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# 20 Triumph über die Vergänglichkeit

Der israelische Trompeter Avishai Cohen

Köln, 12.02.2016
TEXT: Karl Lippegaus | FOTO: Karl Lippegaus (Bild links)

Der Titel des Albums „Into the Silence“ bezieht sich auf das Vergängliche, den Tod, das Verstummen. Es geht um einen Gefühlsbereich, der jenseits des Verbalen liegt und wenn überhaupt nur durch Musik ausgedrückt werden kann. Oder durch Bilder. Jemand ist nicht mehr da – man hört ihre oder seine Stimme nicht mehr im eigenen Leben.Etwas fehlt. Jemand fehlt. Man trauert um einen verschwundenen Menschen.

Die New York Times lobt ihn als einen „extravaganten Trompeter, entspannt und soulful, jemand der Sinnlichkeit und Flair ausstrahlt.“ Die Zeitschrift JazzTimes: „Avishai Cohen ist ein multikultureller Jazzmusiker, zu dessen Vorgängern Miles Davis gehört. Wie dieser kann er aus der Trompete ein Vehikel machen für das Äußern der bewegendsten menschlichen Schreie.“ Andere finden, er gehöre bereits zu den großen Stimmen im Jazz des beginnenden 21. Jahrhunderts.

In Tel Aviv wurde er geboren und gab schon als Zehnjähriger vor einer Bigband sein erstes Konzert. Bald tourte er mit dem Young Israeli Philharmonic Orchestra unter Zubin Metha, Kurt Masur und Kent Nagano, arbeitete mit Folk- und Popkünstlern und reiste in die USA mit einem Stipendium an der Berklee School of Music. 1997 gewann der heute in New York lebende Künstler die ‚Thelonious Monk Trumpet Competition‘. Erst fünf Jahre später erschien sein fulminantes Debütalbum „The Trumpet Player“ und bis zur nächsten CD vergingen wiederum Jahre, weil er sich die Rechte an seinen Aufnahmen sichern und nicht dem Erstbesten ein Album liefern wollte.

Wir trafen uns zum Gespräch in Straßburg, vor einem grandiosen Konzert mit dem Mark Turner Quartet. Auf dem Tisch in seinem Hotelzimmer lag die hebräische Ausgabe von Roberto Bolanos letztem Roman „2666“. Avishai Cohen trug ein T-Shirt aus dem Apartheid-Museum in Johannesburg; darunter waren die riesigen Tattoos auf seinem Oberkörper zu erkennen, zwei große Adlerschwingen. Bird calls!

Im südfranzösischen Pernes-les-Fontaines entstand sein erstaunliches neues Album „Into the Silence“, das binnen weniger Wochen auf Platz 1 der Amazon-Jazzcharts hochschnellte – vor vermeintlich unschlagbaren „Jazz-Größen“ wie Phil Collins und Diana Krall.

2007 erschien sein Album Nr. 2, „After the Big Rain“. Diese und die folgenden Platten machte AC für das Label Anzic, an dem er und seine Geschwister beteiligt sind, Es folgten die beiden Alben „Flood“ und „Seven“, beide von 2008. Dann folgte eine Trilogie mit seiner Gruppe Triveni, deren 3. Teil „Dark Nights“ heißt. Berühmte Kompositionen von John Coltrane, Ornette Coleman oder Billy Strayhorn wechseln ab mit eigenen Stücken im ungewöhnlichen Format Trompete/Bass/Drums. Avishai Cohen erzeuge einen selbstbewussten Trompetensound, schreibt die New York Times. Oft wechselt er von Album zu Album die Grundstimmung und klingt mal introvertiert, mal extrovertiert.

Triveni ist ein Wort aus dem Sanskrit. Es umschreibt den Ort, an dem drei heilige Flüsse zusammenströmen. Der mythische Saraswati-Fluss sowie die beiden großen realen Flüsse, der Yamuna und der Ganges. Mir gefiel dieses Bild als eine Vorstellung für die Musik unseres Trios (mit dem Bassisten Omer Avital und dem Drummer Nasheet Waits), in dem sich drei Menschen begegnen, und wie das Wasser werden auch sie durch die Musik eins. Und auch die Musik wird eine Musik, obwohl sie drei verschiedenen Entitäten entströmt, aus drei verschiedenen Richtungen kommend.

