„Ich habe bereits Sehnsucht nach Europa!“
Der brasilianische Gitarrist Lucas Imbiriba im Gespräch
TEXT: Dr. Michael Vogt | FOTO: Prix Chemical
Am 2. März gastiert der brasilianische Gitarrist Lucas Imbiriba im Jazzkeller Hürth im Rahmen seiner aktuellen Europa-Tour, wo er auch Musik aus seinem neuen Album „Epic Journey“ vorstellen wird. Der brasilianische Gitarrist, der mit einer klassischen Ausbildung begann und während der Pandemie mit seinen einzigartigen Arrangements von Pop- und Rock-Nummern wie „Stairway to Heaven“ (Led Zeppelin) und „Hotel California“ (The Eagles) im Internet Furore machte, wird auch in Deutschland zu sehen sein. Imbiriba verbindet in seinem Spiel atemberaubende Technik, Flamenco-Einflüsse, lateinamerikanische Traditionen und den Drive des Rock’n’Roll mit der Virtuosität des klassischen Gitarristen. Michael Vogt kontaktierte Lucas Imbiriba während eines Brasilien-Aufenthaltes. Hier redete er über die Unterschiede zwischen dem Publikum in Brasilien und Deutschland und erläuterte, wie er seinen Stil entwickelte. Zunächst versuchter, nicht über Politik zu sprechen, tat es am Ende aber doch.
Lucas Imbiriba, wie sind Sie zu dem Repertoire gekommen, mit dem Sie auf der Gitarre erfolgreich sind?
Meine Geschichte ist einfacher, als es zunächst scheinen mag. Als ich ein kleiner Junge war, spielte mein älterer Bruder Miguel Gitarre in einer Rockband. Im Alter von zehn Jahren ging ich in meiner Heimatstadt Belém ans „Conservatório Carlos Gomes“, ein historisches Konservatorium mit klassischer Ausbildungstradition, an dem das Fach E-Gitarre aber nicht unterrichtet wurde. Ich begann also mit klassischer Gitarre, lernte das akademische Repertoire, spielte Musik aus Barock, Renaissance sowie Klassik und nahm mit fünfzehn Jahren am nationalen Wettbewerb Souza Lima teil, wo ich dann mit einem Kollegen den ersten Platz belegte.
Im Alter von 18 Jahren konnte ich dank eines Stipendiums der brasilianischen Regierung in Barcelona bei großen Meistern der klassischen Gitarre wie dem Katalanen Àlex Garrobé und dem Kroaten Zoran Dukić studieren, der in Bezug auf die Gitarre alles an Preisen abgeräumt hat, was man sich nur vorstellen kann. Danach ging ich nach Deutschland, wo ich eine Einladung von Franz Halasz hatte, um in Augsburg zu studieren.
Das klingt bis hierher sehr traditionell. Wann kam der Wendepunkt?
Nachdem ich das alles erreicht hatte, spürte ich, dass ich nun andere musikalische Gebiete auskundschaften musste. Ich hatte Preise gewonnen und mit europäischen Orchestern als Solist gespielt. Das hatte aber nichts mit meiner Herkunft aus Brasilien, meiner Kultur zu tun. Entsprechend begann ich, in Deutschland zusammen mit Kollegen brasilianische und südamerikanische Musik für mich zu entdecken. Ich fing an zu singen und lernte, wie man Rock’n’roll spielt. Damals brachte ich mein erstes Rock-Album heraus und ging mit einer Band auf Tournee durch Portugal, Spanien, Frankreich und Italien. Zwei Jahre später folgte ein zweites Rock-Album, auf dem ich Rock-Musik mit Klassik, Flamenco und brasilianischen Rhythmen mischte.
2014 kam eine weitere Wende: Nach 12 Jahren in Europa entschloss ich mich dazu, in meine Geburtsstadt zurückzukehren, um wieder in der Nähe meiner Familie zu leben. In Belém begann in an der „Universidade Federal do Pará“, der Musikhochschule des Staates, zu lehren, kehrte aber regelmäßig nach Europa zurück, um Konzerte zu geben.
Und dann machten Sie im Internet Furore!
