Zwischen Opernhaus und Förderturm
Spielorte entdecken beim New Colours Festival
TEXT: Stefan Pieper | FOTO: Musiktheater im Revier, Kunstraum Norten, Schauburg, Public Jazz (websites)
Don't believe the hype – ein Satz, der immer wieder aufs Neue gilt – auch wenn es um Negativ-Klischees geht. Man denke hier an die Stadt Gelsenkirchen, im Herzen des Ruhrgebiets, die extrem mit den Folgen des Strukturwandels zu kämpfen hat und wo einschlägige Narrative von der „ärmsten Stadt Deutschlands“ mithelfen, dass die Dinge nicht besser werden. Aber es gibt nun mal nicht nur schwarz und weiß und Kultur wird gerade in Zeiten und an Orten gebraucht, wo eben nicht nur pralle heile Welt herrscht. Für neue Farben sorgt vom 12. bis 15. September, nun schon zum dritten Mal, das New Colours Festival – und greift dabei auf vorhandene kulturelle Ressourcen zurück, die in Gelsenkirchen und Umgebung alles andere als trist und grau sind. Die Rede ist von zahlreichen historisch bedeutsamen Bauwerken. Das Anliegen des New Colours Festival ist klar definiert: Mit Jazzkonzerten eine enge Beziehung zwischen internationalen Musikereignissen und den in vielfacher Hinsicht bedeutsamen Spielorten zu schaffen.
Die Gelsenkirchener Kaue ist einer der traditionsreichsten Spielorte, der aus einem Industriedenkmal hervorgegangen ist, denn schon seit 1989 wurde die Zeche Wilhelmine Victoria 1/4 zu einem modernen Veranstaltungsort umgebaut. Seitdem haben bereits viele bekannte Künstler in der deutschlandweit bekannten Gelsenkirchener Einrichtung Station gemacht. In kommunikativer Club-Atmosphäre finden hier Kleinkunst- und Kabarettveranstaltungen genauso einen idealen Rahmen, wie Konzerte. Kein Besucher ist weiter als 12 m von der Bühne entfernt, was einer Stimmungsgarantie gleichkommt. Der Bereich der ehemaligen Pförtnerloge und des ehemaligen Markenkontrollraums der Zeche Wilhelmine Victoria 1/4 wurde zu einer Szenekneipe umgebaut. Hier finden die beiden Eröffnungskonzerte des New Colours Festivals mit dem norwegischen Tuba-Virtuosen Daniel Herskedal und der australischen Band The Vampires statt.
Eine ganz andere Form von Strukturwandel verkörpert der Kunstraum Norten im nördlichen, sehr industriell geprägten Stadtteil Scholven. Da wurde ein ehemaliger Coop-Supermarkt von der Familie Norten in einen innovativen Ort für die Kunst der Gegenwart umgewandelt. Hier finden wechselnde Ausstellungen zeitgenössischer Künstler statt und der Raum selbst bietet durch seine flexible Gestaltung eine ideale Bühne für innovative Kunst- und Musikveranstaltungen. Das Festival nutzt diesen außergewöhnlichen Raum, um zwischen den ausgestellten Kunstwerken musikalische Performances zu inszenieren. Im Kunstraum Norten gibt es beim New Colours Festival einen Auftritt von Bison Rouge, einem Projekt der amerikanisch-polnischen Sängerin, Cellistin und Komponistin Ashia Grzesik.
Das Musiktheater im Revier, eröffnet 1959, ist ein herausragendes Beispiel für die moderne Architektur der Nachkriegszeit. Es galt damals als eines der spektakulärsten Opernhäuser Deutschlands und beeindruckt auch heute noch durch seine zeitlose Gestaltung. Verblüffend wirkt die Nähe der funktionalen Eleganz des Gebäudes zur Formensprache von Industrieanlagen. Speziell ist ebenso die nahtlose Integration von Kunst und Architektur mit den großflächigen, monochromen blauen Werke von Yves Klein im Zentrum. In diesen exklusiven Rahmenn passt ein Konzert von Roger Hanschel & String Thing, welches die Fusion zwischen Jazz und Streicher-Kammermusik auf eine neue Stufe hebt.
