Mögliches im Unmöglichen

Momentaufnahmen aus Moers

Moers, 28.05.2021
TEXT: Peter E.Rytz | FOTO: Peter E. Rytz

Mögliches im Unmöglichen...

Momentaufnahmen aus Moers von Peter E. Rytz

Vier Tage verregnete Pfingsten 2021 haben die an sich schon trostlose Situation – Konzerte ohne Publikum, nur ein Häuflein akkreditierter Journalisten und Fotografen live dabei – auch musikalisch nicht wirklich wegwischen können.

Moers bleibt Moers. Auch im Pandemie-stand-by. Seit 1972 ist das Moers Festival eine feste Größe im Konzertkalender. Nicht nur für Jazz-Fans, auch für Freaks und Selbstdarsteller aller Couleur. Bis 2011 ein buntes Treiben auf den Wiesen des Schlossparks neben dem vom Zirkus geborgten Zelt. Laut und bunt gemischt, Wiedergänger des Jazz gemeinsam mit neugierig interessierten Spaziergängern. Jazz und Kunsthandwerk trifft Alltag.

Gelebte Kultur für alle zu Pfingsten in Moers, nach mehr als 30 Jahren aufgrund kameralistischer Buchprüfungskriterien der Stadtverwaltung das Finale auf der grünen Weise. 2014 Umzug in die Festivalhalle an den Freizeitstandort Solimare.

Emotionale Wärmeschauer sind programmatisch vom Moers Festival in der Regel nicht zu erwarten. Elegie und Melancholie spielen im dominanten Improvisation-Free-Jazz-Kosmos von jeher eine Nebenrolle. 2021 geht aber um viel mehr. Der Kampf um die Zukunft formuliert das Programm martialisch widerborstig.

So gesehen, ist der abendliche Festivalauftakt mit Brad Mehldau (Piano solo) eine überraschend wohlmeinende Soft-Dusche schöner Klänge. Wohlklang zwischen Johann Sebastian Bach und Keith Jarrett, gemischt mit Waltz-Arabesken sowie mit John-Coltrane-Paraphrasen. Konterkariert mit schrägen Akkordbrüchen im Fahrwasser von Radioheads Alternative Rock. Poetisch mit Abbey-Road-Anekdoten (The Beatles, Golden Summer).

Zusammen mit Mehldorfs sentimental verklärter Eigenkomposition aus dem letzten Jahr Remembering before als this, seiner musikalische Reflexion der globalen Wirklichkeit, rahmt Lubomir Melnyks gleichfalls Piano solo mit seiner Continue Music den ersten Festivaltag. Gegensätzlich in der Gestaltung - Mehldau mit lyrischer, poetisch grundierter improvisierter Klangfülle einer Melodie, Melnyk mit retardierendem, universale Unendlichkeit umarmendem Stoizismus eigengeprägter Minimal Music, die dem Melos-Prinzip folgt – sind beiden klar durchdachte Klangvorstellungen jenseits bemühter Intellektualität eigen.

Zwischen diesen Piano-Statements in der Festivalhalle ist der 10minütiger Spaziergang zum Spielort Rodelberg, Publikum inklusive eigentlich eine willkommene (Kontertraum)Neuordnung. Trist regenverhangene, vor Nässe triefende Wege und Wiesen - meditativ wabernde Trommel- und Gongklänge von Will Guthrie & Ensemble NIST-NAH schicken sich an, die Wetterunbill zu vertreiben. Eine andere Wirklichkeit zu suggerieren. Der Feuchte mit Wärme zu trotzen. Kaum mehr als 50 Zuhörer, die sich auf dem Wiesenhügel, sorgfältig mit Corona-Abstandslinien markiert, wollen sich überzeugen lassen. Viel Mühe und immenser Aufwand der Organisatoren, der sich am nächsten Tag mit noch mehr Regen, mit noch weniger Interessierten verhüllt in Regenbekleidung unter Regenschirmen, auszahlt.

Der von Gamelan-Musik mit Gongs sowie Fell- und Metallinstrumenten geprägte, mit Flöten grundierte, von Guthries Xylophon modulierte Sound, ein Angebot meditativ ausbalancierter Klangbilder, findet mit dem Taktmaß der Regentropfen in dem die Bühne überspannenden Zeltdach einen perkussiven Resonanzverstärker. Allein mit zart vibrierendem Sound ist gegen das die Seele geradezu brutal mächtig besetzende, bodenfeuchte Dumpfe nichts zu gewinnen.