Wir haben unterschiedliche Backgrounds, aber wenn wir zusammenkommen, werden wir eins. Im Triveni nehmen die Menschen ein Bad, um sich von ihren Sünden rein zu waschen. Es ist eine schöne Vorstellung: die Musik als ein heiliger Ort. Natürlich ist das stets verbunden mit Herausforderung und Kampf. Es ist leicht da einfach hineinzuspringen und sich in dem Bereich zu bewegen. Aber zumindest ist dieses Einswerden das Ziel.

Gedämpfte Töne leiten das neue Album ein. „Into the Silence“ - eine Elegie. Es ist eine Totenklage: die musikalische Reflexion über die letzten Tage von Avishai Cohens Vater. Er hatte unendlich viel dafür getan, dass aus seinen Kindern große, außergewöhnliche Musiker wurden. Die Gruppe, die hier zu hören ist, spielte in dieser Konstellation zum ersten Mal zusammen. Und sie hatten auch noch nie das halbe Dutzend Stücke zusammen geprobt, die auf diesem außergewöhnlichen Jazzalbum ertönen.

Natürlich habe ich sie alle studiert und sie mir sehr genau angehört. Das tue ich immer noch und es begeistert mich weiterhin. Wenn ich Dizzy (Gillespie) höre, erinnere ich mich an Dinge und bin manchmal überrascht, wieviel ich von ihm gelernt habe. Natürlich auch Miles (Davis), Thad Jones, Clifford (Brown) und Lee Morgan. Chet Baker und Clark Terry. Art Farmer und Kenny Dorham. Die List schier endlos.

Am Klavier ist Yonathan Avishai, ein langjähriger Weggefährte des Trompeters.Der Bassist Eric Revis arbeitet seit zwanzig Jahren in der Band von Branford Marsalis. Und dann ist da noch Nasheet Waits – einer der gefragtesten Schlagzeuger in New York - der Sohn des berühmten Drummers Freddie Waits. Hinzu kommt bei einigen Stücken der Tenorsaxofonist Bill McHenry.

„Into The Silence“ist etwas Besonderes für mich. Ich schrieb die gesamte Musik, nachdem mein Vater gestorben war. Es ist eine Hommage an ihn und steht für eine Phase in meinem Leben; er starb im letzten Jahr und ich schrieb die ganze Musik zwischen Dezember 2014 und Mai 2015. Es ging mir darum, auf diese Periode zu fokussieren; nicht in Versuchung zu geraten, ein paar schöne Stücke aus der Vergangenheit hineinzubringen, die dazu keinen emotionalen Bezug haben.

Der ganze Prozess war neu für mich. Es war eine neue Band – ich hatte zwar mit jedem separat schon gearbeitet, aber als Gruppe hatten wir noch nie zusammen gespielt. Niemand hatte die Musik zu hören bekommen, nicht mal ich selbst, bevor wir ins Studio gingen. Ich hatte die Stücke noch nie gespielt, es waren alles auf Notenpapier festgehaltene Kompositionen. Ich freute mich auf diese Session, um endlich hören zu können, was ich geschrieben hatte.

Das insgesamt fünfzehn Minuten lange Highlight des Albums, „Dream Like A Child“, bezieht sich direkt auf Avishais Vater, der sich als kleiner Junge immer gewünscht hatte, Musikunterricht zu bekommen. Doch die Familie konnte sich diesen Unterricht nicht leisten. Gleichwohl sorgte er später dafür, dass seine drei Kinder alle diesen Unterricht bekamen und Musikinstrumente erlernten, und dass sie gemeinsam musizierten.

Macht es einen Unterschied, wenn man das jüngste Kind ist?

Ich denke ja. Der Ältere steht irgendwie mehr unter Druck. Dem Jüngsten lässt man mehr durchgehen. Ich habe das so gehört und denke, es ist bei uns auch so. Bei uns ist das nochmal was anderes, denn alle drei Geschwister sind Musiker. Die ganze Erfahrung, wenn man Musik mit seinen Geschwistern machen kann, ist völlig anders. Es ist so unvergleichlich, es liegt jenseits der Worte, jenseits aller Vorstellung. Wenn es konkret um die Musik geht, wird es etwas Besonderes, und man kann Dinge ausdrücken, die man mit Worten nicht beschreiben kann.

Von außen kann man etwas von der Liebe und Unterstützung erkennen, die zwischen uns dreien existiert. Seit einem Jahr haben wir uns daran zu gewöhnen, dass unser Vater nicht mehr da ist. Es ändert die Perspektive, aber man spürt auch, dass die Liebe etwas Unglaubliches ist.

