„Wir haben Alarmstufe rot!“
Martin Sasse im Gespräch
TEXT: Dr. Michael Vogt | FOTO: Gerhard Richter
Seit anderthalb Jahren ist Martin Sasse der Künstlerische Leiter der „Jazz Klub Bar – King Georg“ in Köln. Sasse kennt also die Szene aus mehreren Perspektiven und erlebt derzeit hautnah, unter welchen Schwierigkeiten Künstler und Veranstalter leiden. Im Gespräch mit Michael Vogt denkt er über Perspektiven und über Konzepte nach, welche die Kultur gerade jetzt braucht.
Martin Sasse , im letzten Jahr hätten Sie eigentlich bei der Hürther Jazznacht auftreten sollen. Die Corona-Pandemie kam dazwischen. Die Hürther Jazzfreunde können sich jetzt auf einen Ersatztermin im Oktober freuen, zu dem Sie mit Ihrem Trio eingeladen sind.
Und ich freue mich, dass ich wieder einmal in Hürth spielen kann und der Jazzclub uns eingeladen hat. Wissen Sie, ein solches Engagement wie das des Jazzclubs ist nicht nur in der Pandemiezeit vorbildlich und eine wichtige Stütze für Künstler. Ohne Vereine, die sich ehrenamtlich und uneigennützig für die Kultur einsetzen, ging es aber auch vorher schon an vielen Stellen nicht. Umso wichtiger, dass diese wichtigen Akteure für das Kulturleben in unserer Region mit ihren Bemühungen jetzt nicht nachlassen.
Womit wir beim Thema sind. Die Pandemie trifft gerade selbstständige Künstler sehr hart, wie erleben Sie die Krise als Musiker?
Mit einem Wort: fürchterlich! Wir hatten ja alle gehofft, dass wir mit dem ersten Lockdown die Situation irgendwie in den Griff bekommen würden. Und das faktische Berufsverbot für die vielen Künstler, die im wörtlichen Sinne von der Hand in den Mund leben, war im letzten Jahr schon schwierig genug. Dass die Situation nun aber anhält und weiterhin kein Ende in Sicht ist, stellt für freischaffenden Musiker eine ausgewachsene Katastrophe dar, die viele von uns in Hartz 4 abrutschen lässt. Es gibt konkret Kolleginnen und Kollegen, die nicht wissen, wovon sie leben und woher sie Geld nehmen sollen. Manche haben ja gleichzeitig noch eine Beratungstätigkeit oder unterrichten an einer Hochschule. Für alle diejenigen, die vor allem von Auftritten leben, sieht es aber düster aus.
Die Politik führt aber doch an, dass umfangreiche Hilfspakete geschnürt wurden.
Die kommen aber nicht an. Auch bei mir ist die Novemberhilfe bis jetzt nur zur Hälfte eingegangen. Wenn man keine Rücklagen hat, bleibt nur die Verzweiflung. Und die ersten Zahlungen waren zumindest für Musiker vollkommen an der Realität vorbei geplant, weil sie sich an betrieblichen Ausgaben orientierten. Welche Ausgaben hat aber ein selbstständiger Musiker, wenn er keine Konzerte spielen darf? Keine! Das bedeutet, dass er aber auch nichts verdient und entsprechend nichts zum Leben hat. Psychisch ist die Situation für mich und meine Kolleginnen und Kollegen fordernd. In der Pandemie mit ihren Kontaktbeschränkungen fällt der Austausch weg, der für Inspiration und Kreativität unverzichtbar ist. Wenn man sich dann noch um die Kinder kümmern muss, die zu Hause im Home-Schooling sitzen, dann hat man noch nicht einmal Zeit, um den Lockdown kreativ zu nutzen, wie man sich das oft so schön vorstellt. Das heißt dann aber wiederum, dass die Einschränkungen sogar zukünftige Projekte betreffen, die aufgrund der erschwerten Bedingungen gar nicht erst entstehen können. Und die Idee, dass man in einer gesundheitlichen Notlage wie der jetzigen einfach alles in den virtuellen Raum verschieben könnte, hat klare Grenzen, zumindest für uns – Geist, Soul, Groove, das funktioniert virtuell alles nur sehr eingeschränkt.
Wie könnte man Künstlern denn aus dieser prekären Lage helfen?
