„Es geht um das Gefühl von Authentizität!“
Gespräch mit Klaus Widmann vom Südtirol Jazzfestival Alto Adige
TEXT: Stefan Pieper | FOTO: Stefan Pieper
Seit der Bozener Klaus Widmann in den 1990er Jahren die künstlerische Leitung des Alto Adige - Südtirol Jazzfestivals übernahm, sind Hotels, Museen, Wiesen, Wälder, Steinbrüche und immer wieder die Berghütten vor spektakulärer Landschaftskulisse zu selbstverständlichen Spielstätten geworden. Die dadurch möglich werdenden Entdeckungsreisen in Sachen Jazz wirken wie eine nachhaltige Alternative zum überlaufenen und kommerziell ausgeschlachteten Ferien-Trubel während der Hochsaison. Nachdem das letzte Abendkonzert in Bozen verklungen war, kam es zum ausführlichen Gespräch des Festivalleiters mit nrwjazz.
Was macht das Besondere beim Alto Adige Südtirol Jazzfestival aus?
Es kommen Menschen, die kennen noch keine einzige Band aber sie wissen, dass sie hier etwas entdecken können. Bei diesem Anliegen hilft uns der Länderschwerpunkt, den wir in jedem Jahr machen. Weil der uns eben zwingt, in die Tiefe zu gehen und gründliche Recherchen zu machen. Denn, wenn ich sage, ich lade jetzt jeweils 30 Bands entweder aus Benelux oder Skandinavien ein, oder eben wie in diesem Jahr aus Südosteuropa, dann muss ich schon in die Tiefe gehen und gründlich suchen. wenn man diesen Weg geht, kommt einfach ein Angebot heraus, das anders ist als bei anderen Festivals.
Das Festival zieht nicht nur Jazzfans an, ebenso holen sich viele europäische Konzertveranstalter neue Anregungen beim Südtirol-Festival. Was macht das Besondere aus?
Vielleicht liegt es daran, dass ich kein Teil der Community bin, welche sich viel austauscht und gemeinsam von einem Festival zum nächsten zieht. Das kann ich mir allein zeitlich nicht leisten, da ich hauptberuflich als Arzt sehr eingespannt bin. Aber es erweist sich in langer Perspektive auch als Vorteil, kein Teil dieser umherreisenden Community zu sein. So bleibe ich gewissermaßen ein Einzelgänger, der weiterhin seine eigene Sache nach eigenen Vorstellungen und losgelöst von äußeren Einflüssen entwickelt.
Aber es hat auch mit meinem Charakter zu tun. Ich bin immer auf Abenteuer aus und es gefällt mir, meinen eigenen Weg zu suchen, und etwas zu riskieren. Vielleicht auch mal zurück gehen zu müssen, wenn etwas nicht gelingt. Aber die Herausforderung liegt darin, mich immer wieder neu zurecht finden zu müssen. Ich fühle mich dadurch lebendig, dass ich immer wieder auf Neues stoße.
Nicht nur die Musiker und Bands, die hier auftreten, sondern ebenso auch die Locations, an denen Konzerte laufen, machen dieses Festival zu etwas einzigartigem. Welches Anliegen steht hinter dem Konzept eines attraktiven Gesamterlebnisses?
Wenn ich mit meinen Freizeitsportarten, etwa als Bergsteiger oder Mountainbiker in diesem Land unterwegs bin, erlebe ich hier einen großen Reichtum, den ich unbedingt an viele Menschen weitergeben möchte. Wenn ich in meiner Region einen neuen, tollen Ort entdecke, möchte ich ihn auch anderen Menschen nahe bringen. Deswegen positioniere ich die Konzerte unseres Festivals im ganzen Land. Die Spielorte reichen von den westlichsten Ausläufern am Fuß des Ortlers bis hin zu den Sextner Dolomiten. Überall in dieser Region veranstalten wir Konzerte auf Bergen und Schutzhütten, in Schlössern, Burgen, Museen, Hotels und anderswo. Deswegen ist das Festival eine musikalische, aber auch geografische Entdeckungsreise.
