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#04 "The Ultimate High"

In memoriam Don Ellis (1934-1978)

Köln, 04.07.2014
TEXT: Karl Lippegaus | FOTO: Archiv

"Zwei Hauptelemente stehen für die Originalität unseres Orchesters: es macht eine Musik, die keiner anderen gleicht und da ist dieser bombastische, flammende Stil. Es ist nicht nur eine Frage der Orchestrierung, aber natürlich habe ich meine eigene Art, einen Akkord zu arrangieren. Ich liebe es, vertrauten Dingen eine neue Wendung zu geben."

Don Ellis

Am 25. Juli 1934 wurde er in Los Angeles geboren, sein Vater war Methodistenprediger, seine Mutter spielte Kirchenorgel. Ein frühes Interesse am Jazz fand er durch den Trompeter Harry James und ein Konzert der Tommy Dorsey Band. Der kleine Don hörte dieses Orchester etwas spielen, das wie aus 76 Posaunen klang. Daraufhin schrieb er einen Brief an den Weihnachtsmann, und weil er nicht ‚trombone' schreiben konnte, wurde daraus sowas wie ‚trumpet'. So fing das alles an für den schmächtigen blonden Knaben mit dem vergrößerten Herzen, das anders schlug als ein normales. Am Konservatorium in Boston machte er schon mit 22 seinen Abschluss. Seinen Militärdienst leistete er bei der 7th US-Army in der Nähe von Frankfurt ab. In der Militärkapelle spielten sehr talentierte Leute: Cedar Walton, Eddie Harris, Leo Wright, Don Menza…

Zurück in New York trat er neun Monate in Greenwich Village in der Charles Mingus Band auf und dann der Maynard Ferguson Bigband bei. Ferguson hat ein paar schöne Dinge zu sagen in dem Film über Don Ellis, der jetzt auf DVD vorliegt. Unter anderem meint er: "Don was very what we used to call avantgarde." Anfang der sechziger Jahre studierte er bei dem Komponisten George Russell und ist auf fünf seiner Alben zu hören. Ein Trioalbum ohne Schlagzeuger, "Out Of Nowhere" (1961) – mit Paul Bley am Klavier und Steve Swallow am Bass für das Candid-Label – war eine seiner ersten Platten und gehört zu den modernsten Alben, die dieser Querdenker des Jazz je gemacht hat. Im Herbst 1962 reiste er wieder nach Europa, nahm mit seiner Trompete an den Happenings der Fluxus-Bewegung teil und interessierte sich für die Musik von John Cage. 1964 begann er nochmal ein Musikstudium, diesmal an der University of California in Los Angeles, die heute seinen Nachlass verwaltet.

"Jazzmusiker haben zwei fundamentale Ziele: eine Musik zu kreieren, bei der der Zuhörer sich fragt, was kommt als Nächstes, und einen neuartigen Kontext zu finden, um alte Wahrheiten zu erkunden. (Es gibt keine neuen Wahrheiten.)" – Gary Giddins

Don Ellis formierte eine der ersten Jazzgruppen mit indischen Einflüssen, das Hindustani Jazz Sextett, das keine Plattenfirma aufnehmen wollte. In dem Film "Electric Heart" sagt er: "In der klassischen indischen Musik finde ich Dinge, die ich in keiner anderen Musik höre. Selbst der beste westliche Musiker ist für mich immer noch ein Anfänger verglichen mit den Meistern der indischen Musik." Zu jener Zeit hatte er bereits Stücke in 19/4 und anderen ungewöhnlichen Metren komponiert. Er ließ sich eine spezielle Trompete mit vier statt drei Ventilen bauen, um Vierteltöne wie in der indischen Musik blasen zu können. Dazu erfand er auch noch neue Blasinstrumente wie den Skybone, eine Posaune, und jagte seine Trompete durch Octave-Divider und ließ sie elektronisch verstärken. Sein spannendes "Concerto for Trumpet", das auch auf dem Monterey-Livealbum ist, wurde nicht dort, sondern im Sommer 1966 beim "Pacific Jazz Festival" in Costa Mesa südlich von Los Angeles aufgenommen. Ein anderes Stück komponierte er in 27/16! Beim Monterey-Festival hatte Don Ellis mit seiner ersten Bigband einen triumphalen Erfolg beim Publikum. Im März '67 waren sie in Shelly's Manne Hole, dem berühmten Jazzclub des Schlagzeugers Shelly Manne zu hören. Die Musik dieses Gastspiels ist zu erleben auf der CD-Version ihres zweiten Albums "Live in 3 2/3 4 Time".

