Nordstadt-Nomaden
Ausblick auf das Visual Sound Outdoor Festival
FOTO: Bildquelle: Parzelle Verein für internationale Kulturprojekte e.V.
Drei Augusttage, 14 Konzerte, ein ehemaliges Straßenbahndepot – und die wildeste musikalische Grenzerfahrung zwischen Rhein und Ruhr, die am 14. bis 16. August in NRW zu erleben ist. Verantwortlich zeichnet der Parzelle Verein für interdisziplinäre Kulturprojekte, der mit seiner sechsten, dreitägigen Festivalausgabe freie aktuelle Musik auf internationalem Niveau in die Dortmunder Nordstadt holt. Der Kulturort Depot – einst Heimat für Straßenbahnen, heute Biotop für Kunstexperimente – wird zum Anlaufpunkt für alle, die Musik jenseits ausgetretener Pfade suchen. Und das Beste daran: Die Atmosphäre für diese Konzertereignisse ist megacool und einladend zugleich. Vor zwei Jahren bekam der Parzelle Verein dafür auch verdientermaßen den APPLAUS.
Vierzehn Acts aus neun Ländern – das Line-up liest sich wie das Adressbuch der internationalen Avantgarde. Von den USA über Mexiko bis Argentinien, von Portugal über Dänemark bis in die Niederlande: Die Welt der experimentellen Musik pilgert vom 14. bis 16. August ins Revier. Auf zwei Open-Air-Bühnen und im atmosphärischen Innenraum der Parzelle verschmelzen dabei nicht nur Klänge, sondern ganze Kulturkreise.
Wenn Angélica Castelló ihre Paetzold-Kontrabassflöte mit Tonbändern und Elektronik zu surrealen Soundscapes verwebt, wird deutlich, warum die mexikanische Künstlerin als eine der spannendsten Stimmen ihrer Generation gilt. Ähnlich radikal arbeitet das Trio Castelló/Kastner/Kuhzunft, das elektroakustische Grenzerfahrungen mit vokalen Experimenten der Dortmunderin Oona Kastner und Ach Kuhzunfts Tape-Manipulationen verbindet.
Improvisation hat immer auch etwas mit Minimaldramatik zu tun, etwa beim amerikanischen Percussion-Duo Lily Finnegan und Bill Elgart. Schlagwerkkunst entfaltet sich hier als Sprache: komplex, poetisch und mit berauschender Intensität. Während Finnegan auch mit dem portugiesischen Bassisten Ziv Taubenfeld ein Duo bildet, das Rhythmus neu definiert, zeigt Elgart in anderen Konstellationen seine Vielseitigkeit als Partner verschiedenster Improvisatoren. Vehicle/Passenger macht vor, wie zeitgenössische Kunstformen verschmelzen können. Marc Albertos Spoken Word wird hier nicht nur von Saxofon und Bass begleitet, sondern zu einem synergetischen Gesamtkunstwerk geformt, das zwischen Dichtung und Free Jazz changiert.
Magic Ensembles: Neue Ideen durch spontane Kollaborationen
Klug und kreativ sind viele auftretende Artists über diverse Auftritte und Besetzungen auf diesem Festival verteilt, denn gerade so kann ein Festival eben nicht nur Musik präsentieren, sondern neue Ideen und Klänge hervorbringen. Hierfür zeichnen bei Visual Sound Outdoor die sogenannten "Magic Ensembles" verantwortlich – spontane Kollaborationen, die nur für diese drei Festivaltage entstehen. Wenn der deutsche Saxofonist Hans Peter Hiby mit dem britischen Schlagzeug-Virtuosen Paul Hession und Kontrabassist Meinrad Kneer zusammentrifft, oder wenn Julia Biłat (Cello), Camila Nebbia (Tenorsaxofon) und wieder Paul Hession temporäre Spontanbesetzungen bilden, entstehen unwiederholbare Momente, die es vielleicht nie wieder geben wird. Auch das internationale Quartett Brique will demonstrieren, wie europäische Improvisationskunst heute klingt: Bianca Iannuzzis Gesang trifft auf Eve Rissers virtuoses Klavierspiel, Luc Ex definiert den Bass neu und Francesco Pastacaldi sorgt für rhythmische Komplexität, die jeden Takt zur Überraschung macht.
Veteranen und Visionäre im Dialog
Wenn Ab Baars seine Tenor- und Basssaxofone sowie die japanische Shakuhachi-Flöte auspackt, trifft jahrzehntelange Erfahrung auf die Experimentierfreude der jungen Generation. Das französisch-amerikanische Duo Ornella Noulet und Egon Wolfson beweist: Saxofon und Schlagzeug können auch 2025 noch völlig neu klingen, wenn zwei kompromisslose Musikerpersönlichkeiten aufeinandertreffen. Absoluter Höhepunkt wird Camila Nebbia's The Hanged One – ein sechsköpfiges Ensemble um die aus Buenos Aires stammende, heute in Berlin lebende Saxofonistin. Inspiriert von der Tarotkarte "Der Gehängte" erschafft sie mit Julia Biłat (Cello), Arne Braun (Gitarre), Andres Marino (Elektronik), Vinicius Cajado (Bass) und Lukas Akintaya (Drums) pulsierende Klanglandschaften, die Jazz mit Post-Punk verschmelzen. Nebbias Tenorsaxofon vereint brachial flüsternde mit keuchend singenden Momenten – eine Perspektivwechsel-Musik, die das Jazzfest Berlin 2023 als eine der "interessantesten aufstrebenden Freejazz-Saxofonistinnen" adelte.
Mehr als Musik: Ein Festival als Gesamtkunstwerk
Zwischen den Sets sorgt Gine Selles visuelle Kunst für zusätzliche Sinnesreize, während syrische Köstlichkeiten zeigen, dass auch kulinarische Grenzüberschreitungen zum Konzept gehören. Die entspannte Atmosphäre zwischen historischen Mauern lädt dabei zum Verweilen ein. Und auch, wenn Ach Kuhzunft bei freiem Eintritt seine Live-DJ-Sets startet, wird das Depot endgültig zum Begegnungsraum zwischen Künstlern und Publikum. Hier entstehen Gespräche, Ideen – und oft die Grundlage für neue musikalische Projekte.
Das Visual Sound Outdoor Festival beweist eindrucksvoll: Innovation braucht keine Metropole, sondern Mut, Vision und die richtige Portion Ruhrgebietssturheit. Beste Ausgangsbedingungen also, um Dortmund vom 14. bis 16. August zur heimlichen Hauptstadt der europäischen Improvisationsszene werden zu lassen.
Visual Sound Outdoor Festival 2025
14.–16. August 2025
Kulturort Depot, Immermannstraße 29, Dortmund
Tickets und Informationen: www.parzelledortmund.de
Der Parzelle Verein sucht übrigens noch engagierte Mit-Teamerinnen für alle Bereiche – von Künstlerinnen-Betreuung bis Fahrdienst. Enthusiastinnen aus der Szene, die das Festival für die Szene machen.*