#03 Sternennächte
Jon Hassells Musik aus der Vierten Welt
TEXT: Karl Lippegaus |
"Die Trompete ist ein einsames Instrument. Es ist eine Stimme. Als ich mir klar machte, dass ich ein Double mit mir zusammen spielen lassen konnte, war es plötzlich so, als hätte ich nicht nur einen Bleistift, sondern eine Handvoll Stifte, um die Linie zu zeichnen. Der Versuch führte zu einem sehr atemreichen, gesangsartigen Klang." (aus: David Toop, Ocean of Sound)
Mehrere Dinge kamen zusammen. In einer Titelstory der französischen Zeitschrift Actuel sah ich um 1981 drei Männer vor einem "Lightning Field" in der Wüstengegend New Mexicos, errichtet von Walter de Maria. Nördlich von New Mexiko waren auf einer Fläche von über einem Quadratkilometer 400 angespitzte Stahlstangen aufgestellt, die an einem Gewittertag zur kosmischen Umspannstation werden sollten. Ich las diesen inspirerenden Artikel und erfuhr, es ging hauptsächlich um David Byrne,.Brian Eno und Jon Hassell, die davon sprachen, dass sie in der Wüste ein Album machen wollten. Daraus wurde der Longseller "My Life in the Bush of Ghosts", aber der eigentliche Ideenlieferant für den Talking Heads-Chef Byrne und ihren Produzenten Eno ging am Ende leer aus. Auch als das Album 2006 mit großem PR-Aufwand wiedererschien, sah der dritte Mann im Bunde keinen müden Dollar von den beiden anderen. Die Platte mit Samples von Gospelchören, arabischen Sängerinnen und schwarzen TV-Predigern über Funk-Rhythmen usw. entstand ohne Jon Hassell, obwohl er eigentlich den Ball ins Feld gekickt hatte. "Das Publikum interessiert sich nur für das Ergebnis. Denen ist doch egal, ob du zwanzig Jahre gebraucht hast, um das hinzukriegen, was du machst, oder ob du es von einer Platte runtergesampelt hast." Jon Hassell spielte vorher aufregende Soli auf "Remain In Light" von den Talking Heads und "On Land" von Brian Eno. Es war zweifellos der originellste Trompetensound und die exotischste Melange seit Miles Davis' "On the Corner".
Der Hassell-Sound ist einzigartig. "Im Prinzip spiele ich das Mundstück und nicht die Trompete. Ich blase wie in ein Schneckenhaus – es ist der grundlegendste und primitivste Aspekt dessen, was ich mache." (Toop, s.o.) Bei einem Gespräch in New York hatten die Drei eine Kooperation für ein Album beschlossen, das auf einer Erweiterung des gängigen Vokabulars basieren sollte. Eno und Byrne nahmen die Ideen Hassells und machten das Album ohne ihn; mit Byrne redete er kein Wort mehr, Eno blieb sein Gesprächspartner und ein enger Freund. Ich erzählte damals Holger Czukay, dem ex-Bassisten von Can die Story aus Actuel und erfuhr, dass Czukay und sein Can-Partner, der Keyboarder Irmin Schmidt mit Hassell bei Stockhausen in Köln studiert hatten. Dann meldete sich Jon plötzlich aus Paris und Holger und ich fuhren hin, um ihn zu treffen. Es war der Beginn einer langen Freundschaft.
Nach und nach entdeckte ich die Lebensgeschichte dieses Mannes, der in Memphis/Tennessee zur selben Zeit wie Elvis aufgewachsen war und das silberne Kornett seines Vaters spielen gelernt hatte. Seine Schwester arbeitete für Capitol Records und brachte dem jungen Jon Stan Kenton-Platten mit nach Hause; da hat er vermutlich schon früh in Memphis "City of Glass", die rätselhafte Suite des Kenton-Arrangeurs Bob Graettinger gehört. Gerne träumte er im Kino bei Hollywood-Filmen, die auf einer exotischen Insel spielten, mit Mulattinnen, die ums Lagerfeuer neben einem rauchenden Vulkan tanzten. "Ich stelle mir immer die Frage: Was ist es, das ich wirklich hören will?" (Toop, s.o.) In New York zählte Hassell zum Avantgarde-Zirkel um Terry Riley und LaMonte Young. Falls jemand noch Terry Rileys "Music for the Gift" auftreiben kann – eine fantastische, absolut zukunftsweise Platte. Für seine experimentelle Suite zerlegte Riley kunstvoll Aufnahmen von Chet Bakers Trompetenspiel von 1963 und bastelte Tape-loops daraus, eine Offenbarung für Hugh Hopper und seine Freunde von The Soft Machine. Von LaMonte Young könnte Jon Hassell gelernt haben, was man mit einem einzigen Ton anstellen kann, wenn man ihn lange genug durchhält. Übrigens ist er auf der berühmten Ersteinspielung von Terry Rileys "In C" auf Columbia zu hören. Es dürfte seine erste Plattenaufnahme gewesen sein. Doch während andere aus seinem Freundeskreis der New Yorker Downtown-Szene jener Zeit Superstars der neuen amerikanischen Musik wurden - Steve Reich, Philip Glass, Meredith Monk und andere – blieb Hassell ein ewiger Insider-Tipp. Prägend war für ihn sein jahrelanges Studium bei dem indischen Guru Pandit Pran Nath in der Kunst des Raga.