Ich nehme im Umfeld des Festivals eine vielfältige Unterstützung durch Hoteliers, Gastronomie, Kultureinrichtungen und viele Sponsoren wahr. Wie hast Du dieses Netzwerk aufgebaut? Haben wir es in Bozen mit einer besonders kultur-affinen Unternehmerschaft zu tun?
Ich habe in den letzten 15 Jahren schrittweise ein Netz aus Partnerschaften aufgebaut und gepflegt. Und dabei immer mehr Menschen gefunden, die dieses Produkt verstehen und unterstützen. Viele Unterstützer sehen das Festival als ein Kulturprodukt, das Südtirol neue und interessante Perspektiven bringt, vor allem in intentionaler Wahrnehmung. Es geht um den Anschluss an zeitgenössische und moderne kulturelle Strömungen. Um ein wachsendes Bewusstsein für Qualität abseits vom kommerziellen Massentourismus. Bei dem wird leider auch viel Kitsch vermarktet. Ich habe meine vielen Unterstützer, ohne die es überhaupt nicht gehen würde, Schritt für Schritt suchen müssen. Mein Anliegen traf ja nicht unbedingt die Mainstream-Meinung. Heute haben viele meine Intention verstanden und geben mir alle Freiheit und dies ohne kommerziellen Druck. Die Einsicht in den Qualitätsgedanken ist zum gemeinsamen Nenner geworden. Zugleich habe ich auch gelernt, zu verzichten, wenn ich das Gefühl habe, dass ein potentieller Partner nicht voll zu unserer Idee steht - etwa, wenn da falsche Hoffnungen geweckt werden, dass eine Musik auf der Berghütte möglichst viele Menschen einfach nur unterhalten soll. Dann mache ich auch klar: Nein! Wir stehen für etwas anderes!
Also ist hier endlich mal der Jazz als kulturelle Imagepflege erkannt worden?
Es geht beim Jazz um viel mehr als nur ums Image, sondern um Authentizität. Abgesehen von so prominenten Aushängeschildern wie Reinhold Messner, den ich persönlich gut kenne und der wirklich ein Visionär ist, habe ich - kulturell betrachtet- in Südtirol immer etwas gelitten. Da verkauft eine kommerzielle Musikgruppe wie die "Kastelruther Spatzen" bis zu einer Millionen Tonträger im ganzen deutschen Sprachraum. Ich will mich gar nicht über die Menschen erheben, die sich so etwas anhören. Aber was ich wirklich tragisch finde, ist der damit einhergehende Verlust von Authentizität, der nur die Klischees überleben lässt. Den Menschen geht das Gefühl für Authentizität verloren, wenn ihnen ständig nur so ein Fake aufgetischt wird.
Also siehst Du Jazz als gelebte Authentizität?
Am Jazz gefällt mir, das hier Tore aufgestoßen werden: Bei Jazzmusikern auf der Bühne geht es eben nicht um den äußeren Schein oder das schöne Outfit. Sie müssen nicht zwangsläufig schön angezogen sein und müssen auch nichts gescheites sagen, wenn nur die Musik im Vordergrund steht. Dann ist nämlich alles Oberflächliche von jetzt auf gleich einfach weg. Ich möchte mit dem Festival zeigen: Hier gibt es Menschen, die etwas authentisches bringen möchten. Die Botschaft soll lauten: Schaut und hört euch das hier an und schaut über alle Grenzen hinaus! Lasst euch nicht einlullen in dieses Wohlgefühl von Kitsch und das möchte ich vor allem auch den Besuchern aus dem Ausland vermitteln: Wir Südtiroler können auch anders!
Ausführliche Festivalreviews liest Du hier:
2021
https://nrwjazz.net/jazzreports/2021/alto_adige/
2016
https://www.nrwjazz.net/jazzreports/2016/Alto_Adige_Jazz_Festival_2016/
2015
https://www.nrwjazz.net/reviews/2015/nrwjazz_Jazzfestival_Alto_Adige_2015/