Wer die Schauburg betritt, bekommt das Gefühl, in einer prächtigen Villa oder einem prunkvollen Opernhaus zu sein – ja, genauso war die Filmkultur, als sie noch ein Ort des Glamours und der Eleganz war! Und ja: Mit der Schauburg steht einer der schönsten noch existierenden Filmpaläste im Gelsenkirchener Stadtteil Buer. Während das Kino in Essen, die Lichtburg, vielleicht bekannter ist, steht die Schauburg ihr in puncto architektonischer Pracht und historischer Bedeutung in nichts nach. Eine Matinee mit der Kölner Neo-Krautrock-Band Foxl bietet die seltene Gelegenheit, in einem solch prachtvollen Ambiente Livemusik und zeitgleich die nostalgische Atmosphäre eines historischen Filmpalastes zu genießen.
Der Blick von oben weitet den Horizont
Ein Blick von oben weitet immer den Horizont - vor allem aufs Ruhrgebiet, das man nicht eindimensional betrachten darf, weil eben das große Ganze, zu dem auch die Kultur an ganz zentraler Stelle gehört, erst die volle Wahrheit ausmacht. Die beste Perspektive gewährt auf jeden Fall ein Blick von der Aussichtsplattform des Nordsternturms, dem ehemaligen Hauptförderturm der Zeche Nordstern, praktizieren. Dieses monumentale, heute mit modernen Aufzügen ausgestattete Bauwerk, ist zugleich wohl eine der spektakulärsten Jazzlocations im Lande, was dem Pioniergeist von Bernd Zimmermann und Susanne Pohlen mit ihrer Konzertreihe FineArtJazz zu verdanken ist. In der ehemaligen Maschinenhalle des Turms wird auf jeden Fall jedes Konzert zum unvergesslichen Erlebnis. In diesem Jahr werden Luciano Biondini (Akkordeon) und Klaus Falschlunger (Sitar!) in dieser außergewöhnlichen Location auftreten.
Das New Colours Festival wäre ohne seinen Hauptspielort nicht denkbar: Das Schloss Horst fungiert als Wohnzimmer des Festivals. Hier finden am 13. und 14. September zwei Doppelkonzerte statt. Zur Zeit seiner Errichtung im 16. Jahrhundert war das Schloss eine der größten vierflügeligen Schlossanlagen nördlich der Alpen. Es ist nicht nur eines der ältesten Gebäude Gelsenkirchens, sondern war auch eines der ersten kompletten und ist heute eines der ältesten und wichtigsten Renaissancebauten Westfalens. In der außergewöhnlichen Glashalle finden vor einer beeindruckenden Renaissance-Fassade regelmäßig Konzerte und andere Veranstaltungen statt.
Die Heilig-Kreuz-Kirche, 1928 erbaut und vor wenigen Jahren umfangreich renoviert, ist heute eine der beliebtesten Spielstätten im Ruhrgebiet – und ja, dieser Bau könnte auch in seiner monumentalen Exzentrik für einen Fritz-Lang-Film herhalten. Architekturgeschichtlich spricht man bei hier vom Architekten Josef Franke praktizierten Stil vom sogenannten Backsteinexpressionismus. Vor einigen Jahren wurde die Kirche mit großem Aufwand zum multifunktionalen Veranstaltungsraum für bis zu 700 Besucherinnen und Besucher ertüchtigt. Das ist der denkbar beste Ort für die finale Abschlussparty des New Colours Festivals, diesmal mit der Band Club des Belugas und den Sängerinnen Anna Luca und Maja Fadeeva.
Fazit: Die ausgewählten Spielorte sind nicht nur Kulissen für die Konzerte, sondern integraler Bestandteil des Erlebnisses beim New Colours Festival. Wer sich für ein lebendiges Gesamterlebnis aus Musik, Kunst und Architektur interessiert, findet hier eine Fülle an Inspiration und Entdeckungsmöglichkeiten.
Über weitere Hintergründe und sämtliche Programmpunkte reden Bernd Zimmermann und Moritz Götzen in ihrer aktuellen Podcast-Serie.