Während der Pandemie begann ich, meinen YouTube-Kanal ausbauen. Ich veröffentlichte Arrangements von Metallica, Iron Maiden und Led Zeppelin, meiner Lieblings-Band. In diesen Arrangements nutzte ich die Möglichkeiten des klassischen, mehrstimmigen Gitarrenspiels dazu, um die Musik einer ganzen Rockband auf mein Instrument zu übertragen – von der Melodie des Sängers bis hin zu den Gitarrensoli. Darüber hinaus veröffentlichte ich auch Fassungen von Pop-Songs von Dua Lipa oder Lady Gaga. Das wurde ein Riesenerfolg.
Das kann man wohl sagen. Ihre Videos wurden im Laufe eines Jahres über 20 Millionen Mal angesehen.
Ja, die Resonanz war so positiv, dass ich weitere Rock-Arrangements herausbrachte und begann, Filmmusik zu spielen. Etwa „La canción del Mariachi“ aus Robert Rodriguez’ Film „Desperado“ mit Antonio Banderas. Das wurde ebenfalls sehr gut aufgenommen. Diesen musikalischen Mix bringe ich auch auf meine Europa-Tournee mit. Außerdem stelle ich eigene Kompositionen vor. Apropos.
Welche Stationen gehören zu der Tournee und wann geht es los?
Am 26. Februar starte ich in Helsinki. Über Turku geht es dann weiter nach Deutschland. Am 2. März spiele ich in Hürth. Die nächste Station ist Rüsselsheim. Dann reise ich erst einmal nach Lissabon, wo ich ein paar Kurse geben werde, und setzte die Tournee im norwegischen Larvik fort, wo es ein großes Gitarrenfestival gibt. Danach geht es zurück nach Deutschland, wo ich in Schwerin, Hoyerswerda, Dresden, Potsdam und Oldenburg auftrete.Den Auftakt in Deutschland machen Sie im Hürther Jazzkeller.
Inwiefern passt die Musik, die Sie spielen, in diesen Kontext?
Ich glaube, das passt sehr gut, denn Jazz ist genau dieser Mix, den ich auch in meiner Musik herstelle. Ich spreche gern von der Fusion verschiedener Elemente: Riffs aus der Rock-Musik, Einflüsse aus Kuba, Batidas, die für die traditionelle brasilianische Musik typisch sind, Rasgueados, die dem Flamenco seinen Sound geben. Das alles gehört zu meinem Stil, der auch harmonisch mit seinen Septimen- und Nonenakkorden nah am Jazz ist.
Welche Rolle spielt Spontaneität in Ihrer Musik?
Eigentlich eher eine untergeordnete Rolle. Ich nähere mich den Traditionen, die ich in meiner Musik zusammenbringe, aus der Perspektive des klassischen Musikers. Ich nehme mir ein Stück vor und schreibe darüber ein Arrangement. Da bleibt wenig Platz für Variationen. Ein paar perkussive Veränderung, eine Modifikation des Tempos… das findet durchaus statt, aber ich improvisiere nicht im eigentlichen Sinne
Ihre Stücke sind also im wahrsten Sinne des Wortes auskomponiert?
Ja, genau. Eigentlich wie in der Klassik.
Dabei erweckt Ihre Musik beim Anhören durchaus den Eindruck einer gewissen Freiheit. Ist das gewollt?
Sie erscheint spontan wegen der Elemente, die in die Musik einfließen. Wenn Jimi Hendrix auf Paco de Lucía trifft, dann ist das eine Mischung, die per se einen improvisatorischen Charakter hat, auch wenn ich alles im Vorfeld festgelegt habe.
Zurück zu Ihrer Ausbildung.
Die fand sowohl in Brasilien als auch in Europa statt.
Was ist aus Ihrer Sicht der große Unterschied?