"Als ich anfing mit Pran Nath zu studieren, begriff ich, dass die Basis der Kunst des Raga im Spielen zwischen den Noten besteht. Es geht darum, dass, wenn man sich einen Raster vorstellt und jede Tonhöhe eine Linie des Rasters einnimmt, es dann darum geht, zwischen den verschiedenen Ebenen eine schöne Kurve zu zeichnen. Das ist wie Kalligraphie." (Toop, s.o.) Hassell sagte auch mal, er lege dann einen elektronischen Lidschatten darüber. Dass seine Musik viel mit Erotik zu tun hat zeigen die Covergemälde seines Freundes Mati Klarwein, der auch für "Bitches Brew" und "Live-Evil" von Miles Davis und "Abraxas" von Santana seinen Fantasien freien Lauf ließ. Hassells erste Platte unter eigenem Namen war "Vernal Equinox" (1977), sie lieferte sozusagen die DNA für alles, was später unter seinem Namen folgte. Brian Eno erzählte, er habe nach einem Unfall tagelang aus dem Nebenzimmer nur diese Musik - mit Überschriften wie "Toucan Ocean", "Blues Nile" und "Caracas Night September 11, 1975" gehört.
Ich kenne kaum eine Musik, in der sich so organisch die verschiedensten Ingredienzien zu etwas unauflösbar Neuem verbinden. Hassell verglich es mal mit einem Cappucino, bei dem man schwarzen Kaffee und weiße Milch nachträglich nicht mehr trennen kann. Er zitiert gerne Jean Baudrillards Beschreibung von Amerika als "der primitiven Gesellschaft der Zukunft". 1983 und ´84 nahm er mit Brian Eno im Produzentenstuhl für ECM das meines Erachtens etwas überfrachtete Album "Power Spot" auf, das gleichwohl eine Menge Trompeter inspiriert haben muss, die dann zurückgingen zu Meisterwerken wie "Possible Music", "Dream Theory in Malaya" und "Aka Darbari Java". Plötzlich hörte man Hassells eigenartigen Sound bei Nils Petter Molvaer, Arve Henriksen, Erik Truffaz und zeitversetzt auch bei Ibrahim Maalouf, um nur die bekanntesten zu nennen. Sie verkauften Unmengen von Platten, nur Jon Hassell hatte verdammt wenig davon.
Wir blieben über die Jahre immer in Kontakt, auch nachdem Jon von New York nach Los Angeles umgezogen war. Dort konnte er dann erleben, wie unzählige Filmkomponisten sich seine Ideen zunutze machten. Ich meine, was wäre zum Beispiel die wunderbare Musik eines Trompeters aus der ersten Staffel von "Homelands" ohne seine visionäre Vorarbeit? Immerhin verschafften ihm Wim Wenders und sein Freund Ry Cooder einige Studiojobs, u.a. für "Million Dollar Hotel" und "The End of Violence". Hassells ergreifender "Amsterdam Blue - Cortège", der fast zehnminütige Grabgesang auf Chet Baker, scheint mir allerdings so ziemlich das einzig Nennenswerte an "Hotel". Unzählige Interpreten haben, angefangen mit Nat King Cole, die Hymne des Frühhippies Eden Ahbez nachgesungen; aber keiner tut es so ergreifend wie Jon Hassell durch seine Trompete in ein einziges Röhrenmikrofon in einer kleinen Kirche in Santa Barbara/Kalifornien, zu hören auf dem Album "Fascinoma" (die Plattenfirma Water Lily Acoustics ging pleite).
Ich war vielleicht nicht ganz unbeteiligt am Zustandekommen seines zweiten ECM-Albums "Last Night the Moon…" von 2009, das im Studio La Buissonne in der Provence entstand. Was würde passieren, wenn Jon Hassell auf Manfred Eicher traf? hatte ich mich manchmal gefragt. Nach langem Warten kam die Session endlich zustande und die Hommage an den Sufi-Poeten Rumi lieferte faszinierende Resultate. Wie beim Vorgänger "Maarifa Street" recycelte Hassell mit seiner Band kurz zuvor mitgeschnittene Konzerte und fügte sie in seiner ganz speziellen Collage-Technik im Studio zu etwas Neuem zusammen. Als wir uns zu einem Publikumsgespräch beim Atonal Festival in Berlin 2013 trafen, erzählte er mir jedoch, er wolle weg vom Jazz und Enos Plattenfirma All Saints plane sein Album "City: Works of Fiction" neu herauszubringen. In Berlin verabredete er sich mit Moritz von Uslar und Carl Craig für eine Session in Detroit, die inzwischen stattgefunden hat. (Molvaer war etwas schneller und hatte sein Album mit von Uslar bereits im Kasten, ein weiteres Album folgte gleich hinterher. So what!)
