# 19 Würfelspiele
Alban Darche: Französischer Saxofonist, Komponist und Bandleader
TEXT: Karl Lippegaus | FOTO: Toinette
Der Mann ist einer der interessantesten und umtriebigsten Komponisten und Bandleader Frankreichs. Aber es verblüfft mich immer wieder, wie wenige Leute – auch jene, die sich als ausgewiesene Kenner des französischen Jazz zu erkennen geben - diesen Künstler kennen bzw. überhaupt zur Kenntnis nehmen. Woran mag das liegen? Vielleicht hat er in Nantes sein Hauptquartier und kaum großes Verlangen nach Tourneen und Publicity. Es gibt ja Leute, die lieber zuhause hocken und arbeiten und mit Freunden musizieren statt sich um ihren Bekanntheitsgrad zu kümmern. Seit vielen Jahren verfolge ich die Arbeit von Alban Darche und bin überrascht, dass es ihm immer wieder gelingt, auf eine sehr persönliche Weise die Dinge zum Klingen zu bringen und mit jeder neuen Formation das Interesse an seiner Jazzästhetik anzustacheln.
Alban Darche wurde 1974 in der alten Stadt Quimper geboren. Wer aber jetzt in seiner Musik nach bretonischen Wurzeln fahndet, muss lange suchen. Es gibt sie zweifellos, die Anklänge an Harfe, Bombarde und Dudelsack, aber er hat sie gut versteckt und kunstvoll verwoben in etwas Eigenwilliges, das den unbedingten Willen nach Modernität zeigt. Darche, der zu den erfinderischsten und produktivsten Köpfen im französischen Jazz zählt, arbeitet ohne Scheuklappen. Er verschließt sich nicht den Einflüssen, die auf ihn einstürmen, aber er verwendet sie wie Steine eines riesigen Puzzles: Jazz-Rock und Kammermusik, wilde Tangos und euphorisierende Balkan-Folklore, Paso Doble, Foxtrot und Musette-Walzer. Nicht als wahllos zusammengewürfelte Potpourris, sondern als Mittel einer sehr individuellen Kunst der Verführung.
Als Mitbegründer des Musikerkollektivs Yolk in Nantes, dem auch ein eigenes Plattenlabel angegliedert ist, hat sich der Saxofonist und Komponist mit einem harten Kern aus einem halben Dutzend Gleichgesinnten einen eigenen tönenden Kosmos geschaffen. Seine Formationen tragen Namen wie Le Cube, OrphiCube, Hyprcub oder Le Gros Cube. Immer geht’s um Würfel. Spiele mit dem Zufall. Aber auch viel Überlegung und Können steckt dahinter. Le Gros Cube (der große Würfel) ist das große Orchester des Kollektivs Yolk mit fünfzehn Musikern. Ihre Alben „Polar Mood“ und die groß angelegte Hommage an die britische Rockband Queen zeigen das enorme kreative Potential, das Alban Darche mit seinen Stücken freisetzt.
Einer kleinen ad hoc-Formation entlockt er erstaunliche orchestrale Wirkungen. Sein Album „Perception instantanée“ mit dem fantastischen Akkordeonisten Didier Ithurssary gehört zu den schönsten französischen Jazzalben der letzten Jahre.
Wie sind Sie zur Musik gekommen?
Mich hat immer vieles an Musik interessiert. Ich glaube, ich höre im Verhältnis mehr Klassik als Jazz, auch wenn der Jazz für mich die natürlichste Ausdrucksform bleibt. Ich brauche diesen Anteil an Improvisation sowie im Rahmen meines Komponierens, auch wenn dieser sehr präzis definiert ist; und er ist natürlich der mir nächste Ausdruck als Saxofonist. Aber es gibt Farben und andere Dinge, die in der Tat anderen Universen entspringen. Mit klassischer Musik meine ich nicht nur die historische, sondern auch die zeitgenössische.
1997 und 1998 gewannen Sie den ersten Preis beim Concours de jazz de la Défense. Sie unterrichten, komponieren und leiten mehrere Formationen. Im Jahr 2000 gründeten Sie das Musikerkollektiv YOLK in Nantes. (Yolk ist das englische Wort für das Gelbe vom Ei.)