1966 trat das Don Ellis Sextett im Fillmore West, dem berühmten Rock-Tempel in San Francisco auf, in einem Programm mit The Grateful Dead und der Band um Janis Joplin. Ellis hatte ein Stück im 7/4-Takt komponiert, das er von ihnen auf natürliche Weise gespielt haben wollte, wofür die jungen Musiker zirka ein Jahr brauchten. In Monterey präsentierte er sich mit 20 Musikern, deren Durchschnittsalter bei 21 lag. Der Bandleader selbst war damals 32 und der neben ihm wichtigste Solist am Tenorsaxofon, Tom Scott, gerade mal 18 Jahre jung. Eines seiner seltenen Gastspiele bei Sessions anderer Künstler gab er 1967 bei den Sessions zu "Absolutely Free" von Frank Zappa & The Mothers of Invention; in dem epischen Song mit dem schönen Titel "Brown Shoes Don't Make It" konnte man ihn hören. Sein späterer Pianist Milcho Leviev sagt in dem Film, den John Vizzusi drehte: "He was just a complete musician, dedicated tot he art of making music. For me he is one of the main musicians of the 20th century."

Im April ´67 tauchte Don Ellis mit einem Oktett an der Universität von Kalifornien auf. Interessant zu hören, wie es ihm gelang, auch dieser verkleinerten Besetzung seinen Sound einzuverleiben; erst 2005 kam eine neunzigminütige Doppel-CD davon heraus. Die Musik hatte der Trompeter seiner auf Kassetten nach Konzerten verkauft. Für das Konzert beim Monterey-Festival hatte er eine Unterschriftenaktion gestartet, damit man seine Band einlud. Dieses Album "Pieces of Eight" enthält dreizehn Stücke, davon acht Eigenkompositionen sowie Versionen von Miles Davis- und Billy Strayhorn-Stücken. Die Vierteltontrompete und der Fender Bass waren zu der Zeit schon Teile seines neuen Sounds. Der Talentsucher und Produzent John Hammond nahm die Band bald darauf für Columbia unter Vertrag. Hammond witterte den sich abzeichnenden Jazzrock-Boom. Im September ´67 wurde das Album "Electric Bath" aufgenommen; die LP-Hülle zierte das berühmte Gemälde von Ingres, "Das türkische Bad" (1862), und die Musik wurde für einen Grammy nominiert. Dann wurde es Album des Jahres im Jazzmagazin ‚Down Beat'. Wie kaum einem anderen Jazzmusiker seiner Zeit außer Miles Davis gelang es Don Ellis, einen deutlich verjüngten Zuhörerkreis für instrumentalen Jazz zu interessieren. Die Entdeckerlust des Leaders übertrug sich auf Band und Publikum: Ellis wirkte wie ein Magnet. Das erste Stück auf "Electric Bath", es heißt "Indian Lady", wurde quasi die Erkennungsmelodie: ein raffiniertes Stück im 5/4-Takt mit einem folkähnlichen Thema.

Im November 1967 reiste Don Ellis zu den Berliner Jazztagen und gab vorab schon mal Workshops. Unterrichtet hat er immer viel und nicht zuletzt durch sein positives, mitreißendes Wesen und seine sympathische Ausstrahlung wurde er ein ausgezeichneter vielgefragter Jazz-Pädagoge. "Das Spiel in 17/8, in 19/8 oder sogar in 85/8 – wie ich es mit meinem Orchester in den USA praktiziere – ist nicht schwer. Wenn Sie einmal in diesen Metren zählen und fühlen können ist es reine Gewohnheitssache. Die Musiker in Berlin haben meine Partituren nach einer Vorbereitungszeit von nur zwei Tagen gespielt – live für eine anderthalbstündige TV-Sendung!" Nach einem Zwist mit Columbia hatte Don Ellis seine erste Bigband aufgelöst und eine neue formiert. Dann folgte mit dem Album "Shock Treatment" eine etwas seltsame Hommage an Antonin Artaud und sein "Theater der Grausamkeit". Nach einem schnellen, energiegeladenen Opener singt auf einmal ein Chor hart am Kitsch - wäre da nicht Dons immer interessantes Trompetenspiel. Darauf folgt ein langsamer Blues. Die therapeutische Wirkung dieser ‚shock treatments' – der angekündigten Schockbehandlung – ließ auf sich warten. Und wo hatte sich Monsieur Artaud versteckt? Das Stück "Zim" – eines der besten der Sessions – war zwar auf dem LP-Cover vermerkt, tauchte aber erst 2001 auf der CD-Version aus Japan auf.
"Ich hatte die Endmontage in Kalifornien gemacht und das fertige Produkt zu Columbia nach New York geschickt. Als das Album aus dem Presswerk kam, wurde mir mit Schrecken klar, dass man die ganze Platte – ohne mich zu konsultieren – verändert hatte. Versionen, die ich gar nicht haben wollte, waren benutzt worden – nicht die, die ich ausgesucht hatte. Manche Melodien waren falsch und nicht-autorisierte Schnitte entstellten bestimmte Kompositionen. Ganze Teile, die wichtigsten des Albums, waren einfach weggeschnitten worden. Ich habe dann von Columbia verlangt, dass man die Platte nach meinen Anweisungen komplett neu presste, und das hat man dann auch liebenswürdigerweise getan."