Anschließend dröhnen Decoy with Joe McPhee free-jazzig gegen das Unabänderliche an. Gegen die deprimierende Impertinenz des Wettergotts ist das energetische Powerplay von McPhee (sax), John Edwards (b) und Hamid Drake (dr) ebenso chancenlos wie das aggressiv Aufwühlende von Alexander Hawkins an der legendären Hammond B3. Fast allein am Rodelberg, verhüllt sich das Extrovertierte ihrer Improvisationen in einer monologischen Introspektion.

Gleiche Stelle Rodelberg am zweiten Festivaltag, gleiche Situation. John Edwards, zum Zweiten, diesmal mit Emilio Gordoa (vib), Don Malfon (sax) und Dag Magnus Narvesen (dr) spielen mit Free-Gewitter-Cluster gegen Mengen von Regen und vor an zwei Händen abzuzählenden Hardcore-Fans an. Es scheint, je extremer die äußeren Bedingungen, umso bedingungsloser kreuzt Malfon sein Saxophon mit Edwards Bass-Beats, treibt Narvesen mit hochtouringem Drumming und jagt Gordoa hochtönige Vibes in den entvölkerten Wiesenhang.

Mit ISM, aus dem Arabischen übersetzt Der Name, demonstriert das Trio um den Pianisten Pat Thomas mit Joel Grip (b) und Antonin Gerbal (dr) Jazz als Hochleistungssport. In einem 45minütigen Set entfachen sie von der Bühne in der Festivalhalle einen bis an die Schmerzgrenze des Hörbaren sich entladenden Dauer-Cluster-Kaskaden-Strom. Grip hat nur nach einem vergleichsweise relativ beruhigten, aber in Wirklichkeit sportlich herausfordernden, körperbetonten Spiel für einen kurzen Moment Zeit, seine rechte Hand auszuschütteln. Was dann folgt, ist sportliche Hochleistung, die, so meint man, unweigerlich zu einem entzündeten Tennisarm führen müsse.

Doch auch die Sorge um die körperliche Unversehrtheit des stupend mit höchstem Staccato Schlagzeug spielenden Gerbal scheint unbegründet. Am Ende strahlen sich alle an. Thomas nickt zufrieden. Sein aggressives Spiel mit aufschlagenden Handflächen auf die Klaviatur sowie seine rasenden Fingerläufe führen offenbar zu einem befriedigenden Ergebnis. Für ihn und seine Mannen. Der Kritiker genießt die anschließende Stille.

Han Bennink ist ein Ur-Gestein des Moers Festival. Schon beim ersten Festival 1972 dabei, heute fast 80jährig, schlägt er einen enervierenden, authentischen Rhythmus. Allein mit einer variabel mit Stoff und ausgesuchten Alltagsmaterialien bestückten Trommel sowie mit seinem Körper, vom Mund bis zum Bauch, Beine und Füße als Drum-Corpus, trommelt er sich voran.

Zusammen mit Picatrix, das sind die ambitioniert extrovertierte Sängerin Greetje Bijma, die impressiv nonchalante Pianistin Nora Mulder und Mary Oliver (vl, hardanger fiddle). Oliver gibt im Trio Picatrix die selbstbewusste, gleichwohl zurückhaltende Stimmführerin. Häufig mit einem Violin-Motiv beginnend, improvisiert Bijma stimmakrobatisch mit avanciertem Kehlkopfgesang, kommentiert von Mulders fragmentierten Akkorden.

Die Künstlerinnen verstehen Picatrix als Verpflichtung gegenüber einer im 11. Jahrhundert veröffentlichen arabischen Textsammlung gleichen Namens, in der es um Weisheit und die Ebenbürtigkeit der Künste geht. Zusammen mit Bennink entwickelt ihr Sound einen magischen mystischen Sog. Einen, der in einen Nirwana-Kosmos aus beschwörenden, schmachtenden, schmerzenden sowie beglückenden Stimmen, Geräuschen und kaskadierenden Klangformen führt.

Unmögliches Ensemble, beschreiben Picatrix ihre Musik. Alles ist möglich, so lautet zumindest musikalisch das Selbstverständnis des Festival Moers bei allen Irrungen und Wirrungen über die Jahrzehnte. Auch 2021 steht es unbedingt dafür.

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