#09 Résumé(s)
Begegnungen mit Eberhard Weber
TEXT: Karl Lippegaus | FOTO: Karl Lippegaus (Foto Eberhard Weber)
Stuttgart, 1964. In der Villa Berg, wo tagsüber das Erwin Lehn-Orchester für den Süddeutschen Rundfunk aufnimmt, haben sich gegen 18 Uhr drei junge Musiker versammelt. Man spielt ein erstes Stück und geht zum Produzenten Horst Lippmann in den Regieraum, um sich das Resultat anzuhören. Es klingt überzeugend, und trotz der sehr knapp bemessenen Studiozeit gelingt es, dass jedes weitere Stück auf die spätere Platte gelangt. In drei Stunden ist die ganze traumwandlerisch schöne Musik fertig und rückblickend findet Eberhard Weber, es sei die beste Platte gewesen, die er mit dem Pianisten Wolfgang Dauner und dem Drummer Fred Braceful aufgenommen habe: letzterer sei vielleicht kein grandioser Schlagzeuger, aber ein hervorragender Musiker gewesen. Dieses Album „Dream Talk“ ist zwar unüberhörbar von den Errungenschaften des Bill Evans Trios mit Scott LaFaro und Paul Motian geprägt. Doch der damals 24-jährige hat heute noch so großen Respekt vor LaFaros Errungenschaften, dass er jeden Vergleich bescheiden abwinkt.
Obwohl er als Sohn eines Cellisten vom Vater den ersten Unterricht und eine sehr solide Basis bekam, stand ihm, als er ein paar Jahre später vom Cello zum Kontrabass wechselte, dieses Ziel stets vor Augen: ein Künstler zu werden und nicht „nur“ ein virtuoser Jazzbassist. Was er in Kindheit und Jugend gelernt hatte, wirkte auf sein ganzes späteres Schaffen nach. „Ich habe ein schlechtes musikalisches Gedächtnis. Ich kann mir kaum was merken, wenn ich mal was gehört habe. Ich muss – und das habe ich immer – ich muss es auf Noten sehen. Und dann kann ich es spielen. Auch wenn ich mal ein Stück vergessen habe und man legt mir Noten vor, die anders aussehen als ich es noch in Erinnerung habe, dann muss ich es quasi neu lernen. Eine ganz eigenartige Sache.“
Seinen sofort wiedererkennbaren und nicht imitierbaren Sound konnte Eberhard Weber später nicht nur mit seiner speziellen E-Bass-Erfindung - mit einer zusätzlichen höheren Saite und einer ausgeklügelten Verstärkung - erzeugen. Sein letztes Instrument, das heute noch spielbereit im Musikzimmer steht, baute übrigens ein Luthier in Israel. Sogar wenn er hin und wieder zum herkömmlichen Holzbass griff, war der typische Weber-Sound immer deutlich präsent - zu hören auf seinem ersten Soloalbum „The Colours of Chloe“ oder auf „Pendulum“. Wie für jeden großen Jazzmusiker hatte auch für ihn dies immer Priorität: to find your own voice. Schmunzelnd erinnert er sich, während wir in seinem Haus in Südfrankreich über seine mehr als vierzigjährige Karriere sprechen, an die Zeit, als er „als Telefonbassist“ für MPS Records in Villingen fungiert habe. Wertvolle Erfahrungen machte er u.a. mit dem brasilianischen Gitarristen Baden Powell, mit dem er 1968 das schöne Album „Poema On Guitar“ aufnahm. Dass ein Stück nur aus Off-Beats bestehen konnte, war ihm neu, und nur mit äußerster Konzentration gelang es ihm anfangs mitzuhalten. „Wenn man da nicht aufpasst, ist man draußen, und kommt nie wieder ´rein.“
Erst zehn Jahre nach der Session mit dem Dauner-Trio in der Villa Berg wurde der gelernte Fotograf erst wirklich Profimusiker. Seine zwischenzeitliche Tätigkeit beim Film spiegelt sich nicht nur wieder in vielen Titeln, die er seinen Kompositionen gegeben hat; dieser kinematographische Ansatz zeigt sich auch in der Art, wie er seine Alben konzipierte: als Hörfilme ohne Dialoge, ohne dass ein einziges Wort fällt. Es ist zum Allgemeinplatz geworden, auch Musiker oder Filmemacher als Storyteller zu bezeichnen – tatsächlich aber haben gerade Webers oft großformatig inszenierte Klangbilder etwas von Geschichten, die mit anderen Mitteln als denen der Sprache erzählt werden. An die eindrucksvollen Beiträge, die er für Peter Rühmkorfs Poesie aus dem Stand heraus erfand („Kein Apolloprogramm für Lyrik“), mochte er sich kaum noch erinnern, als wir dieses Thema im Gespräch streiften.