Zunächst einmal möchte ich gerne feststellen, dass ich Corona sehr ernst nehme. Ich bin im letzten Jahr selbst anSARS-Cov-2erkrankt. Meine Frau hatte einen durchaus mittelschweren Verlauf. Glücklicherweise sind wir inzwischen wieder genesen, ich weiß aber sehr genau, wovon ich spreche und wie gefährlich dieses Virus ist. Deswegen läge mir auch nichts ferner als leichtsinnige Forderungen zu stellen. Trotzdem braucht es für das Überleben ganzer Branchen einfach Konzepte. Und ich möchte betonen, dass es die gerade in der Kultur bereits gibt! Nach dem ersten Lockdown haben die Veranstalter, Theater und Konzerthäuser wirklich hervorragende Konzepte entwickelt, um bei einer Auslastung von 50 oder auch nur 30 Prozent Kulturangebote zu bieten. Diese Angebote wurden sehr gut angenommen und es wurde durch diverse Studien gezeigt, dass die Ansteckungsgefahr sich auf einem vollkommen akzeptablen Minimum bewegt, wenn man die notwendigen Regeln einhält. Von Ansteckungen im Konzert hat man auch nichts gelesen oder gehört. Da schnitten die Kulturhäuser in jedem Fall viel besser ab als Betriebe, Büros oder Werke. Trotzdem traf es gerade die Veranstalter. Das lässt einen schon nachdenken…
… darüber, dass Kultur vielleicht doch nicht so systemrelevant sein könnte, wie es von der Politik immer behauptet wird?Wenn es darauf ankommt, sind andere Dinge wohl relevanter. Der Fokus liegt eben auf Autohäusern, Fitness-Studios, Fluggesellschaften, Reiseveranstaltern. Die sind alle wichtig, gar keine Frage. Aber wer von den Politikern nennt uns überhaupt beim Namen, geht ins Konzert oder bekennt sich öffentlich dazu, Jazz zu mögen? Außer Frank-Walter Steinmeier, der sich als Jazzfan bezeichnet und 2019 sogar die Pforten der Villa Hammerschmidt in Bonn für ein Jazzkonzert geöffnet hat, fällt mir spontan niemand ein.
Sie sprechen jetzt als Veranstalter.
Auch. Vor ca. anderthalb Jahren wurde ich dazu auserkoren, im Kölner „King Georg“ als Künstlerischer Leiter zu wirken. Dieser Club schließt in Köln eine Lücke, die früher etwa durch das Subway besetzt war. Es ist ein Zentrum für swingenden Jazz nach amerikanischem Vorbild, in dem Standards und Straight-ahead Jazz im Vordergrund stehen. Das ist ja auch die Richtung, in der ich mich selbst künstlerisch bewege. Genau aus diesem Grund wurde ich von dem Besitzer Dr. Jochen Axer, für die Funktion ausgewählt. Woran man übrigens wieder sieht, wie wichtig für die Kultur das Engagement einzelner Menschen ist. Für Jochen ist Jazz schlicht eine Herzensangelegenheit. Er ist ein großer Fan und jeden Abend in seinem Laden, wann immer es sein Zeitplan erlaubt. Ihm liegt auch sehr viel daran, dass es im Lockdown weiter ein Programm gibt. Wir streamen deshalb dreimal die Woche im Internet Konzerte. Die kann man sich unter www.kinggeorg.de gegen einen kleinen Beitrag ansehen und anhören.
Viele Veranstalter bieten ihre Streaming-Angebote kostenlos an.Es war mir persönlich sehr wichtig, dass es auch im Streaming-Konzert eine Wertschätzung für die Arbeit der Künstler und ihre Programme gibt. Musiker werden im Internet ohnehin schon genug verheizt. Man sollte diesen Trend in der Krise nicht noch zusätzlich verstärken. Im King Georg kann man Abos kaufen und hat dadurch die Möglichkeit, Konzerte per Livestream zu erleben und auf ein schönes Archiv zurückzugreifen.Was kommt nach der Pandemie für Künstler?Die Pandemie wird irgendwann einmal enden. Allerdings wissen wir nicht, wann das der Fall sein wird. Ich glaube, dass es zwei große Gruppen gibt, die jeweils anders auf das Ende der Pandemie reagieren werden. Das ältere Publikum wird noch eine ganze Weile lang sehr vorsichtig sein, denn die Angst, die jetzt da ist, wird nicht über Nacht verschwinden. Ganz anders wird es bei den Jüngeren aussehen. Die sind so ausgehungert und haben so einen Nachholbedarf in Sachen Kultur, Kino, Theater, Restaurants, dass man zum Ende der Pandemie eine regelrechte Befreiung spüren wird. Die wichtige Frage in dem Zusammenhang ist jedoch: Werden die Veranstalter bis dahin überleben? Das hängt natürlich auch davon ab, ob dann noch Geld für Kultur jenseits der hochsubventionierten, großen Sparten da sein wird oder ob das Staatssäckel dann leer ist.
