#02 Keller voll vergessener Musik
Dave van Ronk
TEXT: Karl Lippegaus |
Man konnte ihn mögen oder auch nicht. Die Memoiren des Folkbarden Dave van Ronk, die 2006 in den USA unter dem Titel „The Mayor of Macdougal Street“ erschienen, bieten schon eine kurzweilige und informative Lektüre über ein wenig beleuchtetes Kapitel amerikanischer Musikgeschichte. 2013 kamen sie unter dem, oops, wieder mal leicht verrutschten Titel „Der König von Greenwich Village“ auch auf deutsch in einer wohlfeilen Taschenbuchausgabe heraus. Doch Vorsicht! Als das Feuilleton sich hierzulande in Lobeshymnen über den Film „Inside Llewyn Davis“ der Coen-Brüder ausließ, konnte man den Kritiken a) anmerken, dass die meisten Schreiber von der Musik Dave van Ronks und seiner Blutsbrüder und –schwestern noch nie gehört hatten, und b) wir Melomanen uns den Kinobesuch sowieso sparen und am heimischen CD-Player bzw. Plattenspieler hocken konnten. Denn wie es mein Freund Steve Lake wie immer elegant und lakonisch auszudrücken wusste: „Wieso kommt eigentlich bei allem, wo T-Bone Burnette an Filmmusik seine Pfoten drin hat, immer nurcrème bruléeraus?“ Und der Film ist doch einfach sterbenslangweilig für einen, der die Originalmusik und die Bürgermeister-Memoiren kennt.
Mag sein, dass Dave van Ronk in volltrunkenem Zustand fast so grauenhaft in sein „Matratzen-Gesicht“ (New Orleans-Slang für Vollbart) sabbern und Wildschwein-mäßig grunzen konnte wie der omnipräsente dickbäuchige Gérard Depardieu, den armen DSKA (= Dominique Strauss-Kahn) beim Sex mimend, in Abel Ferraras erwartungsgemäß total verunglücktem „Welcome To New York“. (Wer finanziert eigentlich diese vielen schlechten französischen Kino-Lustspiele?) Aber wenigstens meinte DVR es ehrlich, mit seinem unermüdlichen Engagement für Folk und (was weniger Leute wissen und schätzen) frühen New Orleans Jazz. Meine Liebe für diese Musik ist neu erwacht – u.a. nach dem Lesen von Chris Barbers (jawohl!) wunderbarem Memoiren-Band „Jazz Me Blues“ (das Ding war seit 1982 in der Planung und ist jetzt raus!). Mr. Barber gehört zu den meistunterschätzten Jazzern der Welt, doch dazu später mehr.
Als ich kürzlich mit Claus Dieter Clausnitzer (dem notorisch bekifften Taxifahrer aus dem Tatort Münster) in der Hauptrolle für den Deutschlandfunk eine dreistündigeLange Nachtüber Sidney Bechet (dessen 100. Geburtstag nun wirklich alle verschlafen hatten) produzieren konnte (noch immer online auf www.dradio.de), fiel mir auf, wie genial der unberechenbare Kreole an Klarinette oder Sopransaxofon eine ganze Band – ob gute oder schlechte Kapellen, wie die französischen seines Spätwerks – in die Höhe pushen, ja geradezu liften konnte. Meine allerallererste Jazzplatte übrigens: „Blues In Thirds“ von Sidney Bechet mit Earl „Fatha“ Hines und Zutty Singleton, noch immer unerreicht. Großes Vergnügen bereitete mir kürzlich auch eine WDR 4-Sendung zum 110. Geburtstag von Thomas „Fats“ Waller“ und die Lektüre des Buches, das sein Sohn Maurice über Dad geschrieben hat, ragt ebenfalls aus dem Gros der öden Memoiren-Schreiberei heraus. Fats Waller and his Rhythm, was für eine Band! Ok, ich hör‘ schon auf. Was ich eigentlich sagen wollte…
Jetzt hat das überregionale Feuilleton erneut zugeschlagen. Auf einer halben Seite in derZeitprangte unlängst ein Foto aus einem, Mensch das gibt’s auch noch (oder wieder!), echten Vinyl-Plattenladen, Mann! (pst, in Köln gibt’s auch noch einen, und in München, und in…bitte melden!) Themen wie Back-to-Vinyl sind überaus beliebt in Redaktionsstuben - ebenso wie das Schlüsselwort: SPURENSUCHE. Diesmal geht es um, tief durchatmen, ganze „Keller voll vergessener Musik“ (Michael Chabon „Telegraph Avenue“). Bei näherer Betrachtung stellt man einmal mehr fest: Der Mainstream feiert mal wieder den Mainstream. CTI-Platten sind wieder in und Blue Note waren ja so toll, wenn Rudy van Gelder mit den weißen Handschuhen die Mischpultknöpfe bediente, das hatte noch was.
