Musik dorthin bringen, wo sie gebraucht wird...
Aeham Ahmad war „Pianist in den Trümmern“
TEXT: Stefan Pieper | FOTO: Stefan Pieper, Nieraz Saied
In seinem Reisepass steht unter Nationalität nur der Buchstabe x. Aeham Ahmad wurde in Palästina geboren, einem bis heute offiziell nicht anerkannten Land. Seine Familie musste fliehen. Er wurde im syrischen Flüchtlingslager Jarmuk groß, ergriff von dort im Jahr 2015 die Flucht und lebt heute in Deutschland. Das ist die eine Seite der Realität. Die andere Seite im Leben von Aeham Ahmad wird erfahrbar, wenn man ihn spielen hört - vor allem in einer so hochkarätigen Venue wie Marls Scharounaula mit ihrer fabelhaften Akustik ...
Die üblichen Fernsehbilder aus Syrien verschleiern in der Regel den Umstand, dass es sich hier um eine ausgesprochene Kulturnation handelt. Ahmad bekam die Musik von klein auf durch seine musikalische Familie vermittelt und genoss auch am Konservatorium in Damaskus eine gründliche klassisch-pianistische Ausbildung. Denn dort lehr(t)en russische Professoren in enger Zusammenarbeit mit dem Moskauer Konservatorium.
Ein Kriegszustand, in dem irgendwie alle gegen alle Krieg führen und Hass säen, hat das Land im Nahen Osten in eine Trümmerwüste versetzt. In Aehem Ahmad loderte der Wunsch, die Musik dorthin zu bringen wo sie gebraucht wird: Er packte ein altes Klavier auf einen Handkarren, zog durch die zerbombtem Städte und spielte. Lockte Menschen, vor allem Kinder an, von denen viele ergriffen weinten. Und kreierte aus der Stimmung des Moments heraus eine Musik, die unmittelbar zu den Menschen spricht. Der Jazzmusiker Aeham Ahmad war geboren.
Jazz ist die Kunst, mit Musik unmittelbar eine Geschichte zu erzählen. Hört man Aeham Ahmad spielen, braucht man seine Geschichte gar nicht im Detail zu kennen, denn jeder Ton in seinem Spiel transportiert, wie sich alles angefühlt haben muss. Was auf Anhieb den Pulsschlag in die Höhe treibt, ist allein die Art wie Aeham Ahmad mit ein paar dezent gesetzten Basstönen einen Groove von erdbebenartiger Intensität erzeugt. Sein Rhythmusgefühl wurde durch bestimmte in Mittelägypten übliche Perkussionsinstrumente inspiriert, erläutert er später im Gespräch. Und ja, ausgiebig saugt Ahmad die grenzenlosen Möglichkeiten arabischer Tonalität auf, um sein Inneres nach Außen zu kehren , aber auch, um aus diesem Kontext in andere Tonsysteme der europäischen Klassik und immer wieder, immer mehr des Jazz einzutauchen. Zerbrechlichkeit, Sehnsucht, Überschwang, Freiheitsdrang, Trauer, Freude – mehr davon lässt sich in Klaviertonen auf komprimiertem Raum wohl kaum bündeln! Wenn sein Spiel in tiefe Melancholie versinkt, erwachsen im nächsten Moment Befreiungsschläge voller kraftvoller Spiellust daraus. Oft erhebt Aeham Ahmad bei diesem Konzert seine helle, fast androgyne Singstimme. Die Themen seiner Lieder erscheinen in unserer behüteten Welt oft weit weg: Der Verlust von Heimat. Die Verzweiflung, wenn in der Sommerdürre das Wasser knapp wird. „Einige Lieder durfte ich in Syrien überhaupt nicht singen“ sagt er. Manche islamistischen „Moralwächter“ würden ja am liebsten jede Musik komplett verbieten. Als IS-Schergen ihn schließlich auf offener Straße überfielen und Ahmads Instrument zerstörten, war dies für ihn der finale Impuls, um nach Europa zu fliehen.