Bevor er die Elegie für seinen Vater aufnahm, hörte Avishai Cohen auf seinen Reisen ständig Klaviermusik von Rachmaninoff. Wie eine Endlosschleife - immer wieder. Ob im Flugzeug oder im Zug oder im Hotel vor dem Einschlafen. Die Préludes, Etüden und Elegien schrieben sich seiner Gefühlswelt ein, während er an seinen Vater dachte, der nur noch wenige Wochen und Tage zu leben hatte. Die Musik klang für ihn nicht einfach nur traurig – sie barg auch viele Überraschungen. Wie das dritte Stück seines Albums – das Titelstück aus „Into the Silence“. Rachmaninoffs Klavierstücken waren das eine – das andere war das viele Hören des opus magnums von Eric Dolphy, das Album Out To Lunch von 1964.

Mein Album klingt überhaupt nicht so, aber das Offenherzige in Dolphys Musik und die dichte Interaktion seiner Band bewegten sich bei mir im Kopf.

Wie sind Sie überhaupt zum Jazz gekommen?

Es fing alles sehr früh an. Schon mit zehn Jahren spielte ich in zwei verschiedenen Bigbands. Der Jazz hat mich stark angezogen, auch wenn ich gleichzeitig klassische Musik spielte. Ich mochte die Klassik auch, aber der Jazz war immer meine innere Heimat. Zwischen meinem 12. und 14. Lebensjahr war ich schon mit der Band des Konservatoriums in Europa und in den USA auf Tour. Ich bekam schon einen Eindruck von diesem Leben auf Tourneen. Mit 12, 13 Jahren wusste ich: das war das, was ich mit meinem Leben anfangen würde. Unermüdlich spielte ich ab da Charlie Parker-Soli nach.

Mit seinen beiden älteren Geschwistern Anat (Klarinette) und Youval (Saxofon) formierte Avishai das 3 Cohens Sextet, von dem es bislang vier Alben gibt. Solche ‚family bands‘ haben im Jazz eine kleine, aber feine Tradition: man denke an die Marsalis-Dynastie aus New Orleans, an die drei Jones-Brüder Elvin, Hank und Thad aus Detroit – oder an die drei Eubanks aus Philadelphia: Kevin, Duane und Robin. Wie ein stürmisch verlaufendes Dinner in Tel Aviv empfand ein Kritiker die Musik der 3 Cohens. Zwei Brüder und eine Schwester, die von Kindheit ab zusammen oder in direkt benachbarten Zimmern wie wild musiziert haben, können im Jazz Kunststücke vollführen wie in der Vokalsparte einst die legendären Boswell Sisters oder die Andrews Sisters.

Es war etwas, in das ich förmlich hineinglitt, von Kindheit an. Es war keine sehr bewusste Entscheidung Musiker zu werden. Mit meinen Geschwistern probten wir nebeneinander in unseren Zimmern, schnappten Phrasen der anderen auf, spielten sie nach und keiner wollte sich blamieren. So wuchsen wir heran. Schon früh arbeitete ich in der kommerziellen Musik und verdiente mein eigenes Geld. Ich weiß noch, dass ich mir meine erste Trompete von meinem eigenen Geld kaufte. Das gab mir ein gutes Gefühl.

Die Musik ist wie die Stimme, mit der man Dinge sagt, die man anders nicht ausdrücken kann, die Worte nicht beschreiben können. Deshalb haben wir die Musik – deshalb ist sie so stark und so unglaublich bewegend. Speziell im Jazz, wo wir ohne Texte spielen, einfach nur diese Melodien, diese Töne, mit diesem Sound, mit allem was damit zusammenhängt: damit sprichst du das Unsagbare aus. Das kann jeder auf seine Weise interpretieren, aber es macht große Freude, diese Sprache zu beherrschen.

Es gab eigentlich keine großen Jazzmusiker in Israel, an denen Avishai Cohen in früher Jugend bei Livekonzerten aufschauen konnte. Das Meiste brachte er sich durch die Schallplatten bei: von Armstrong, Miles, Coltrane, Sonny Rollins oder Monk. Deren musikalische Sprachen galt es zu erlernen. Der einzige Mentor, den er hatte, war der Saxofonist Arnie Lawrence. Was jedoch wichtig für ihn wurde war der besondere Lyrizismus der älteren israelischen Vokalmusik. Ihre melancholische Seite. Bald wurde ihm klar: Israel war wie eine kulturelle Drehscheibe für Musik, die von der sephardischen Kultur Andalusiens bis nach Osteuropa reichte, von Nordafrika bis in den gesamten Nahen Osten. „Meine Musik klingt nicht israelisch“, erklärt Avishai Cohen, „ich verließ mit 18 mein Land, aber dieses offene Musikverständnis ist definitiv ein Teil von mir.“