Juni 1968. Don Ellis fand mehr und mehr Interesse an Filmmusik und es ergab sich Zusammenarbeit mit Roman Polanski für "Rosemary's Baby": Ellis spielte die fantastische elektronisch verfremdete Trompete in den Kompositionen von Polanskis Freund Krzysztof Komeda, die außergewöhnliche schauspielerische Leistung Mia Farrows untermalend. Bei Live-Auftritten erschien seine Band in Phantasieuniformen, die aussahen wie Tupperware-Vertreterinnen auf LSD – aber egal! Die Musik sollte man wiederhören und neu entdecken, es lohnt sich, den Hippie-Kitsch kann man vergessen. Auf dem Album "Autumn" ist eine neunminütige Live-Version von Charlie Parkers "K.C. Blues" zu hören, die fast alles schlägt, was Bigbands in jener Zeit zu spielen in der Lage waren. 1964 trat der Workaholic Don Ellis als Trompetensolist mit den New Yorker Philharmonikern unter Leonard Bernstein auf.

The New Don Ellis Band Goes Underground
"Ich arbeite für den Jazz, entwickle neue rhythmische Techniken, die aufregender und raffinierter sind, neue harmonische und melodische Systeme, und finde neue Formen. Das Wichtigste, woran wir in naher Zukunft arbeiten werden, ist das rhythmische Element."

In der Musik des Balkans, vor allem der griechischen und der bulgarischen, fand er jene ungeraden komplexen Metren, die ihn so begeisterten. Mit 23 Musikern – darunter 3 Bassisten und 5 Leuten in der Percussion-Abteilung – probte er zu jener Zeit viel und testete neue Blastechniken. "Bulgarian Bulge" mag sich heute wie irgendein Stück einer der vielen Blaskapellen vom Balkan anhören, schlug jedoch damals 1969 wie eine Bombe auf der Jazzszene ein. Ein Stück in 33/16, auf einer aus Bulgarien von Leviev herausgeschmuggelten ethnischen LP, hatte Ellis völlig fasziniert. Wie war es möglich, dass Autodidakten, eine Blaskapelle aus Bauern, so eine raffinierte Musik spielen konnten? Seine Musiker im Orchester hatten in Bigbands gearbeitet, die straight-ahead gespielten Jazz in 4/4 oder ¾ gewöhnt waren. Mit seiner Begeisterung für 33/16 trieb er sie fast zum Wahnsinn.

Als er Weihnachten in die USA zurückkehrte, präsentierten ihm seine Freunde ein besonderes Geschenk: einen eigenen Club, Ellis Island, in North Hollywood. 1968 kam es nach einem Streit mit Columbia zur Auflösung der ersten von vier Bigbands. Zwölf von achtzehn Musikern waren neu in der zweiten Band, mit der Don Ellis im Sommer ´68 zum Jazzfestival nach Antibes an die Cote-d'Azur kam. Jetzt bewegte er sich mehr und mehr in Richtung Rock, vor allem mit dem Album "The New Don Ellis Band Goes Underground", gefolgt von "Don Ellis at Fillmore". Beide sind jetzt endlich nach Jahrzehnten zum ersten Mal auf einer Doppel-CD wiedererschienen.

Der Kritiker Jim Santella schreib rückblickend: "Viele Erinnerungen knüpfen sich an das Album "The New Don Ellis Band Goes Underground". Ich bin damit aufgewachsen und kam gerade frisch vom College. Don Ellis nimmt einen mit auf eine turbulente Reise; er benutzt eine elektronisch verstärkte Trompete, komplexe Metren, erstklassige Bigband-Arrangements, und ein Team aus erfahrenen Mitspielern, die die Wände zum Einstürzen bringen. Selbst der eingefleischteste Gralshüter des Jazz muss zugeben: diese Musik packt einen schon nach wenigen Sekunden. Der Wechsel zu E-Gitarre, Keyboards und E-Bass gab Ellis ein zeitgemäßes Image."