Zwischen 1974-77, nach dem großen Erfolg von „The Colours of Chloe“, durch das auch der amerikanische Vibrafonist Gary Burton auf Weber aufmerksam geworden war, fungierte er mehrere Jahre als Solobassist inmitten des Burtons-Quintetts in seiner vielleicht stärksten Besetzung mit den beiden Gitarristen Mick Goodrick und Pat Metheny. Wieder musste er sehr rasch lernen, wie man eine soeben notierte Komposition prima vista umsetzt. Harmonisch war ihm vieles neu; Alben wie „Ring“ und „Passengers“ aber zeigen, wie wundervoll sich zwei Bassisten – Weber und Burtons unverzichtbarer Pulsgeber Steve Swallow – ergänzen können. Auf fünf-sechs ausgedehnten Tourneen lernte er dann so ziemlich jeden Winkel der USA mit der Band kennen. 1974 war überhaupt ein wichtiges Jahr für ihn: als „Chloe“ den Preis der deutschen Schallplattenkritik bekommen hatte, fühlte er sich ermutigt, eine eigene Band namens Colours zu formieren. Schon ein Jahr danach waren Weber und der Schlagzeuger Jon Christensen – damals die erste Rhythmusgruppe bei Colours – an dem Meilenstein „Solstice“ mit dem Gitarristen Ralph Towner und dem Saxofonisten Jan Garbarek beteiligt. Da konnte man in der Tat von der Magie der ersten Begegnung sprechen. Ich erinnere mich noch gerne an eins ihrer seltenen Konzerte.
Mit Colours erfand Weber so schöne und atmosphärisch dichte Einleitungen vor dem eigentlichen Thema, dass der Produzent Manfred Eicher einmal halb im Scherz vorgeschlagen habe, nur diese Intros für die Platte zu verwenden und den Rest wegzulassen. Damals, sagt Weber, sei die Zeit einfach eine andere gewesen, und es sei ganz normal gewesen, dass ein Stück mal zehn, fünfzehn Minuten dauerte. Irgendwann beschlich ihn das Gefühl, mit Colours als Komponist alles gesagt zu haben. „Ich bin ja kein Vielschreiber. Ich schreibe nur, wenn es nötig ist und man einen Grund dafür sieht.“ An jene Zeit zurückdenkend wundert er sich darüber, dass Charlie Mariano nie mal zum Altsaxofon gegriffen, sondern immer nur Sopran gespielt habe; und dass Mariano ihm Jahre später bei einer kurzen Reunion die Frage stellte: „Warum hast du bloß diese Gruppe aufgelöst?“ Wie ihn das verblüfft und auch ein wenig getroffen habe. „Ich habe mich auch jedes Mal getäuscht, wenn ich dachte: das wird das Stück der Platte und das eine Nebensache - es war fast immer das Gegenteil der Fall. Das Stück, das ich am tollsten fand, hat überhaupt nicht funktioniert, das musste man zehn Mal machen und anders lösen. Deshalb bin ich nicht in der Lage zu sagen: Was war die schönste Studioerfahrung? Richtiger müsste man sagen: Was war eigentlich die schönste Knochenarbeit? Auch wenn nachher eine Freude daraus strahlt – Plattenmachen ist harte Arbeit. Dieser Traum, man wacht auf und hat die ideale Melodie im Ohr, das hab‘ ich nie gehabt. Ich musste mich hinsitzen und mir mühsam etwas zurechtlegen, dann war ich immer noch nicht zufrieden und es hat nochmal wochenlang gedauert, den Ton ändern, warum den Ton da und nicht hier? Also, ich brauche oft lange, um was fertigzustellen.“
Die Ereignisse überschlugen und überlagerten sich, besonders als Jan Garbarek ihm anbot, in seiner neuen Formation mitzuwirken. Kein anderer Musiker hat danach so lange mit dem Norweger kooperiert wie Eberhard Weber. „Wenn man so lange zusammen spielt wie Jan und ich – es waren ja letztendlich 25 Jahre, bis das Schicksal mir gesagt hat, jetzt geht’s nicht mehr. Natürlich haben wir uns gut verstanden und oft ähnliche Überlegungen gehabt: nicht in die festgefügten Formen zu verfallen, die es damals gab, sondern alles etwas auflösen, zu lockern. Mit Jan wurde viel ausprobiert und er kam eigentlich nie mit fertigen Kompositionen. Die Melodie war da, er hatte die Grundidee, die Harmonik, eventuell auch mal ein kleines Zwischenspiel. Aber wie das in der Realität später auf Tournee aufgebaut wurde war nie festgelegt, sondern man hat quasi ein lead-sheet mit Melodie und Harmonien bekommen, vielleicht noch eine Basslinie. Aber dann war er immer so offen und hat auch darum gebeten, vielleicht auch abhängig davon: ‚Was schlagt Ihr vor, wie wir das machen?‘“
Fast immer dauerte die Vorarbeit für ein neues Album etwa ein halbes Jahr, zuhause am Klavier minutiös ausgedacht, natürlich mit viel Raum für die Solisten, „aber es war im Prinzip immer eine durchdachte Form“. Dieses langsame Spinnen eines Erzählfadens galt besonders für Soloalben wie „Fluid Rustle“ und „The Following Morning“. Schon bei „The Colours of Chloë“ habe er vorgehabt, selber gar nicht mitzuspielen, sondern gleichsam als Klangregisseur im Hintergrund die Fäden zu ziehen. Viel später, bei „Endless Days“, griff er diesen Gedanken wieder auf, „wenigstens mal für ein Stück.“ Im Rückblick wurde ihm klar, wie europäisch er als Jazzmusiker stets vorgegangen war.