"Uns Menschen bleibt keine Alternative, als miteinander zu leben"
„Fanatismus hat nichts mit der Religion des Islam zu tun. Uns Menschen bleibt keine Alternative, als miteinander zu leben“ bekundet er in einer langen Ansprache ans Publikum – und improvisiert über ein Lied, dessen Symbolkraft über alle Länder, Kulturen, Religionen und Nationen hinaus strahlt: „Die Gedanken sind frei.“
Fünf Jahre ist es jetzt her, dass er die lebensgefährliche Flucht übers Mittelmeer und weiter zu Fuß über die Balkanroute ergriff. In Deutschland fühlt er sich willkommen. Vor allem stieß er auf Menschen, denen es nicht gleichgültig ist, wenn jemand mit überragendem musikalischen Talent die Bildfläche betritt. Einer von ihnen ist der Pianist Edgar Knecht, der Aeham Ahmad auf Anhieb unter seine Fittiche nahm. Mittlerweile haben beide zusammen ein Duo-Projekt auf CD aufgenommen. Weitere Kontakte, noch mehr CD-Aufnahmen und Konzerttourneen folgten. Auch hat er mittlerweile ein Buch geschrieben. 2015 erhielt er in Bonn den erstmals verliehenen Internationalen Beethovenpreis für Menschenrechte, Frieden, Freiheit, Armutsbekämpfung und Inklusion – der Preis sollte ursprünglich erst 2016 zum ersten Mal verliehen werden, die Verleihung wurde aber aufgrund des „überragenden Einsatzes“ von Ahmad auf 2015 vorgezogen.
In diesem Frühjahr ging dann auch für ihn nichts mehr und er teilte das Schicksal vieler Soloselbständiger. Über die Corona-Soforthilfe hat auch er sich zu früh gefreut, als ihm mitgeteilt wurde, dass damit nur Betriebskosten abgedeckt werden dürfen, die ein freiberuflicher Musiker in dieser Form nicht hat. Alle drei Jahre muss er aufs Neue Anträge ausfüllen, damit die Aufenthaltsgenehmigung verlängert wird. Auch die nächste Zukunft ist ungewiss - nicht vor einem Publikum spielen zu dürfen, stellt gerade bei einem Menschen wie ihm sehr schnell wieder das einzige, echte „Zuhause“ zur Disposition.
Scharounaula und Abrahamsfest
An diesem Abend saß er also nicht mehr an seinem alten Klavier, umringt von zerstörten Häusern, umlagert von Kindern, deren bevorzugte Spielzeuge die Überreste von Bomben und Granaten sind. Jetzt steht ein Konzertflüge in diesem bemerkenswerten von Hans Scharoun in den 1960er Jahren erbauten Konzertsaal, der durchaus wie eine Berliner Philharmonie im Kleinformat anmutet - meist aber "nur" für Aufführungen der dortigen Musikschule herhält. Eigentlich gehört dieser Spielort längst in einen überregionalen Konzertbetrieb eingebunden, wodurch die Stadt Marl am Nordrand des Ruhrgebiets auch ihr ursprüngliches Renommé als Kulturstadt (Adolf-Grimme-Preis, Philharmonia Hungarica, Marler Debut etc.) wieder besser nach außen tragen könnt. Aeham Ahmads Auftitt an diesem Ort hatte also auch in dieser Hinsicht eine starke Signalwirkung.
Das Gastspiel dieses Ausnahmepianisten krönte das diesjährige Abrahamsfest, eine engagierte Veranstaltungsreihe, in der Christlich-Islamische Arbeitsgemeinschaft (CIAG), die Marler Kirchen- und Moscheegemeinden und die Jüdische Kultusgemeinde Recklinghausen an einem Strang ziehen, um den interreligiösen und interkulturellen Austausch zwischen Christen, Muslimen und Juden zu fördern.