Natürlich habe ich viel israelische Musik gehört. Ich mag einige Songschreiber und verschiedene ältere Lieder. Ich habe eine Verbindung dazu, die jedoch nicht so offen in meiner Musik zutage tritt – nicht mehr als das, was mir sonst gefiel: Jazz, Rock, Reggae, Funk oder andere Dinge, mit denen ich aufwuchs. Ich verbrachte genauso viel Zeit mit dem Hören israelischer Musik wie mit dem für die all die anderen Musikstile.

Wissen Sie, ich war noch sehr jung, mit 18 Jahren verließ ich Israel und mein Zuhause, und ab meinem 12. Lebensjahr hatte ich vor allem Charlie Parker gehört. Ich weiß nicht, was man sich heute über mich erzählt, aber ich mache kein Credo daraus, diese israelischen Elemente in meiner Arbeit hervorzukehren. Es kommt mir nicht darauf an, meiner Musik einen Charakter, einen nahöstlichen oder einen anderen, aufzuzwingen.

Ich kenne auch andere Leute, die so denken, und bei ihnen kommt es einfach natürlich so zum Vorschein. Einige sind vielleicht mehr mit dieser Musik aufgewachsen.

Israelische Musik hat natürlich ein breites Spektrum. Da gibt es die sephardische oder die marokkanische Musik, die jemenitische Musik, oder wie in meinem Falle – meine Großeltern stammten aus Polen. Da gab es dann nicht viel an Inspiration – es tut mir leid, das zu sagen.

Als Sideman arbeitete Avishai Cohen u.a. mit der Mingus Big Band und ihrem Ableger Mingus Dynasty. Im September 2014 erschien ein vielbeachtetes Album des Mark Turner Quartetts mit Avishai Cohen, dem Bassisten Joe Martin und dem Drummer Marcus Gilmore. Nur mit dieser Band will er zur Zeit noch als Sideman arbeiten – alle anderen Jobs hat er zugunsten seiner eigenen Formation vorerst abgesagt.

Mark Turner sagt: “Avishais musikalische und soziale Persönlichkeit ähneln sich: er ist ein humorvoller Mensch und ich höre auch ziemlich viel Humor in seinem Spiel. Aber er ist auch ein sehr seriöser, zielstrebiger Musiker. Die Art, wie wir zusammenspielen verdankt einiges Wayne Shorter und Miles Davis.“

Fünf Monate ging er mit den Ideen für das Album „Into The Silence“ schwanger. Manches trug er nur im Kopf mit sich herum; anderes skizzierte er am Klavier. Mit Yonathan Avishai ging er die Stücke vor den Aufnahmen einmal durch, aber für die anderen drei Musiker war alles völlig neu. „Wir entdeckten alle das Potenzial der Musik, während wir sie spielten. Das erste Stück kam direkt so auf die Platte.“

Dass sich alles so gut fügte, hat auch damit zu tun, dass der Trompeter und sein Produzent Manfred Eicher bei dieser ersten Arbeit an einer Avishai Cohen-Platte auf Anhieb ein gemeinsames Bild vor Augen hatten, eine recht konkrete Vorstellung, wie das Album angelegt sein sollte. Aufnahme, Mischung und Mastering – alles fand in diesen drei intensiven Tagen im Studio La Buissonne in der Provence.

Ich behielt mir vor, eine gewisse Spontaneität walten zu lassen. Und auch Dinge abzurufen, die ich auf früheren Alben verwendet hatte. Zum Beispiel nahm ich mir vor, nicht zu viele Aufnahmetakes von einem Stück zu machen. Bei der letzten CD „Dark Nights“ beschränkte ich mich auf maximal zwei Takes pro Stück, und dieses Mal war es ähnlich. Ich kann mich an keine Komposition erinnern, für die wir drei Anläufe benötigten. Dadurch bewahrt man sich in der Musik diesen fließenden Charakter, die Session durchzieht eine durchgängige Emotion, und man lernt auch, auf viele Dinge zu verzichten. Es geht ja nicht darum, etwas Perfektes herzustellen, sondern den Moment festzuhalten, so gut man das kann.

Auswahldiskographie:

Triveni (Anzic)

Triveni II (Anzic)

Dark Nights (Anzic)

Into The Silence (ECM)

Mit Mark Turner:

Lathe of Heaven (ECM)

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