erste, der mich sehr bewegte. Dann Charlie Parker und all diese großartigen Musiker, die durch meine Heimatstadt zogen. Parker habe ich in unserer Stadt nicht live erlebt; ich bin mir sicher, er spürte keinerlei Drang, in den Süden zu kommen, und brauchte ein paar Konditionen, die er dort nicht finden konnte.
Wenn du in das Horn bläst, entsteht eine Luftsäule, und für mich ist es wie eine Verlängerung meines Körpers. Es hilft dir, deine Träume zu fokussieren, deine Wahrheitsfindung. Ich wuchs als einsames Kind auf; es gab keine Welt, in der ich leben konnte, also musste ich mir meine eigene schaffen.
Das Duo-Album mit Jason Moran, „Hagar’s Song“ (2013), verweist weit zurück in diese Zeit.
Ich hatte das Glück, zu meinen Großeltern fahren zu können, sie lebten in Mississippi und mein Großvater hatte eine 1600 Morgen große Farm, mit riesigen Orchideen. Ich konnte dort Früchte essen und tagelang spielen, es war wie in einem Traum. Es gab einen Mann, der auf dieser Farm arbeitete, Poon Jones, der spielte Gitarre und sang, ein wenig in der Art von Robert Johnson. Es hatte eine starke Wirkung auf mich, den frühen ländlichen Blues zu hören. Meine Urgroßmutter – wir haben zahlreiche amerikanische Ureinwohner unter unseren Vorfahren – hieß Sally Sunflower Whitecloud. Noch immer habe ich ihre Songs und ihre Stimme im Kopf, wenn sie sang.
Darauf verweist auch die Songauswahl für „Lift Every Voice“ (2002).
Damals ging ich zur Kirche und hörte diese Spirituals wie „Go Down Moses“. Ich habe sie anfangs nicht gespielt, erst später. „The Water Is Wide“, „Amazing Grace“ – all diese Melodien kommen mir in den Sinn und rufen mich auf. Ich bin eine Person, die irgendwie nicht in diese Welt hinein passt, aber ich kann in einen Song ausbrechen, das macht für mich das Leben lebenswert. Sonst würde es mir, glaube ich, keine große Freude machen, hier zu sein. Was meinen Sound betrifft: Ich sehe mich eher wie einen Bluesmann, der einen spirituellen Song singt.
Schon als Zwölfjähriger hast Du in Bluesbands in Memphis gespielt?
Ja. Draußen auf den Baumwollfeldern haben sie die wahre Essenz vernommen, in dieser Hitze, der Feuchtigkeit, dem wahnsinnigen Rassismus. Da wurde etwas so Wahrhaftiges ausgedrückt, das bis auf den heutigen Tag die Erinnerung an jemanden wie Howlin‘ Wolf in mir wachhält. Wolf glich einem von Shakespeare erdachten Meister, er sang die Wahrheit; was es heißt, am Leben zu sein, Leben und Tod, das ganze Ding. Die Frauen, die ihm zuhörten, griffen ihn an und rissen ihm die Kleider vom Leib. Wir spielten in diesen kleinen Lokalen, Wolf war wie ein Troubadour, der herumreiste und Leuten seinen Segen spendete. Diese Typen brachten einen hoch, es war ein Akt der Befreiung. Wenn du sagst, die seien vermutlich anders gewesen als die Jazzmusiker: vielleicht waren die Jazzleute etwas gebildeter oder sowas, aber für mich war es ein wunderbarer Start.
In einem Buch über Ramakrishna las ich, dass die Trance den Weg öffnet für die Begegnung mit dem Höheren.
Ja, ein zentraler Punkt. Mit Howlin‘ Wolf und Bobby ‚Blue‘ Bland war es eine ekstatische Erfahrung. Ich würde eine Musik nicht als besser beurteilen im Vergleich mit anderen. Sieh‘ dir Bartók an, der diese Folkthemen bearbeitete - ich liebe seine Streichquartette. Für mich gilt einfach: Wenn du Musik wirklich liebst, dann liebst du viel davon. Ich bin dann ja auch sehr früh in indische Musik und diese Dinge hineingestolpert - indianische und indische Musik. Worüber du nachsinnst, was du einbringst, worauf du abzielst, wächst in dir. Da ist dieser kleine Junge (in Memphis), der hört Blues und diese raffinierte Musik Duke Ellingtons. Dann geht er zur Schule und spielt die Klassiker, Beethoven und Mozart, Bach natürlich. In den Schulorchestern hat man eine dreihundert Jahre alte europäische Musiktradition gleichsam angebetet; dafür haben sie schwer geworben in den Schulen. Gleichzeitig aber gab es in meinen Schulen unten im Süden eine reiche Jazztradition: das waren echte Pioniere. Bird und Diz - das hat mir den Sinn für die Moderne eingepflanzt. Über diese alten Bluestypen denke ich, die hatten die Weisheit der Ahnen. Die Sachen mögen harmonisch simpler gewesen sein, doch was sie vom Leben wussten, war sehr reich. Weißt du, wenn ich mein Instrument nehme, singe ich diesen Song.