Es wird immer schwerer, vor allem für die jüngsten Musiker im Jazz, von denen einige über ein außergewöhnliches Talent verfügen. Ich zitiere den Musiker Henry Threadgill, der sagt, es gebe nur noch eine Handvoll Plattenlabels, die progressiven Jazz aufnehmen und vertreiben. Ich halte es für gefährlich, dass über bestimmte Arten von Jazz in der Öffentlichkeit kaum noch berichtet wird.
Wie würden Sie Ihre Ziele in der Musik umreißen?
Ich suche immer nach einer bestimmten Frische im Ausdruck. Für mich ist das ein fundamentaler Aspekt. Es ist nicht einfach, etwas zu entwickeln, das natürlich und zugleich komplex ist. Man kann nie voraussagen, was mit einer Platte passieren wird. Obwohl man alles hineingelegt hat, was man liebt, ohne sich die Sache leicht zu machen. Ich habe mit der Musik auf ganz herkömmliche Weise begonnen. Ich lebte in Nantes und meine Eltern haben mich an der dortigen Schule eingeschrieben, wo ich von einem Programm für neue Unterrichtsgestaltung profitieren konnte. Zwei Nachmittage pro Woche besuchte ich das Konservatorium. Das tat ich während der Zeit an der Grundschule und dann in der Sekundarstufe der Gesamtschule. Dort machte ich Bekanntschaft mit Leuten, mit denen ich musikalisch noch immer in Kontakt bin, vor allem mit dem Trompeter Geoffroy Tamisier. Wir machen auch heute weiter regelmäßig zusammen Musik. Es ist wunderbar, schon früh Musik erlernt zu haben und über die Jahre viele Freunde in der Musik zu haben, seit meiner Zeit am Konservatorium in Nantes bis auf den heutigen Tag.
Freundschaft und Komplizenschaft scheinen eine wichtige Rolle für Sie zu spielen?
Ja, am Konservatorium trafen Geoffroy und ich den Pianisten Baptiste Trotignon und viele andere. Diese Begegnungen sind wichtig und schön. Die Gelegenheit zu haben, gemeinsam den Jazz zu entdecken. Es gab einen regelrechten Wetteifer zwischen uns, ein sehr kreatives Ambiente, wir waren richtig aufgeregt. Wir haben einen langen Weg gemeinsam zurückgelegt – vor allem Geoffroy, Baptiste und ich -, und es kamen auch immer andere dazu, denn Nantes ist eine in künstlerischen Dingen recht aktive Stadt.
Dann gab es so etwas wie eine Wasserscheide?
1995, ja das sind jetzt zwanzig Jahre her. Ungefähr die Hälfte meines Lebens; die eine Hälfte lag hinter mir, die andere vor mir. 1995 habe ich mich am CNSM (Conservatoire Nationale Supérieure de Musique) in Paris in der Jazz-Klasse immatrikuliert. Geoffroy und Baptiste waren schon da, ein Jahr später kam ich dazu, einfach auch um mit ihnen weiter zusammen sein zu können. Wir bewegten uns weiter in unserem persönlichen und kollektiven Universum, und um uns in Paris umzuhören. In Paris konnte ich zum ersten Mal Seminare besuchen, die direkt mit Jazz zu tun hatten, denn in Nantes hatte ich klassische Musik studiert. Ich hatte den Jazz allein mit meinen Freunden entdeckt - nicht auf der Hochschule. Saxofon, Kammermusik und Musikerziehung waren die Fächer gewesen. In Paris besuchte ich eine Jazzklasse, habe aber in der Rückschau eher gemischte Gefühle: Ich konnte nicht alles verwerten, was ich dort lernte; ich lernte Komposition bei dem Jazzmusiker Francois Théberge (einem heute 52-jährigen Saxofonisten aus Montreal, Kanada). Seine Art zu unterrichten war sehr amerikanisch, sehr pragmatisch. Man lernt im Stil von dem und dem zu komponieren, genau wie in der klassischen Musikerziehung, aber bezogen auf die Sprache des Jazz.
Wie gestaltete sich der Unterricht?