Mein Appel an die Politik ist ganz klar: Sie darf die freischaffenden Künstler und die vielfältige Kulturszene jenseits der Philharmonien, Opernhäuser und großen Orchester nicht im Stich lassen. Die Lage der Soloselbstständigen muss erkannt werden und die Hilfen müssen rechtzeitig fließen. Wenn jetzt nicht etwas passiert, werden sich viele Kollegen einen neuen Job suchen müssen. Das wird ein Aderlass, dessen Konsequenzen wir uns noch gar nicht vorstellen können. Wir haben Alarmstufe rot!
Und was braucht es an Perspektiven für die Veranstalter?Für
Konzertveranstalter, Clubs und Säle muss es eine Perspektive der Hoffnung geben. Viele Clubs und Konzertveranstalter haben noch während der Krise enorm viel Geld in Lüftungsanlagen und bauliche Maßnahmen gesteckt. Trotzdem mussten sie schließen. Das kann auf Dauer so nicht weiter gehen. Es braucht Konzepte, wie man trotzdem öffnen kann. Vorstellbar wären viele Dinge: Fiebermessen an der Tür oder Schnelltests. Man kann sich sogar darüber Gedanken machen, Geimpften rascher Zugang zu Kultur zu gewähren. Mann kann über alles diskutieren und ich habe da sicher auch nicht das ultimative Konzept. Aber es müssen Ideen her, wenn wir nicht einen schrecklichen kulturellen Kahlschlag erleben wollen. Die Veranstalter müssen Miete zahlen, haben laufende Kosten, Angestellte… Es kommt aber kein Geld rein, gar nichts, nicht ein bisschen. Und die Hilfen bleiben aus. Mich treibt die Sorge um, dass – wenn die große Insolvenzwelle kommt – es für die Künstler, die übrig geblieben sind, gar keine Auftrittsmöglichkeiten mehr geben wird.
Was können Künstler und Veranstalter auf der anderen Seite tun, um ihre Forderung lauter zu vertreten?
Uns fehlt ganz klar der Zusammenschluss. Wir sind nicht gewerkschaftlich organisiert, haben keine Interessenverbände und wenig prominente Fürsprecher. Selten passiert es mal, dass einer der ganz Großen – wie letztens Till Brönner – den Mund aufmacht, klar und deutlich für unsere Interessen einsteht und auf unsere Nöte aufmerksam macht. Da passiert zu wenig, auch und gerade aus der Klassik-, Rock- und Pop-Szene. Warum nutzen diese Kolleginnen und Kollegen ihre Prominenz nicht?Umso wichtiger ist es, dass es Initiativen wie NRWjazz gibt, die ganz eindeutig für uns einstehen. Eine Plattform, auf der über uns berichtet wird, weil es die Presse ja oft nicht mehr tut, die auf Konzerte aufmerksam macht, CDs bespricht und die Möglichkeit bietet, Netzwerke zu pflegen und sich auszutauschen. Das bleibt auch nach der Pandemie wichtig, denn die Jazz-Szene ist viel diverser, vielfältiger und regionaler geworden. Was früher nur in den großen Städten stattfand, gibt es jetzt im ganzen Bundesland. Da braucht es Plattformen, die dieser Diversität Rechnung tragen und uns dabei helfen, uns gegenseitig kennenzulernen und zusammenzuhalten.
Biographie
Martin Sasse gehört zu den bekanntesten Jazzpianisten – weit über Nordrhein-Westfalen, Deutschland und Europa hinaus. Im Laufe seiner Karriere hat er mit nahezu allen Größen der Szene zusammengearbeitet, zehn eigene Alben veröffentlicht, bei zahlreichen Aufnahmen mitgewirkt und weltweit Konzerte gespielt. Sasse studierte an der Musikhochschule in Köln Jazz und an der Folkwang Schule in Essen klassische Musik. Er spielte mit Jazzkünstlern wie Al Foster, Jimmy Cobb, Billy Cobham oder Till Brönner und konzertiert regelmäßig mit Philip Catherine, Peter Bernstein, Rick Margitza, Dennis Mackrel, Harry Allen und Scott Hamilton. Auch Pop- und Klassik-Stars wie Bobby McFerrin, Chris de Burgh und José Carreras wurden von ihm begleitet. Außerdem war er mit Helge Schneider, Udo Jürgens und Udo Lindenberg zu erleben. Sasse unterrichtet darüber hinaus an der Robert-Schumann-Hochschule Düsseldorf und