Gil Scott-Heron schreibt: „Memphis meant music.“ Was passierte danach bei dir?
Dann ging ich nach Kalifornien und war zusammen mit (dem Schlagzeuger) Billy Higgins und (dem Altsaxofonisten) Ornette (Coleman), mit Eric Dolphy und diesen Leuten. Es wird dir zu deinen Lebzeiten gar nicht klar, dass du Geschichte schreibst. Du denkst einfach nur: das ist unsere Clique, so ist unsere Natur. Ich fand es interessant, dass ich von Memphis nach Kalifornien statt direkt nach New York ging. Es sind nur 1300 Meilen von Memphis nach New York, aber über 2000 Meilen bis an die Westküste. Ich ging aufs College 1956, an der University of California, studierte Musik. Die ursprüngliche Idee war, Medizin zu studieren; im Süden, wenn du da Arzt oder Anwalt warst, konntest du es irgendwie schaffen, davon zu leben. Ich will es aber nicht zu etwas bringen, ich will durchs Leben fliegen. Im Song. Für ein Medizinstudium war es eh zu spät: ich war schon von der Cobra gebissen worden. Das Schicksal nahm seinen Lauf.
Später zog ich nach New York und kurz darauf auch Chico Hamilton, denn er wollte, dass ich weiter mit ihm arbeitete, und unsere Band zusammenhalten. Es war eine harte Zeit, wir arbeiteten in diesen Clubs, 52 Wochen im Jahr. Saloons. Viel Zigarettenqualm. Ich rauche nicht. Du kommst nach Hause und deine Klamotten, deine Haaren – alles riecht nach Tabak. Ich wurde der musikalische Leiter bei Chico, schrieb viele Stücke für ihn; wir machten Alben wie „Passin‘ thru“, und „Man of two worlds“, mit Gabor Szabo, dem ungarischen Gitarristen.
Dann trat ich ´64 der Cannonball Adderley Group bei, ich war fast vier Jahre bei Chico Hamilton vorher gewesen. Joe Zawinul war in der Band, Sam Jones, Louis Hayes, Cannonball und sein Bruder Nat. Das war eine sehr interessante Erfahrung, er wollte, dass ich weiter komponierte, wir spielten also auch meine Musik, aber ich fühlte mich irgendwie nicht zuhause bei ihnen. Mein Ausdruck war freier, die Moderne lockte mich, und Mitte 1965 verließ ich die Gruppe. Dann begann eine schwere Zeit. Ich musste in kleinen Clubs wie im „Slug’s“ auftreten. War viel unterwegs. Aber allmählich wurde es besser.
An welchem Punkt warst du, bevor du aussteigen wolltest und nach Big Sur abgetaucht bist?
Es ist komisch, wie soll ich sagen: Ich war nie ein Hippie. Ich hatte nichts, wo ich rausfallen musste. Ich kam aus der unterdrückten Klasse im Süden, aber ich sehe mich als Idealisten, und da gab’s diese Verbindung, denn Idealisten waren diese jungen Leute in San Francisco auch. Ich mochte nie, wie die Welt regiert wird, es schien immer alles um Generäle und Politiker zu kreisen. Statt noch mehr Politiker brauchen wir weise Leute, die sich der Humanität widmen und ihr dienen. Es erinnert mich manchmal an einen Viehauftrieb. Oder an Schlafwandler. Es hat nie funktioniert. Die Welt ist ein düsterer Ort, egal wieviel man daran herummacht. Es gibt immer die Kapitalseigner und das Heer der Büroangestellten oder sowas. Dem konnte ich mich nie zugehörig fühlen.
„Forest Flower“ (1966) wurde eine der meistverkauften Jazzplatten damals. Warum hast du dieses enorm erfolgreiche Quartett aufgelöst?
Als wir mit dem Quartett (mit Keith Jarrett, Cecil McBee und Jack DeJohnette) abhoben, begannen mich der Stress und die Spannungen im Musikbusiness immer mehr zu stören. Ich begann mehr und mehr rezeptfreie Medikamente zu schlucken und verlor meinen Kurs. Ich hatte die Bedingungen des Musikmachens irgendwann derart satt, sah es als derart unfair an, ich hatte zwar großartige Musiker um mich, aber ich selbst drohte dabei draufzugehen. Ich liebte die Kunst, Musik zu machen, noch immer, und musste daran denken, wie mein Großvater sich seine Welt geschaffen hatte. Das wollte ich in meiner Lebenszeit auch erreichen. Die Leute dachten, mir ginge es gut, aber finanziell war das nicht der Fall. Dann kamen diese kleinlichen Eifersüchteleien in meiner Gruppe auf. Die utopische Idee, die ich hatte, war verflogen. Da entschied ich mich fortzugehen und mich zu heilen, denn ich war von meinem Pfad abgekommen. Warum groß noch darüber reden, wie man zerfiel und in den Spiegel der eigenen Unzulänglichkeiten schaute? Du musst was dagegen unternehmen.
Hörtipp: Charles Lloyd, “Manhattan Stories” (Resonance, 2014)