Ich hatte mal wieder keine Zeit, die langeZeit-Eloge zu lesen, im Café war’s eh zu laut, und mir gleich den Schmöker besorgt. Um nach geraumer Zeit mal wieder statt das Original eine deutsche Übersetzung gelesen. Oh weh. Mag sein, dass es kein leichter (und obendrein noch ein schlecht bezahlter) Job ist, den Sound Chabons, der alles anders sagen will als alle anderen, in eine andere Sprache zu transferieren. Vorbei sind leider die Zeiten, in denen Teja Schwaner, Jörg Gülden oder Carl Weissner einigermaßen nahe an einem Übersetzungsideal für Hipster-Literatur waren. Bei „Telegraph Avenue“, einem 585 Seiten langen Roman des Pulitzer-Preisträgers, der leider mitnichten nur von zwei – sorry – „coolen“ Typen handelt, die einen Vinylladen in Oakland führen, handelt es sich um meinen vorerst letzten Versuch, Sätzen wie „Kein Scheiß, Sie finden mich einschüchternd?“ etwas abzugewinnen. Leute, lest die Originale, auch wenn’s schwerfällt. „´Hm‘, gab Aviva von sich, den Bullshit-Detektor wie immer brutal empfindlich eingestellt.“ Yeah – aber noch schlimmer finde ich: „Mann, fick dich.“ Denn erstens heißt „Fuck you“ nichtdas, und zweitens ist es bekanntlich eine anatomische Unmöglichkeit.
Der keineswegs arme Chabon (seine Frau ist Bestseller-Autorin und tippt nebenan) quält sich täglich, von 10 bis 3 an seinem Mac hockend, umgeben vom bunten Treiben seiner vier Kinder sowie einem ganzen Beraterstab für Themen wie Musik, Oakland, Black Panthers usw., redlich ab, den parallelen Stories von zwei Vinyljunkies und ihren Hebammenfrauen etwas abzugewinnen. Nur was? Was isses denn? Es passiert fast nichts in diesem Buch, jedenfalls nichts, wovon ich Ihnen unbedingt berichten müsste. Was in Ansätzen vielversprechend sein könnte, wie der folgende Anfang eines der unzähligen Kapitel, driftet sofort ab in andere, ungleich banalere Reflexionen. Aha, denkt man, jetzt gibt er Gas, aber nein… Chabon hebt an, aber nicht ab: „Eine Mücke. In seinem Ohr, von Geburt an. Er hörte sein eigenes Blut fließen, ein neutrales Rauschen, der allgegenwärtige Puls des weltweiten elektroindustriellen Strom- und Informationsnetzes, eine lautlose Musik. Sein Kopf eine Schüssel, die kosmische Hintergrundstrahlung auffing, Sinuskurven und Signale, verminderte Siebtel (wohl eher Septimen, oder? – kl), übertragen durch die Kabel von Zeit und Raum, um verborgene Membranen zum Schwingen zu bringen.“
Musikalisch hält die Besten-Liste des Chabon-Beraters leider auch nicht, was sie verspricht. Ich meine, hey Mann, ist irgendjemand wirklich noch an dem Scheiß interessiert, den Creed Taylor für sein CTI-Label fabrizieren ließ, überzogen mit der Streichersauce Don Sebeskys? Um den Jazz, stöhn, endlich wieder tanzbar zu machen? Zum Dessert hier noch eine Playlist, so eine Art Soundtrack (hoffentlich vollständig) für die SPURENSUCHE durch Ihre (hoffentlich original amerikanische) Ausgabe von „Telegraph Avenue“.
P.s.: Meine Lieblingsplatte dieser Woche heißt übrigens:
Jacques Coursil & Alan Silva: „FREEJAZZART – Sessions for Bill Dixon“ (web.roguart.com)
Donald Byrd: Electric Byrd
Johnny Hammond (CTI)
Melvin Sparks, 1. und 2. Soloalbum
Charles Kynard: Wa-Tu-Wa-Zui (Prestige)
Airto Moreira: Fingers
Jimmy Smith: Live In Israel
Stan Getz & J. J. Johnson: At The Opera House
Sun Ra: Soul Vibrations Of Man
Kansas: Point Of No Return
ELP: Brain Salad Surgery
Yes: Close To The Edge
Grover Washington: Inner City Blues
James Brown: Funky Drummer
Miles Davis: In A Silent Way
Manzel: Midnight Theme
Lauryn Hill: The Miseducation of Lauryn Hill
John Coltrane, "A Love Supreme"
Literatur:
Michael Chabon, Telegraph Avenue (Kiepenheuer & Witsch)