Wenn wir von Europa ausgehen, werden dort die Klassiker der europäischen Musik in den Konservatorien als lebendige Tradition begriffen und am Leben gehalten. Das Wort Konservatorium sagt es ja schon: Es geht darum, etwas zu bewahren. Das fehlt in Brasilien. Alle Musiker der sogenannten „Música Popular Brasileira“, die meist als MPB abgekürzt wird, haben das Musikmachen auf der Straße gelernt. Erst seit einem halben Jahrzehnt gibt es in Brasilien an den Universitäten eine Ausbildung für Musiker, die MPB spielen. Das ist verrückt, denn diese Musik ist in der ganzen Welt berühmt! Aber erst seit Kurzem gibt es hierfür eine Wertschätzung im Ausbildungsbereich. Ein wichtiger Unterschied ist darüber hinaus, dass es in Europa einen wirklichen Markt für klassische Musik gibt.
Den gibt es in Brasilien nicht?
Ohne staatliche Unterstützung könnte sich klassische Musik in Brasilien nicht halten.
Das gilt sicher nicht nur für Brasilien...
Natürlich gibt es auf der ganzen Welt Subventionen für klassische Musik. Aber in Brasilien ist das Publikum nicht wirklich bereit, einen angemessenen Preis für Konzerte klassischer Musiker zu zahlen, sodass man als Künstler kaum davon leben kann. Das ist in Europa anders. Gibt es zum Ausgleich Initiativen und Vereine, die sich – wie etwa der Jazzclub Hürth – der Förderung der Kultur oder konkret der Jazzmusik verschrieben haben?
Seit ein paar Jahrzehnten gibt es die sogenannten SESCs, Kulturzentren, die von der Regierung bezuschusst werden. In Belém etwa fördert die Regierung Veranstaltungen rund um den Carimbó, ein Musikstil, der typisch für die Region ist. Aber auch Samba wird gefördert. Der stammt zwar nicht aus Belém, hat dort aber auch eine starke Präsenz. Künstler können sich mit ihren Konzepten bewerben und erhalten dann die Möglichkeit, ihr Projekt zu realisieren. Es gibt also gezielte Unterstützung seitens des Staates. Allerdings haben wir vier Jahre hinter uns… ich will jetzt nicht über Politik reden, aber es war eine wirklich katastrophale Regierung…
Sie reden über Bolsonaro…
Wissen Sie, Brasilien ist auch nach der jetzigen Wahl ein geteiltes Land. Der Rechtsextremismus, die furchtbaren Fakenews, all das hat tiefe Spuren hinterlassen. In Brasilien haben in den letzten vier Jahren selbst große Künstler wie Caetano Veloso und andere einfach keinerlei Subventionen mehr erhalten. Diese desaströse Politik – nicht nur auf dem Gebiet der Kultur – wird sicher noch eine lange Zeit nachwirken. Leider…
Schauen wir auf die positiven Seiten: Das brasilianische Publikum gilt als eines der warmherzigsten der Welt. Es singt mit, geht mit...
Jimmy Page, der Gitarrist von Led Zeppelin, hat sinngemäß davon gesprochen, dass das brasilianische Publikum so zu feiern versteht wie kein anderes. Das ist wirklich eine wunderbare Eigenschaft und macht es uns Künstlern sehr leicht. In Europa, vor allem aber in Deutschland, gibt es einen unglaublichen Respekt vor der Kunst, der Musik als solcher und den Menschen, die Musik machen. Auf der anderen Seite ist das europäische Publikum, sofern man darum bittet, aber auch sehr interaktiv und sofort bei der Sache!
Ist es, wenn man mit der brasilianischen Kultur aufgewachsen ist, anfangs schwieriger, als Künstler zu merken, ob das Publikum wirklich dabei ist?
Nein, das ist nicht schwierig. Auch wenn das Publikum – wie in Deutschland – vollkommen konzentriert ist, hat das eine ganz bestimmte Energie. Es gibt eine gute Stille, die aus der Fokussierung heraus kommt. Es gibt natürlich auch die andere Stille, die zum Ausdruck bringt, dass die Leute nach Hause wollen, aber den Unterschied begreift man sofort (lacht)…
Sie freuen sich also schon auf die gespannte Aufmerksamkeit?
Ich freue mich wirklich sehr auf diesen Monat. Ich habe bereits das, was man auf Portugiesisch „Saudade“ nennt, ich habe Sehnsucht nach Europa!
Lucas Imbiriba, vielen Dank für das Gespräch!