„Ich habe festgestellt, vielleicht hat das auch einen generellen Grund, bei sehr vielen Platten, meinen Lieblingsplatten, ob in der Klassik oder im Jazz, habe ich bestimmte Momente, die ich ganz toll finde. Es kann nur ein Akkord sein, ein Takt oder eine Phrase, und ich habe immer bedauert, dass diese Phrase, die ich so liebe, nur in vier-fünf Sekunden weg ist. Und ich hab‘ dann mir gesagt: dann mache ich doch etwas, was mir gefällt, und ich verlängere das. Nicht gerade Minimal Music – nicht so weit, obwohl ich das auch gerne mochte, mal eine Zeit lang. Aber jetzt verlängere ich das einfach und füge schöne Akkorde hintereinander, und so weiter. Ich wollte alles immer ein bisschen ausdehnen, so dass es mir mehr gefällt. Das war im Prinzip eigentlich der Ausgangspunkt zu „Colours of Chloe“, in dem ich eben bestimmte Phraseologien verwendet habe, die sich ab und zu auch mal wiederholen.“
„‘Pendulum‘ war wichtig, weil es so eine Platte eigentlich nicht gab. Insofern kann ich stolz darauf sein, diese Idee, aus dem Bass ein Orchester zu machen, und weil ich es wirklich gelungen finde. Für mich ist es ganz wichtig, dass ich eine Platte ganz durchhören kann, ohne dass ich sage, jetzt reicht’s – sonst stimmt was für mich nicht. Jeder wird das anders hören, aber das war eine Platte, die kann ich durchhören.“ Bevor er 1993 diese großartige Platte aufnahm und dafür nach Ideen für neue Stücke suchte, fiel ihm ein, sich einige der vielen völlig spontan entstandenen Baßsoli anzuhören, die er in der Jan Garbarek Group gespielt hatte: manchmal fünf bis zwölf Minuten lange spontane Improvisationen, die als Überleitungen gedacht waren. Der Toningenieur Garbareks hatte jedes dieser Weber-Soli auf Hunderte von DAT-Kassetten mitgeschnitten.
Für „Pendulum“ wurde letztlich kein Archivmaterial verwendet, nachdem Weber neue Stücke geschrieben hatte. Doch als ihn 2007 jener fatale Schlaganfall ereilt hatte, der das Baßspiel unmöglich machte, boten diese viele Stunden Musik einen Fundus, aus denen sich etwas Neues kreieren ließ, das mehr als nur recycelte Tonkonserve war. In einem langen diffizilen Editing-Prozess, der eigentlich ein re-composing von Improvisation – wohlverstanden als ein Komponieren in Echtzeit - ist, entstand aus dem Basisstoff, der aus fast zwanzig Jahren stammte, eine neue Musik, die allgemein auf ein enorm positives Echo stieß. „‘Resumé‘ ist ja auch eine Produktionsform, die so noch nie gemacht worden ist: dass jemand spontane Soli, die er gespielt hat, anschließend minutiös mit Dingen verfeinert, mit Parallellinien und was-weiß-ich bestückt. Ich bin sehr zufrieden, dass mir das gelungen ist. Eine Selbstanalyse ist eine schwierige Sache: Ich fürchte, dass ich von mir nicht behaupten kann, dass ich aus reinen Emotionen meine sämtlichen Kompositionen und Produktionen gemacht habe. Schriftstellerei ist auch harte Arbeit, mit Lektoren und zehnfach durchgedacht, und bei der Musik ist es genauso, minutiös wird alles durchprobiert, am Schluss ist es fertig und wenn man Glück hat gefällt es den Leuten.“
Am 22. Januar wird Eberhard Weber, der zur Zeit an seiner Autobiographie schreibt, seinen 75. Geburtstag feiern. Mit zwei Konzertabenden im Theaterhaus in Stuttgart, u.a. mit Gary Burton und Pat Metheny, sowie dem Erscheinen von „Encore“ bei ECM Records.
Tipp: 75 Jahre Eberhard Weber: THE GREAT JUBILEE CONCERT
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Jazzpreis Baden-Württemberg Sonderpreis für das Lebenswerk
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Den 23. und 24. Januar 2015 sollten sich Jazz-Fans dick im Kalender anstreichen:
Zum 75. Geburtstag des großen Bassisten Eberhard Weber finden sich seine ehemaligen Weggefährten in Stuttgart zu einem einzigartigen Line-up zusammen. Erstmalig stehen Gary Burton, Jan Garbarek, Pat Metheny, Ralph Towner, Paul McCandless, Scott Colley und Danny Gottlieb gemeinsam auf einer Bühne; zu Ehren von Eberhard Weber, der an seinem Geburtstag mit dem erstmals vergebenen Jazzpreis des Landes Baden-Württemberg für das Lebenswerk ausgezeichnet wird.
Link zur Veranstaltung:
http://www.theaterhaus.de/theaterhaus/index.php?id=1,3,17592