Im Juni 1970 drei Abende hintereinander wieder im Fillmore West in San Francisco, diesmal eröffnete er für die Band Quicksilver Messenger Service und den Pianisten und Sänger Leon Russell. Ein sehr interessantes kleines Stück von Fred Selden hieß "The Magic Bus Ate My Doughnut". Ellis fand für seine Kompositionen Titel wie "Euphoric Acid" kein Wunder, die Alben nahm er jetzt in San Francisco auf. Tune in, turn on, drop out, man! Im Winter erschien die Musik auf einer Doppel-LP beim Columbia und enthielt sogar eine ziemlich ausgeflippte Version von "Hey Jude" von den Beatles. Musikalisch lohnender waren jedoch Don Ellis' eigene Kompositionen wie das mitreißende "Salvatore Sam". 1970 war auch die Zeit, als viele amerikanische Colleges und Universitäten eigene Bigbands hatten. Don Ellis gab zahlreiche Workshops und seine Ideen und Kompositionen infiltrierten diese jungen Orchester. 1971 fügte er dem eigenen Orchester ein Streichquartett hinzu. Der ausgezeichnete Jazzpianist und in rhythmischer Hinsicht unglaublich versierte Milcho Leviev aus Bulgarien trat in die Band ein und blieb fünf Jahre. Ende Mai 1971 nahmen sie eine ihrer besten Platten, das Live-Doppelalbum "Tears of Joy" auf. Eine lange Komposition daraus – sie heisst "Strawberry Soup" – wurde Gegenstand von zahlreichen musikwissenschaftlichen Analysen und Dissertationen.
1971 war das zweite Highlight des Jahres der Erfolg seiner Filmmusik zu "French Connection I & II", der fünf Oscars gewann. Er machte zwei durchwachsene Alben für das deutsche Plattenlabel MPS und erlitt 1975 einen Herzinfarkt. Don Ellis war gerade vierzig Jahre alt geworden und hatte immer noch den Kopf voller Pläne. Er schrieb jetzt auch viel für Film, Fernsehen und Theater und lehrte er seine Musiktheorie. Nach einer Operation am offenen Herzen verfasste er zwei Bücher, eins über Rhythmus, ein zweites über Vierteltöne, beide seit langem vergriffen. Im Jahr darauf war er gezwungen, sich auszuruhen und musste starke Medikamente nehmen. Don Ellis hatte nicht nur Trompete, sondern auch Schlagzeug gespielt, was er jetzt ganz aufgeben musste. Seine gesundheitlichen Probleme wurden immer schlimmer, er konnte nicht mal mehr eine kleine Treppe raufgehen, ohne in Atemnot zu geraten. Ein Arzt in New York diagnostizierte, sein Herz würde in seltsamen Rhythmen schlagen. Und das war der Motor des Mannes, dem wir so viele fantastische Jazzstücke in ausgefallensten Metren verdanken! Im Mai 1975 kämpften er und seine Ärzte um Leben und Tod und nach der letzten Behandlung sagte er: "It sounds weird, I know, but it was a remarkably beautiful experience, maybe the ultimate high."

Im Herbst 1976 gab seine vierte und letzte Bigband ihr Live-Debüt. Im Jahr danach gab er zahlreiche Konzerte in den USA, nahm zwei Alben auf und absolvierte mit dem Orchester noch eine Europa-Tournee, während der ein Livealbum beim Montreux-Festival entstand. 1978 spielte er beim ersten Jazz Yatra Festival in Bombay. Er starb noch im selben Jahr, am 17.Dezember 1978. Es sollte zwanzig Jahre dauern, bis ein erstes Album aus seinem Nachlass, "Electric Bath", endlich wiederveröffentlicht wurde. Am 24. Juli wäre Donald Johnson Ellis achtzig Jahre alt geworden.

Don Ellis / Paul Bley / Steve Swallow: "Out Of Nowhere" (Candid)
Don Ellis, "Autumn" (Cherry Red/H'art Vertrieb)
Don Ellis, "The New Don Ellis Band Goes Underground/Don Ellis at Fillmore" (Beat Goes On/H'art Vertrieb)
Don Ellis, "Tears of Joy" (Wounded Bird)
Don Ellis, "Electric Heart" – A Film by John Vizzusi (DVD, Arthaus Musik)
William Friedkin, Regie: "The French Connection" (1971, mit Gene Hackman u. Roy Scheider)
Michel Prodeau, "La Musique de Don Ellis" (Editions Boutik Pro, Le Bourg, F-82270 Montalzat, Frankreich) (mit ausführlicher Diskographie, Stand: 2008)

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