Sie schreiben etwas im Stil von Basie oder Ellington, dann geht’s in Richtung Gil Evans. Eine etwas chronologische Vorgehensweise, was das Schreiben für größere Ensembles betrifft. Es hat mich Dinge entdecken lassen, mir eine Art Handwerkszeug gegeben, ein know-how, einfach auch um Zeit zu gewinnen. Schon damals war ich sehr am Schreiben von Musik ganz allgemein interessiert. Und vor allem beschäftigte mich das Komponieren für ein großes Ensemble.
Ihre schönsten Erinnerungen?
Während meines Studiums am Konservatorium in Paris begegnete ich einer Vielzahl von Musikern in den Meisterklassen. Diese Dynamik erwies sich als etwas wirklich Tolles. Wir waren sehr zahlreich, an einem sehr schönen Ort, einer wunderbaren Ausbildungsstätte. Da kam dann der Drummer Roy Haynes, mit dem wir im Quartett spielen konnten. Ornette Coleman, mit ihm konnten wir nicht spielen, denn er kam ohne sein Saxofon, aber er hat uns einen ganzen Tag lang viel erzählt.
Wer mich noch geprägt hat? Steve Coleman natürlich, der Altsaxofonist, er kam für drei volle Tage zu uns, mit seiner Gruppe, während er mit der Band Liveaufnahmen in La Villette machte. Und er hat wirklich nicht gegeizt mit Informationen, wir konnten in kleiner Besetzung miteinander arbeiten. Es gab mir einen Schlüssel für seine Arbeitsweise und seine Musik. Das war mir sehr nützlich, denn ich fühlte mich sehr angezogen von den Richtungen, die er vorschlug. Und das schon seit einigen Jahren. Es hat mir erlaubt, tiefer in seine Musik einzudringen, eine Musik, die mich stark geprägt hat. Und diese Elemente sind noch heute ein Teil meiner Arbeit, in etwas verwässerter Form, denn es sind andere Dinge hinzugekommen.
Sie bilden jedenfalls einen Teil meines Vokabulars, sie haben mein Denken über Rhythmik geprägt. Ich habe zudem das Bedürfnis, die Dinge polyrhythmisch zu hören; das ist gleichsam verankert in meinem Innern. Diese Arbeit mit der clave, der Polyrhythmik, vor allem die Suche nach rhythmischer Freiheit, in Bezug auf eine gewisse Solidität.
Wie schafft man es, sich von diesen Dingen zu lösen?
Diese Periode am Konservatorium war insofern sehr nützlich, weil ich dadurch eine Menge Leute treffen und Freundschaften schließen konnte, mit denen ich seitdem immer wieder Musik mache. Und dann wie gesagt die Masterclasses. Das hat mir nach der anfänglichen Schulerziehung sehr gefallen, aber nicht zu dem gepasst, wonach ich wirklich suchte. Ich spürte ein starkes Verlangen, selbst zu experimentieren mit eigenen Bands. Das tat ich dann parallel zum Studium am Konservatorium, das sich insgesamt nur über zwei Jahre erstreckte. Ich habe diesen Weg dann verlassen, um meinen eigenen Weg zu gehen, auf eine autonomere Art und Weise und mit Verzicht auf ein pädagogisches System.
Wann ging es dann los mit Ihren „Würfelspielen“?
Ende der 90er Jahre gründete ich eine Band, die sowas wie ein Eckpfeiler für nicht gerade wenige von meinen Erforschungen im künstlerischen Bereich darstellt. Ich spreche von Le Cube. Ich glaube 1998 war das, mit dem Drummer Christophe Lavergne und dem Bassisten Sébastien Boisseau. Le Cube ist noch immer aktuell und hat sich über die Jahre entwickelt; zuerst war es eine kleine Formation; sehr rasch wurde daraus wie in einer Transformation in den ersten Nullerjahren eine Bigband, Le Gros Cube.
Endlich konnte ich die Bigband gründen, auf die ich schon seit einiger Zeit große Lust verspürte. Mit einem ersten Album, das „La Martiportine“ heißt und von 2004 stammt. Wir haben viele Konzerte gegeben, mehrere Alben aufgenommen; die Programme mit meinen Kompositionen wechselten. Wir griffen auch ältere Stücke wieder auf, veränderten sie und nahmen ein Album mit dem Sänger Katerine auf, einem in Frankreich sehr bekannten, etwas schräger Popsänger, das Album heißt „Le Pax“. Dann macht wir ein Album mit Reprisen älterer Kompositionen von mir, „Polar Moods“, um 2007, 2008. Es folgte ein Projekt als Hommage an die britische Rockgruppe Queen, die ich „Queen Bishop“ nannte. Le Gros Cube wurde dafür vergrössert mit zwei Drummern und drei Sängern, einer von ihnen ist sehr bekannt im französischen Jazz, es ist Thomas de Pourquery.