"City" war 1990 eine weitere Folge seiner Fourth World Music (ursprünglich mal als ‚Dritte Welt plus Technologie' definiert) und lose inspiriert von Federico Fellini und Italo Calvinos "Die unsichtbaren Städte". CD 2 enthält "The Living City", den Live-Mitschnitt eines phänomenalen Konzerts vom 17. September 1989, das relaxter und auf Anhieb verführerischer klingt als die hochverdichtete Tribal-Elektronik von "City". Play it loud!!
Ein tolles Finale dieses Konzerts, bei dem Eno den Live-Mix besorgte, ist das überirdisch schöne, über achtzehnminütige Finale "Nightsky" – das perfekte akustische Pendant zu Van Goghs legendärem Bild vom Sternenhimmel über Arles von 1889. "Musik begann für mich immer da, wo die Worte aufhörten", sagt Jon Hassell (Toop, s.o.) Van Gogh fand seinen inneren Frieden wieder, wenn er den Nachthimmel malen konnte, wenn "nur die Sterne sprechen". In Arles entdeckte Vincent den Sternenhimmel wieder, den das elektrische Licht in Paris unsichtbar machte. "Nachts verschwindet die Stadt und alles ist schwarz." In der Tat ist es in der Provence nur ein kurzer Übergang von blau nach schwarz, aber sie hat auch den klarsten Sternenhimmel Europas. "Die Sterne anzuschauen verleitet mich immer zum Träumen", schrieb Vincent aus Arles in einem Brief an seinen Bruder Theo. Es ist nur eine halbe Autostunde von dem Ort, an dem er knapp zwei Jahre gegen Ende seines Lebens verbrachte, bis zu dem Studio, in dem Jon Hassell die Musik zu "Last Night the Moon…" aufnahm.
Auch die CD 3 der neuen "City"-Edition hat es in sich, es sind 18 skizzenartigen Tracks unter dem Obertitel "Psychogeography – Zones of Feeling". Von Guy Debord holte Hassell sich die Anregung, Landkarten des Gefühls zu entwerfen. Unübersetzbar JH: "I often riff on the idea of a ‚gourmet' approach to sensual experience (waiting for hunger before tasting something so as to maximize the pleasure)." Die Stücke sind wie Fetzen aus einem akustischen Notizbuch, hauptsächlich Reste der "City"-Sessions und Aufnahmen aus seinem Wohnzimmer in West Hollywood, die zum Teil von jungen Bands ge-remixt wurden. Der Auftakt erinnert an die Musik von Hassells Band letztes Jahr in Berlin im riesigen ehemaligen E-Werk der DDR beim Atonal Festival. Der Gig in Berlin war ein echter Trip, der Soundtrack zu einem imaginären Film, in einem von Ridley Scott erträumten Szenario, verortet irgendwo zwischen Blade Runner und Fellinis Satyricon. Wobei das fantastische Berliner Publikum keine unwesentliche Rolle spielte. Leute wanderten ständig herum oder flezten sich lasziv im Halbdunkel auf dem Boden der riesigen Hallen. Die üppigen und gleichzeitig sparsamen Harmonien eines Gil Evans schweben im Sammelsurium der "Psychogeography" über leisen unwiderstehlichen Conga- und Synthie-Grooves, während einem diese seltsame Trompete durch ihr enges Mundstück den orange-braunen Sandstaub der Sahara über Tausende von Kilometern herüberträgt. David Toop prägte das Bild vom "flüssigen Nebel", das auch passt.
Ich höre diese fantastische Musik, CD 3, Track 9 "Harambe", wow. "Was will ich wirklich hören?" – Na, das!! Die Psychogeography in der Endlosschleife abgrasend, irgendwo auf Kopfhörer, den "Ba-Ya Dub – No UFOs". Kein Wunder, dass Hassell vom Jazz ziemlich die Nase voll hat. Nach Public Enemy-Samples ist jetzt Post-Techno dran. George Clintons Spruch, den man auch umkehren kann, fällt mir ein: "Move your ass and your mind will follow!" Hassells Musik aus dieser Phase um 1990 war ganz schön dreckig=funky. Aber darauf besser passt vielleicht auch die Passage aus António Lobo Antunes' "Buch der Chroniken": die ewigen Fluchtphantasien, die Sehnsucht nach Stille und Kontemplation, "so dass, sobald die Grillen schwiegen, alles in Ordnung war, die Dinge in Harmonie miteinander, mein Atem mit ihnen in Einklang, und dann schloss ich die Augen, und einen zeitlosen Augenblick lang war ich glücklich."
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Wow, what a beautiful piece, karl. so glad you.
Care enough to see the whole story. It's pretty damn wide and hard to get your arms around!
Wish i had this in 10 languages.
big hug
jon
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