Zukunft war gestern
Preview Wittener Tage für neue Kammermusik 2025
FOTO: Wittener Tage für neue Kammermusik, WDR, Elsa Thorp, Peter Adamik, Lena Ganssmann, Inês Pizarro Correia, Frederike Wetze
Vom 2. bis 4. Mai verwandeln die 57. Wittener Tage für neue Kammermusik verwandeln die Ruhrgebietsstadt einnmal mehr in ein lebendiges Laboratorium klanglicher Metamorphosen. Unter dem provokanten Motto "Zukunft war gestern – wir modellieren die Gegenwart" präsentiert das renommierte Festival einen radikal frischen Ansatz, der die Grenzen zwischen musikalischen Traditionen, Konzertformaten und Rezeptionsweisen virtuos verschwimmen lässt. Patrick Hahn, seit 2023 Künstlerischer Leiter des Festivals, beweist mit seiner zweiten Ausgabe ein feines Gespür für die Pulsschläge zeitgenössischer Musikentwicklung. Nach der Ära von Dr. Wilfried Brenneke (1964-1989) und Harry Vogt (1990-2022) gelingt ihm ein beeindruckender Neuaufbruch, der das traditionsreichste deutsche Festival für aktuelle Musik konsequent in die Zukunft führt.
Upcycling statt Ideenrecycling
Das diesjährige Festival-Motto "Upcycling" bringt den konzeptionellen Kern auf den Punkt. "Musik ist ein lebendiger Organismus. Neue Ideen entstehen nicht aus dem luftleeren Raum. Upcycling bedeutet nicht Ideenrecycling – es bedeutet Weiterdenken!", erklärt WDR 3-Programmchef Matthias Kremin. In zehn außergewöhnlichen Programmen werden 16 Uraufführungen und drei Deutsche Erstaufführungen zu erleben sein – ein beeindruckendes Panorama aktuellen Komponierens.
Die kanadische Komponistin Cassandra Miller, Portraitkomponistin der diesjährigen Ausgabe, verkörpert diesen transformativen Ansatz mit besonderer Intensität. Ihre Kunst, aus Bestehendem Neuartiges zu erschaffen, manifestiert sich in mehreren Festivalauftragswerken, darunter eine Komposition für das Vokalensemble Exaudi und ein prominent besetztes Streichtrio mit den Ausnahmeinterpreten Ilya Gringolts (Violine), Lawrence Power (Viola) und Nicolas Altstaedt (Violoncello).
Körper, Klang und digitale Filter: Grenzüberschreitende Formate
Die 57. Wittener Tage beginnen am Freitagabend mit einem intermedialen Konzeptstück, das die physische und digitale Dimension unserer Körperwahrnehmung hinterfragt. Das Ensemble Musikfabrik, das Ensemble Scope und die Performerin Ria Rehfuß erkunden gemeinsam die verwischenden Grenzen zwischen realem und imaginiertem Körperbewusstsein im Zeitalter digitaler Filter – ein hochaktueller Diskurs, der im Klangraum unmittelbar erfahrbar wird.
Sara Glojnarić, die kroatische Komponistin, treibt die Formatinnovation mit ihrem Kopfhörerkonzert "SONGS FOR THE END OF THE WORLD" auf die Spitze. Hier komponiert sie eine unkonventionelle Playlist, die verschiedene musikalische Stile mit Elementen Neuer Musik verschränkt und das Kuss Quartett mit der virtuosen Sopranistin Sarah Maria Sun in einem Live-Remix vereint. Noch radikaler agiert das Grau Schumacher Piano Duo, wenn es in Ming Tsaos Neuinterpretation von Stockhausens "PLUS MINUS" zwei Konzertflügel mittels Transducer-Technologie in monumentale Lautsprecher verwandelt – ein elektroakustisches Experiment, das die Grenzen zwischen Instrument und Klanggenerator grundlegend in Frage stellt.
Globale Verflechtungen: Das Trickster Orchestra und der WDR Liminal Music Prize
Das Trickster Orchestra, ein faszinierendes Ensemble, das traditionelle Instrumente verschiedener Kulturen mit zeitgenössischen Spieltechniken verbindet, feiert sein Witten-Debüt mit einem hochkarätigen Konzert. Diese Aufführung bildet zugleich den Rahmen für die Verleihung des WDR Liminal Music Prize, der innovative transtraditionelle Musikprojekte würdigt und in diesem Jahr in die zweite Runde geht. Die internationale Dimension des Festivals spiegelt sich auch in der Präsenz des chinesischen Sheng-Virtuosen Wu Wei, der neue Werke des französischen Komponisten Nicolas Berge interpretieren wird. Diese transkulturellen Begegnungen zeugen von der weltweiten Vernetzung zeitgenössischer Musikschaffender, die Patrick Hahn in seiner Programmgestaltung konsequent abbildet.
Partizipative Elemente: Der "Wittener Seufzer"
Johannes Kreidlers kollektive Performance "Wittener Seufzer" lädt das Publikum zu aktiver Teilnahme ein: Die Bevölkerung wird aufgerufen, persönliche Seufzer aufzunehmen, die anschließend im Stadtraum visualisiert und im Radio hörbar gemacht werden. Diese partizipative Intervention überschreitet die Grenzen zwischen Kunstproduktion und -rezeption und macht das Festival zu einem gemeinschaftlichen Erlebnis. Den spektakulären Schlusspunkt des Festivals setzt Cassandra Millers "BISMILLAH MEETS THE CREATOR IN SPRINGTIME" (2022) – eine deutsche Erstaufführung für zwei Solisten, großes verräumlichtes Ensemble und Tonband, bei der die Komponistin selbst mit der Geigerin Silvia Tarozzi als Performerin auftritt und das Orchester im gesamten Theatersaal verteilt wird. Diese radikal räumliche Konzeption findet ihre Fortsetzung in Malika Kishinos neuem Cellokonzert für Nicolas Altstaedt, mit dem das WDR Sinfonieorchester unter der Leitung von Elena Schwarz das Festival beschließt.
Nachwuchsförderung im Witten-Labor
Mit dem Witten-#Labor verbindet das Festival die Musikhochschule Köln und die Folkwang Universität Essen durch Probenbesuche, Vorträge und Workshops für Studierende. Die Internationale Ensemble Modern Akademie präsentiert zudem im "Atelier Witten" Partituren junger Komponist*innen, die in einem weltweiten Wettbewerb ausgewählt wurden – ein beeindruckendes Forum für die nächste Generation von Musikschaffenden.
Die 57. Wittener Tage für neue Kammermusik verkörpern unter Patrick Hahns künstlerischer Leitung den Geist einer Musik, die sich ihrer Wurzeln bewusst ist und zugleich beständig neu erfindet. Das Festival unterstreicht mit seinem vielschichtigen Programm, dass Tradition und Innovation keine Gegensätze darstellen, sondern in einem dialektischen Verhältnis zueinander stehen. Durch die Verbindung unterschiedlicher Ansätze, Kulturen und Medien entsteht ein faszinierendes Panorama zeitgenössischen Komponierens, das die lebendige Vielfalt aktueller Kammermusik widerspiegelt.
Information: Die 57. Wittener Tage für neue Kammermusik finden vom 2. bis 4. Mai 2025 statt. Karten sind erhältlich im Online-Shop und an der Saalbaukasse Witten (saalbaukasse@stadt-witten.de). WDR 3 überträgt das gesamte Festival im Radio und online als Stream on demand.