Ein durchgängiges Stilmerkmal Ihrer Arbeit scheint die Schaffung von immer neuen hybriden Formen.
Ich legte Le Gros Cube ein wenig auf Eis, zugunsten meiner aktuellen Band, der Name ist noch immer eine kubische Deklination oder Ableitung, das Ganze ist etwas leichter als ein großer Würfel, es handelt sich um L’Orphicube. Es ist in der Tat ein Hybrid, als Jazzgruppe in der Lage, Klänge auszusenden wie von einer Bigband, etwas legerer als sonst üblich; andererseits können wir uns auf dem Terrain der Kammermusik mit diesem Ensemble bewegen. Es gibt Leute in dieser Gruppe, die keine Jazzmusiker sind, sondern aus der Klassik kommen, auch wenn sie zu einem regulären Puls spielen: ich spreche von der Geigerin Marie-Violaine Cadoret und der Pianistin Natalie Darche. Diese Melange aus Leuten, die einen gemeinsamen Background haben und meine Musik gut kennen, funktioniert sehr gut.
Wir sind vier Saxofonisten: Mathieu Donarier, Sylvain Rifflet, Francois Ripoche und ich. So finde ich meine Liebe zum Saxofonensemble im Innern dieser Formation L’Orphicube wieder. Wir haben bisher zwei Alben aufgenommen und es gibt noch viel Musik. Das Problem ist immer die Verbreitung - wir sind immerhin 9, sogar 10 mit dem Tontechniker. Wir unternehmen keine großen Tourneen durchs Ausland, sondern geben sporadisch Konzerte. Bei jedem Treffen arbeiten wir gemeinsam an neuen Stücken und erneuern so Schritt für Schritt unser Repertoire.
Kommen wir noch zu einer Ihrer wie ich finde faszinierendsten Bands…
Die bis heute letzte meiner kubischen Deklinationen nennt sich L’Hyprcube. Es ist eine leichtgewichtigere Formation als eine konventionelle Jazzformation. Es handelt sich um ein Quartett – mit der selben Rhythmusgruppe: Christophe Lavergne (dr) und Sébastien Boisseau (b), erweitert durch Jozef Dumoulin, der Fender Rhodes Piano mit Effekten spielt, auch akustisches Klavier.
Ein weiterer Mitspieler ist der amerikanische Tenorsaxofonist Jon Irabagon.
Wir haben ein Album bisher herausgebracht, das „Crooked House“ (schiefes Haus) benannt ist. Und im letzten Frühjahr eine schöne Tournee unternommen - was für uns selten ist, mit zehn Konzerten. Ich bin jetzt dabei, eine neue Tournee zu organisieren, die uns hoffentlich auch mal wieder nach Deutschland führen wird; es ist lange her, dass ich zuletzt bei Ihnen gespielt habe. Es ist eine sehr lebendige Band und sie ist sehr spielfreudig, und ich glaube wir sind alle sehr froh, dabei mitzumachen.
Wir funktionieren wie eine Jazzgruppe mit einem großen Repertoire, aus dem wir schöpfen, verändern aber die Formen, die keine Standards sind, sondern meine Kompositionen. Wir amüsieren uns mit diesem Material, auf eine fröhliche Art und mit der Tendenz des ständigen Erweiterns der Ausdrucksformen. Die Basis ist sehr komplex, aber hier haben wir das richtige Team, um es sich anzueignen, und das mit einer großen Freiheit. Es gibt eine echte Komplizenschaft zwischen uns, ein Spiel aus Fragen und Antworten, besonders mit Jon Irabagon als zweitem Saxofonisten. Da ist dieser Wetteifer, vor allem mit einem Champion wie Jon, eine sehr angenehme Erfahrung. L’Hyprcube ist mehr denn je aktuell und ich hoffe, wir können bald ein weiteres Album aufnehmen und regelmäßig mit diesem Ensemble auf Tour gehen.
Kontakt: www.yolkrecords.com