“Es braucht immer etwas, das von außerhalb kommt”
Gespräch mit Branford Marsalis
TEXT: Stefan Pieper | FOTO: Stefan Pieper
Im August dieses Jahres wurde der Saxofonist Branford Marsalis 60 Jahre alt. Im April war sein Vater, der Pianist Ellis Marsalis nach einer Covid 19-Infektion verstorben. Sein Bruder Wynton Marsalis leitet das berühmte “Jazz at Lincon Center” in New York. Den Brüdern ist vor allem eines gemeinsam: Ein weiter, offener Blick über allzu enge Grenzziehungen des Jazz hinaus. Branford Marsalis hat in diesem Sinne schon zwei Filmmusiken komponiert: “Mo Better Blues” von Spike Lee wurde in den 1990er Jahren zum Stilportrait des Hip Hop einer postmodernen Generation X. Der aktuelle Film "Ma Rainey's Black Bottom" widmet sich den Wurzeln des Jazz, die zu einem großen Teil im Blues liegen. Im Jahr 2016 kam es zu einem aufschlussreihen Gespräch mit Branford Marsalis in München - hier konzertierte er gerade als Solist vor dem Bayerischen Staatsorchester in Kompositionen von Darius Milhaud und Jacob der Veldhuis.
Welche Verantwortung trägt ein Musiker gerade in schwierigen Zeiten?
Die Zeiten sind immer schwierig gewesen! Wir Musiker sollten uns einfach darauf besinnen, IMMER unser Bestes zu geben. Am besten zu sein ist viel wichtiger als am populärsten zu sein! Man muss zulassen, dass wenn man gut sein will, damit nicht so weit kommt und es wahrscheinlich nie zum Millionär bringen wird. Deswegen braucht es eine Grundsatzentscheidung: Möchte ich reich und berühmt werden und dafür alles tun? Oder möchte ich einfach nur und ohne Kompromisse gut sein? Man kann selten beides haben.
Was stand am Anfang Deiner musikalischen Karriere?
Vor allem Rhythm and Blues, Soul, Rock. Erst als ich über 20 war, habe ich mich dem Jazz zugewandt und mich dabei an meinem zehn Jahre älteren Bruder Wynton orientiert.
Sie beide haben sich ja in verschiedene Richtungen entwickelt...
Mein Bruder hat Klassik und vor allem Jazz studiert, ich habe mich erstmal im Bereich der Popmusik getummelt. Ich war dann in Louisiana Lehrer. Aber mein Bruder überzeugte mich, nach New York zu gehen. Dort habe ich dann richtig ernsthaft die Musik studiert.
Wie ist euer Verhältnis zueinander heute?
Wir reden viel über persönliche Dinge, tauschen uns zum Beispiel über Erfahrungen aus, die wir mit unseren Kindern gemacht haben. Musikalische Dinge sind kaum ein Thema.
Als Du mit dem Orpheus Chamber Orchestra Musik von Debussy und Fauré eingespielt hast, markierte dies eine neue Entwicklungsstufe?
Diese Platte war ein Anfang, heute bin ich viel besser in so etwas. Ich lehne aber den Begriff von Projekten ab. Alles ist doch Teil einer einzigen Entwicklung, wo sich alles miteinander ergänzt. Das klassische Musizieren macht mein Jazzspiel besser und umgekehrt. Ich lerne dadurch ganz neue Möglichkeiten, das Instrument zu kontrollieren.
Siehst Du überhaupt Grenzen zwischen den unterschiedlichen musikalischen Disziplinen?
Es gibt keine Grenzen, wo es doch immer um dasselbe geht: Menschen möchten emotional bewegt werden. Sie möchten etwas empfinden, vielleicht vor Begeisterung aufschreien. Das ist in jeder Musik dieselbe Sache. Der Weg, dahin zu kommen, ist recht unterschiedlich und es ist immer gut, nicht nur eine von mehreren Sparten gut zu beherrschen. Wenn ich eine klassische Komposition spiele, wird sie durch das Bewusstsein besser, wo sich der Beat befindet - da zahlt sich das Rhythmusgefühl aus dem Jazz auf jeden Fall aus! In der Klassik lernen wir wiederum, mit feiner Dynamik umzugehen – das verbessert im Jazz die Sensibilität, um auch mal aus leisen Tönen viel Intensität zu schöpfen. All dies fördert die Fähigkeit zu hören.
Hat Jazz früher ein anderes Lebensgefühl verkörpert als heute?
Was Jazz wirklich populär gemacht hat, war dieser Aspekt von Party und illegaler Subkultur – vor allem ausgelöst durch die Alkohol-Prohibition in den 1920er Jahren. Die Regierung hatte Alkohol verboten und überall boomten illegale Clubs. Und die Musik, die dort das Lebensgefühl artikuliert, war Jazz.
Jazz hat starke Parallelen zur Barockmusik. Barockmusik war im historischen Kontext oft Tanz- oder sagen wir ruhig mal „Partymusik“. Von dem Moment an, wo sich die Leute zum Hören der Musik hinsetzen, haben die Komponisten angefangen, anders zu schreiben. So hat es sich heute im Jazz auch entwickelt.
Was könnte getan werden, um Jazz wieder solch eine kulturelle Relevanz zurück zu geben?
Da ist der Zug endgültig abgefahren. Popmusik beherrscht heute alles. Damit verglichen, hören nur ganz wenige Menschen klassische Musik oder Jazz – rein von den statistischen Zahlen her. Das kann man meiner Ansicht nach nicht mehr rückgängig machen.
Wie siehst Du Deine eigene Rolle hier?
Ich möchte keine Massen erreichen, sondern Musik spielen für Menschen, die gerne und bewusst zuhören. Vor allem in den Vereinigten Staaten wollen viele gar nicht mehr zuhören. Im angloamerikanischen Raum ist schon die Begrifflichkeit bezeichnend: Viele sagen, ich will ein Konzert „sehen“ und nicht „hören“. Denen kommt es auf Lightshow und viel buntes Drumherum an. Wenn sie einen Song mögen, dann nur, weil man ihn mitsingen kann.
Wo ist in Deinem Empfinden die Fähigkeit zum Zuhören am besten?
Auf jeden Fall im kontinentalen Europa. Am Allerbesten ist sie nach wie vor in Deutschland, aber auch in den ganzen Nachbarländern, vor allem auch in Osteuropa. Ich liebe es, in Deutschland zu spielen. Dort gibt es diese tief verwurzelte Musikalität aus der eigenen Tradition heraus. Hier habe ich das Gefühl, die Menschen wollen verstehen, was wir auf der Bühne zu erreichen versuchen. In den ehemaligen kommunistischen Ländern ist es nicht so viel anders. Da sind auch viel mehr Menschen in Konzerte gekommen, weil sie für das Publikum frei zugänglich waren. Ständig einer Musik zuzuhören, war Teil der Kultur. Und von solchen Qualitäten spüre ich immer noch einiges, wenn ich nach Deutschland komme.
Wie siehst Du das Verhältnis zu Ihrem Publikum?
Es ist mein sehr ernsthafter Wunsch für ein Publikum zu spielen und dieses dazu zu bringen, dass es meine Musik versteht. Ich sehe heute viele andere Jazzmusiker in einer sozialen Sackgasse. Sie wollen sich abgrenzen und mögen die Menschen nicht. Viele sind in ihre eigene Virtuosität verliebt. Sie schreiben komplizierte Stücke und spielen vor allem für sich selbst.
Was würdest Du jungen Jazzmusikerinnen und -musikern, die gerade fleißig an der Hochschule studiert haben, gerne sagen?
Spielt mehr als nur eure Instrumente - was ihr unglaublich gut könnt. Sondern spielt Musik! Das wichtigste am Jazz ist nicht die Improvisation allein. Es gibt noch elementarere Dinge: Den Beat. Oder einen guten Song als Quelle. Heute wird immer und überall die Improvisation über alles gestellt. Das ist ein Teil des Problems. Wenn Du aber über einen guten Song improvisierst, schaffst Du es im Idealfall, dass das Publikum die Idee dieses Songs, seine wirkliche Melodie umso tiefer erfasst.
Hat sich diese Herangehensweise in der Historie des Jazz geändert?
Alle Soli von Lester Young oder Charlie Parker basieren auf Songs. Im modernen Jazz basieren die Improvisationen meist auf abstrakten Akkordstrukturen, da wird viel analytischer und mathematischer rangegangen. Das kann auch sehr exzellente Resultate hervorbringen, fühlt sich aber manchmal etwas kalkuliert an. Das musikalische Vokabular von heute ist viel technischer geworden.
Was kann man tun, um hier wieder mehr Leben reinzubringen?
Man sollte sich viele verschiedene Sachen anhören. Und sich als Jazzer auch mit der Klassik beschäftigen.
Jazz braucht also immer etwas außerhalb des Jazz, damit es lebt?
Alles braucht immer etwas, das von außerhalb kommt! Man muss immer möglichst viele Einflüsse aufsaugen, um kreativ zu sein. Nur die Massenprodukte für den Mainstream brauchen so etwas nicht. Da kopiert man immer dasselbe, tauscht die Attribute aus und verkauft es neu. So funktionieren ja auch sämtliche Bestseller-Romane. Irgendwann wird aus dem Buch ein Film gemacht. Hauptsache, es kommt hinterher immer dasselbe raus! Die Masse der Kunden macht dies auch noch mit, weil sie instinktiv das Gewohnte suchen. Wenn Du aber das Ziel verfolgst, ein großartiger Autor zu werden, dann brauchst Du immer Einflüsse von woanders her.
Was sollten Musiker besser lernen?
Das wichtigste ist, dass man lernt, Musik zu hören. Um auf diese Weise ein universelles musikalisches Vokabular tief zu verinnerlichen.
Gibt es etwas, dass das Publikum auch lernen müsste?
Nein. Das Publikum muss nichts lernen, das ist nicht sein Job. Der Job des Publikums ist es allein, das Gehörte zu mögen oder nicht. Es ist so ähnlich, wie wenn du zum Arzt gehst. Der sagt dir ja auch nicht, geh nach Hause und lese alles über deine Krankheit. Der stellt die Diagnose und hilft dir mit deiner Erfahrung. Das Publikum zahlt 35 Euro, um ein Konzert zu hören. Es darf nicht noch 500 Euro investieren müssen, um ein Seminar zu besuchen, um zu verstehen, was wir auf der Bühne machen. Der Musiker ist der Experte – und es ist dessen Job, eine Botschaft verständlich rüberzubringen! Der Job des Publikums ist es, zum Konzert zu kommen. Sich dafür die Zeit zu nehmen. Nicht mehr, nicht weniger. Alles andere liegt in unseren Händen als Musiker.
Wie definierst Du musikalischen Fortschritt?
Man muss in der Lage sein, Dinge zu hören, die andere nicht hören. Aber man braucht ein kritisches Auge und ein kritisches Ohr, um alles, was in der Welt schon vorhanden ist, zu entdecken. Die zwölf Töne, aus denen Bach, Beethoven und viele andere in vielen Ländern Musik geschöpft haben, sind ja schon vorhanden. Ebenso, wie Einstein die Relativitätstheorie nicht erfunden, sondern entdeckt hat. Er sah einfach nur etwas, was die anderen nicht sahen.